Die Welt der Illusionisten. Eberhard Saage
Aber Sie haben mich damals auch in einer schlechten Situation kennengelernt. Ihr Schwiegersohn hatte mir absichtlich zu viel von diesem schweren Wein eingeschenkt.«
»Ich denke nicht nur daran.«
»Ja, klar, auch an Lena. Aber eins müssen Sie wissen, ich hatte bei der Entscheidung, sie zur Adoption frei zu geben, kein Mitspracherecht. Das haben mir Tante Sarah, von der Sie ja wissen, wie resolut sie sein kann, und Magda im gleichen Moment mitgeteilt, in dem ich von der Schwangerschaft erfuhr.«
Der Fürst nickte und hielt dieses Thema für abgeschlossen. »Noch einmal zu Ihrer Karriere. Ihre Partei fällt im Moment ja ins Bodenlose. Auch für die trifft Gorbatschows Spruch zu ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‹ Sie waren der Einzige, der eine Vision hatte, aber Sie wurden dafür abgestraft.«
»Sie sind wirklich gut informiert. Aber«, Joseph lachte auf, »das macht nichts, ich werde wieder auf die Füße fallen.«
»Dann sind Sie im Wahlkampf wohl so wenig aktiv, weil Sie sich auf die Zeit danach vorbereiten?«
Joseph blickte ihn überrascht an. Nicht einmal im Traum hätte er es für möglich gehalten, dass sich der Fürst so für ihn interessieren könnte. Warum machte der das? Und was hatte der vor? Offensichtlich wollte der dieses Treffen für etwas Konkretes nutzen.
Zurückhaltend antwortete er: »Diese Schlussfolgerung haben noch nicht einmal meine Gegner gezogen, zumindest nicht mir gegenüber.«
Der Fürst ging schneller, um nicht zu weit zurückzufallen.
»Sie finden Ihren Weg«, sagte er dann, »Sie werden schneller aufsteigen als ich auf diesen Berg. Es wird Sie nun nicht mehr überraschen, dass ich Ihre Frau gebeten habe, Sie zu diesem Treffen mitzubringen. Als Politiker wissen Sie ja, dass es nicht nur in Osteuropa große Veränderungen geben wird, sondern auch in Asien. Haben Sie den Namen Berkel Zorbas schon einmal gehört?«
»Habe ich, manche nennen ihn den aufsteigenden Stern Asiens.«
»Ich würde eher sagen die aufsteigende Sonne. Ich kenne ihn gut. Er wird Abestan zu einer Großmacht entwickeln. Keine Frage. Aber«, er suchte direkten Blickkontakt mit Joseph Adam, »heute braucht er Hilfe aus Westeuropa, auch und gerade aus Deutschland. Weil er weiß, dass ich viele Kontakte habe, hat er mich gebeten, ihm dafür geeignete deutsche Politiker zu empfehlen. Aber mit den etablierten, die sich erdreisten, arrogant auf ihn herabzublicken, kann er nichts anfangen, er sucht neue, aufsteigende. Wenn sich Ihre Karriere so entwickeln würde, wie ich vermute, könnten auch Sie ihm bald helfen.«
»Das muss man abwarten«, wich Joseph aus.
»Selbstverständlich. Aber wenn es dann so weit ist, werden Sie ihn kennenlernen können.«
»Interessanter Vorschlag«, sagte Joseph, und er konnte in diesem Moment ja nicht ahnen, was dieses Gespräch für seine Zukunft bedeuten würde.
Ihren Gedanken nachhängend holten sie die anderen wieder ein, die an einer Weggabelung auf sie warteten.
»Hat sie dich erkannt?«, fragte Joseph leise.
»Nein.«
»Aber du hast sie doch so lange gestillt.«
»Das ist Jahre her. Ein Kind vergisst das.«
Als sie weitergingen, gab Lena Magda eine Hand und reichte die andere Joseph hin: »Holla hupp?«
»Du wirst lästig«, meinte der Weinbauer, aber Joseph ergriff die Hand seiner Tochter.
Sie nahmen Anlauf. »Eins, zwei, drei«, und sie schleuderten Lena weit hoch, »holla hupp.«
Das Kind quietschte vergnügt. »Noch mal.«
»Eins, zwei, drei, holla hupp.«
»Noch mal.«
»Eins, zwei, drei, holla hupp.«
Lenas Lachen schallte durch das weite Tal. Aber Magda drehte plötzlich ihr Gesicht weg.
Die DDR-Bürger werden mitwählen, hatte Joseph schon vor einem Jahr prophezeit. Sie taten es, und Haberecht erhielt für seine Strategie eine schallende Ohrfeige. Schon bei der ersten Wahlprognose lag die 5%-Hürde unerreichbar fern. Aber unbeirrt trat er nach der ersten Hochrechnung vor seine Parteifreunde und verteidigte diese Strategie, sprach von einer Wahlschlappe, die dem Zeitgeist geschuldet und zu überwinden wäre. Doch es klatschten nur wenige. Die Mehrheit der Zuhörer gehörte zu Adams Anhängern, und die buhten Haberecht so aus, dass es dem die Sprache verschlug und er ratlos und schweigend am Mikrofon stehen blieb.
Und plötzlich war aus dem Hintergrund ein leiser Ruf zu hören: »Joseph, Joseph, Joseph!«
Alle blickten sich um.
»Joseph, Joseph, Joseph!«, riefen nun schon mehrere und schließlich fast alle.
Und der ließ seine Freunde noch ein bisschen zappeln, betrat dann von hinten die Bühne und ging schnurstracks zum Mikrofon. Die Masse jubelte auf. Haberecht blickte ihn nur kurz an, senkte sein Haupt und schlich sich davon. Seine Anhänger folgten ihm in der gleichen Körperhaltung.
Joseph stand nun alleine auf der Bühne und genoss den Beifall. Erst als der ein bisschen nachließ, senkte er seine Hände beschwichtigend und stellte sich das Mikrofon ein. Dann blickte er in den Saal, der etwas leerer geworden war und lächelte breit. Ohne eine Erklärung zu benötigten, lachten die Zuhörer auf und klatschten wieder.
»Liebe Freunde, diese Wahlschlappe wirft uns nicht um, sondern sie macht uns stark. Was wir soeben erlebt haben, bedeutet eine Zäsur in der Entwicklung unserer Partei. Eine Gruppe spaltet sich ab, eine kleine Randgruppe, der wir nicht nachtrauern müssen.«
Gelächter und zustimmender Applaus erklangen. Obwohl er schon in Wien gelernt hatte, dass die Massen Ironie nicht mögen und ein seriöser Politiker lieber darauf verzichten sollte, fühlte sich Joseph zu einer kurzen Bemerkung angestachelt. »Ich will jetzt kein Wortspiel mit einem Namen machen.«
Wieder unterbrach ihn Gelächter.
»Gut, das ist ja sowieso vorbei. Wir stehen heute nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang. Wir befreien uns von dem ideologischen Müll, ohne dabei unsere Visionen aus den Augen zu verlieren. Wir nennen uns ›Die Anderen‹. Aber was bedeutet denn dieser Name? Wollen wir nur anders sein als die Altparteien? Würde uns das genügen? Würde mir das genügen? Natürlich nicht! Das Land muss anders werden. Wir wollen unser Land verändern, das ist unsere historische Aufgabe, das ist unsere Vision.«
Zustimmender Beifall brandete auf.
»Und dieser Aufgabe stellen wir uns jetzt. Wir verlassen die Nische, in die uns Ideologen getrieben haben. Wir stellen uns neu auf und machen uns regierungsfähig.«
Ein ungläubiges Raunen ging durch den Saal. Dieses Wort hatte noch kein Politiker der Partei in den Mund genommen. Und ausgerechnet nach dieser schweren Niederlage, die sie alle in die außerparlamentarische Opposition trieb, wagte Joseph das.
»Ja, das sage ich ganz bewusst, und ich wiederhole es: Wir müssen regierungsfähig werden. Unser Ziel kann nicht nur sein, bei der nächsten Wahl wieder ins Parlament einzuziehen, sondern wir müssen so viele Stimmen erhalten, dass wir als Koalitionspartner an die Macht kommen.«
Auch das Wort Macht hatte bisher nur Einer ausgesprochen – Joseph selbst auf dem Gründungsparteitag, aber daran erinnerten sich nur noch wenige. Vielen Zuhörern blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Aber sekundenschnell machte sie Josephs Ziel zu ihrem eigenen und tobten vor Begeisterung. Adam redete noch weiter, aber viel mehr hätte er nicht sagen müssen.
Joseph Adam hatte seine Bude in Bonn aufgegeben und wohnte wieder mit Magda zusammen in Frankfurt. Zum Neuaufbau der Partei reiste er kreuz und quer durch das Land.
Noch nie hatte sich Magda in seine Terminplanung eingemischt, aber plötzlich sagte sie: »Wann musst du nach München? Am 15.? Das geht nicht.«
»Was ist denn jetzt los?«
Sie holte einen Monatskalender aus ihrem Nachttisch.