Die Welt der Illusionisten. Eberhard Saage
unseren nach sich ziehen. Deshalb muss ich dringend davor warnen, Josephs Weg mitzugehen. Auf die Wiedervereinigung dürfen wir nicht setzen. Das würde uns von unseren wirklichen Visionen ablenken, und die sind die Stillegung der Atomkraftwerke, Gleichberechtigung und, und, und. Mit einem Wort: Weitere Demokratisierung. Das sind, ich wiederhole es, die Visionen, mit denen wir beim Wähler punkten können.«
Joseph gab nicht klein bei und stritt weiter energisch für seinen Vorschlag. Er wollte eine Entscheidung, und er bekam sie. Der gesamte Parteivorstand stellte sich gegen ihn. Die vage Andeutung über die Wiedervereinigung wurde aus dem Parteiprogramm gestrichen und durch die Betonung der Zweistaatlichkeit ersetzt. Über eine Neuwahl des Parteivorstandes musste danach nicht diskutiert werden, denn Joseph trat von diesem Amt zurück.
Sie frühstückten auf dem Balkon des Aparthotels. An der gedrechselten Brüstung, die der Hausherr angefertigt hatte, hingen Kästen mit Geranien, deren dunkelrote Blüten mit denen auf den benachbarten Balkons wetteiferten. Unter ihnen lag eine breite Wiese, auf der vormittags sieben Kühe weideten.
»Sieben«, sagte Joseph, »eine Glückszahl.«
»Seit wann bist du abergläubig?«
»Seitdem ich Glück brauche.«
»Du glaubst doch, dass du gerade dein eigenes Glück schmiedest.«
»Ich habe aber sehr hoch gepokert.«
»Eben, das meine ich ja.«
»Ich werde aber siegen!«
»Na, abwarten.«
Frühmorgens versetzte der Bauer den Weidezaun um einige Meter und gab den Kühen saftige Kräuter und frische Gräser frei. Danach mähte er ein anderes Stück und fuhr das Futter für nachmittags in den nahen Stall.
Die Penkenbahn wurde in Betrieb gesetzt, und von oben näherten sich die ersten Gondeln der Talstation. Joseph Adam nahm sich schon die dritte Tasse Kaffee, er saß bequem und völlig entspannt und beobachtete den Bauern beim Mähen. Erst als Magda zum dritten Mal auf ihre Uhr blickte, reagierte er: »Wir haben doch Zeit, nichts drängelt uns.«
»Heute schon, wir müssen nach Hintertux fahren.«
»Müssen?«
»Müssen!«
»Ich dachte, wir wollten einfach mal zwei Wochen Urlaub machen, ganz gemütlich mit ein paar Wanderungen durch die Täler, bevor der Sommer endet.«
»Machen wir ja auch.«
»Aber ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass wir nicht nur deshalb hier sind.«
»Kann sein.«
»Also heute?«
»Ja, heute!« Sie blickte wieder auf die Uhr.
»Okay, okay, ich bin ja schon fertig.« Gespielt hastig schüttete Joseph den letzten Schluck Kaffee in sich rein. »Da bin ich aber mal gespannt!«
Sie verriet ihm nichts und genoss die Autofahrt bis Hintertux durch die schöne Bergwelt und die herausgeputzten Dörfer.
»Eins habe ich unserem Hausherrn schon gesagt, aber das hört der gar nicht so gerne, ich habe noch nie eine so stinkreiche Gegend gesehen wie hier im Zillertal.«
»Ich auch nicht, obwohl andere ja auf die Schweiz verweisen. Die Leute hier haben ein unglaubliches Schwein. Als vor etwa 140 Jahren der Tourismus begann, brauchte ein Ahne nur ein Haus mit Grundstück zu besitzen, und schon hatten alle nachfolgenden Generationen ausgesorgt.«
»Das solltest du dem Hauswirt aber nicht sagen.«
»I bewahre.«
In der Talstation der Hintertuxer Bergbahnen wollte Joseph gleich Tickets bis ganz nach oben kaufen. »Wenn wir schon mal hier sind, will ich auch den Gletscher erleben. Vielleicht haben wir ja auch eine gute Sicht bis zur Zugspitze.«
»Nein! Wir müssen nur bis zur Sommerbergalm.«
Magda verschwieg immer noch ihr Ziel und übersah die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen bildete.
Mit ihnen betrat ein junges Paar die Kabine. Er war klein und schmächtig, hatte aber ein brutal wirkendes, feistes Gesicht mit unangenehmen Augen. Sie war einen Kopf größer als er, schlank, rassig, bildschön. Er redete in einer hart klingenden, slawischen Sprache auf sie ein, und sie senkte ihre Augen.
Oben blickte Magda auf ihre Uhr: »Wir haben noch etwas Zeit.«
Sie gingen zu dem Aussichtspunkt hinter der Station. Tief unter ihnen schlängelte sich die Straße durch das weite Tal mit den langgestreckten Dörfern. Am Südhang grasten viele Kühe auf den Almen, der Nordhang war unten bewaldet, darüber zeugten Lawinenschutzzäune von den Gefahren, denen die Bewohner im Winter ausgesetzt waren.
»Wunderschön!« Magda konnte nicht genug fotografieren. Dann wandte sie sich zurück zu dem steil aufragenden Olperer. Auf seinem tief herabhängenden Gletscher bewegten sich kleine dunkle Punkte nach unten. Einer verharrte kurz, war vielleicht gestürzt, während ein anderer noch wenige Meter weiterfuhr und dann wartete.
»Wenn das der Reiche war, wird er seiner Frau die Schuld geben«, meinte Joseph.
»Das müsste sie ertragen.«
Magda behielt nun den Ausgang der Bergbahn im Blick. Und dann kamen dort vier Personen heraus, ein älterer, graumelierte Herr, ein jüngeres Paar und ein kleines Mädchen.
Joseph hatte sie noch nicht entdeckt, aber Magda sagte: »Jetzt müssen wir gehen.«
Nur 50 Meter hinter der Gruppe erreichten sie den Wanderweg zum Tuxer Jochhaus. In diesem Moment blickte sich der ältere Herr um, und Joseph blieb abrupt stehen:
»Da, da, das ist …«
»Ja, das ist er.«
»Dann, dann ist das Mädchen …«
»Ja, das ist unsere Tochter.«
Er schwieg verwirrt und meinte dann: »Das wird dem Weinbauern aber nicht gefallen.«
»Dem nicht, aber der musste sich beugen. Seine Frau und seine Schwiegereltern sind schließlich Georgier. Für die ist die Familie das allerwichtigste. Die haben verstanden, dass ich meine Tochter noch einmal sehen will, wenn wir das auch anders vereinbart hatten.«
»Und deshalb habt ihr euch hier verabredet?«
»Ja, weitab vom Schuss. Wir treffen uns zufällig, gehen ein Stück miteinander, essen oben und gehen wieder auseinander. Keiner bemerkt etwas, auch Lena nicht.«
Am Wegrand standen zwei Kühe. Eine säuberte der anderen mit ihrer langen Zunge gründlich den Hals. Die andere blieb ganz ruhig stehen, ohne sich von den neugierigen Menschen stören zu lassen. Die Eltern stellten sich mit Lena davor, und der Opa wollte sie fotografieren.
»Möchten Sie mit auf das Foto?«, fragte Magda.
»Ja, danke, das ist nett.«
Jetzt bemerkte eine Kuh den Blumenstrauß, den Lena sich gepflückt hatte und fraß ihn auf, bevor Lena ihre Hand wegziehen konnte.
»Meine Blümchen, schade.«
»Guck mal dort«, Magda entdeckte in einer Felsspalte gelb leuchtende Arnikablüten und nahm ihre Tochter an die Hand, »komm, die holen wir dir.«
Ohne Scheu folgte Lena der fremden Frau.
»Sind die nicht schön?«
»Findest du noch mehr?«
»Ja, guck dort.«
Die Beiden pflückten zusammen viele Blumen, während die anderen weitergingen. Der Aufstieg zur Hütte wurde steiler als sie von unten vermutet hatten. Der Fürst fiel etwas zurück, und Joseph blieb bei ihm. Als die anderen sie nicht mehr hören konnten, blieb der Fürst stehen und sagte: »Sie haben sich sehr verändert.«
»So? Mit anderen Worten, Sie interessieren sich für meine