Der neue König von Mallorca. Jörg Mehrwald
mit geschlossener Ladeluke absolvieren würden.
Kapitel 3
Die erste Nacht
Das großräumige, marmorierte Flughafengebäude von Palma glich einem Heerlager versprengter Truppen von Touristen, die entweder auf ihre junge Reiseleiterin warteten, die sie auf dem Weg zum Hotel im Zubringerbus begleitete, oder die zum Taxi strömten, um möglichst schnell ihren Zielort zu erreichen.
Dr. Stefest schritt schnurstracks durch die Massen hindurch zum Zubringerbus. Gewitterwolken verdunkelten den Himmel. Es war schwül; dass die Wolken außer Dunkelheit vielleicht auch Regen bringen könnten, wurde rundum allerdings lautstark bezweifelt. Die Reisegruppe machte sich selber Mut. Nur noch ein Stündchen, und Bier- oder Schinkenstraße, MegaPark und MegArena lockten mit kühlen Bierchen und viel Stimmung. Stefest konnte das Bier schon auf seinen Lippen schmecken, auch wenn es nicht aus seiner eigenen Brauerei kam. Müller rannte bemüht hinter seinem Chef her und schaute sich die Touri-Massen genauer an.
»Alles potentielle Kunden für unseren Erlebnispark, Markus. Wahnsinn, diese Massen! Wie viel die trinken können!«
Müller stimmte zu, fühlte sich aber an einen ganz anderen Vergleich erinnert. Sein Studienfreund Herby pflegte beim Anblick eines Bernhardiners oder ähnlich großer Hunde immer zu sagen: »Schau dir diesen Köter an! Wie viel der wohl frisst und was der wohl für große Haufen scheißt!?«
Da Markus derartige Hinterlassenschaften, gleich welcher Größe und Art, zuwider waren, würde er sich nie einen Hund anschaffen. Aber Herby hatte recht und Dr. Stefest auch: Diese Menschenmassen wollten sich amüsieren, und für einen Großteil von ihnen bestand dieses Vergnügen aus 24-Stunden-Partys. Und wenn nur ein Bruchteil davon später in den Erlebnispark der Schippchen-Brauerei käme, hätte er einen sicheren Job.
Nach einer guten Viertelstunde gelangten auch die letzten Mitglieder der Reisegruppe unter infernalischem Gejohle und einem mit stets frischer Begeisterung vorgetragenem »Zicke Zacke, Zicke Zacke, hoi hoi hoi!!!!!« zum Bus. Die Reiseleiterin hakte die Namen ab und verabschiedete sich »Bis später!«, da sie für eine Kollegin noch eine zweite Reisegruppe betreuen müsse.
Stefest und Müller saßen auf den vordersten Plätzen schräg hinter dem Fahrer. Sie sahen voller Ungeduld, wie die letzten Fahrgäste zustiegen. Stefest sagte nichts, denn er lauschte aufmerksam dem Gespräch der beiden Busfahrer, die sich in ihren schon etwas betagten Bussen die Fuhre teilten. Der Brauereichef hatte lange kein Spanisch mehr gesprochen, aber er verstand trotzdem noch jedes Wort.
Miguel – das musste, wie Stefest herausbekam, ihr Busfahrer sein – schlug seinem Kollegen gerade eine kleine Wette vor. Er wollte mit ihm ein Wettrennen fahren. Es ging aber nicht darum, als Erster am Hotel anzukommen. Stefest traute seinen Ohren nicht. Die beiden Mallorquiner vereinbarten nichts anderes als eine Raserei auf der kurvenreichen Strecke, die nur einen Zweck erfüllen sollte: nämlich die angetrunkenen Touristen zum Kotzen zu bringen! »Wer am Ende in seinem Bus die sichtbarsten Spuren vorweisen kann, hat gewonnen. Der Verlierer muss beide Busse reinigen.« So lautete die Abmachung.
Stefest war baff. Das war unglaublich. Dagegen waren die kleinen Streiche der deutschen Ballermänner eine Erholungskur für Herzkranke. Aber jetzt etwas zu sagen wäre sinnlos gewesen. Außerdem gingen ihm einige Schreihälse aus dem Flugzeug mittlerweile selbst auf den Nerv. Erst singen, dann reihern – haha, schönes Motto, dachte Stefest und beschloss, sich einfach auf die Schussfahrt zu freuen. Und sein Marketingmann sah so aus, als ob auch er mit den Strapazen einer Kurvenraserei zurechtkommen würde. Stefest verschwendete also keinen weiteren Gedanken an seine Fürsorgepflicht als Arbeitgeber.
Als die Bustüren schlossen, drehte sich Markus um. Ganz hinten saß sie! Verdammt! In dem ganzen Trubel hatte er den Rotschopf völlig vergessen. Aber das musste sie sein. Bingo!
Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht. Diese Frau hatte was! Sie unterhielt sich gerade mit einem langen Dürren, dessen Sonnenbrille eine Nummer zu klein geraten war. Markus war beruhigt, der Typ hatte gegen ihn keine Chance. Ehe er sich die Frau noch näher anschauen konnte, warf ihn ein Ruck gegen seinen Chef.
»Was geht denn jetzt ab?«
Stefest grinste: »Halt dich lieber gut fest!«
Der Bus raste mit quietschenden Reifen in eine doppelte S-Kurve. Ein wildes Durcheinander und Poltern hinter den beiden Dienstreisenden von der Schippchen-Brauerei ließ darauf schließen, dass Personen, Gepäckstücke und Flaschen ihre Positionen von einem Moment zum anderen ruckartig veränderten. Miguel und seinen vorausfahrenden Kollegen berührte das anscheinend überhaupt nicht. Hilfeschreie und gestammeltes Touristenspanisch waren die letzten gesprochenen Reaktionen aus dem Passagierraum, die ihren Fahrer motivierten, die Kurven noch rasanter zu nehmen und auf gerader Strecke ein paar Überholmanöver zusätzlich zu riskieren.
Bei den Gästen meldete sich nun der im Flugzeug konsumierte Alkohol. Es begann ein hektisches Fingern nach den griffbereit liegenden Kotztüten. Als endlich die ersten röhrenden Laute zu hören waren, grinste Miguel siegessicher. Er hatte die Wette in seinen Augen offensichtlich schon so gut wie gewonnen.
Müller holte tief Luft. »Ernst, was ist das für eine Scheiße hier?«
»Kein Grund, ordinär zu werden, mein Lieber. Hahaha!«
Stefest lachte aus voller Kehle, während der Rest der Fahrgäste versuchte, seinen Mageninhalt in die viel zu kleinen Papiertüten zu kanalisieren; mindestens die Hälfte der Reisenden scheiterten, weil sie in ihrer Panik fieberhaft an den Tütenöffnungen herumrissen, ohne dass sich die aneinanderklebenden Enden auch nur einen Millimeter bewegten. Stefest überlegte, was er an Miguels Stelle getan hätte, um die Wette zu gewinnen: Genau! Die Kotztüten zukleben!
»Wie weit ist es noch?«, fragte Markus entnervt. Er wollte hier einfach nur noch raus.
»Lange kann’s nicht mehr dauern. In dem Tempo brauchen wir höchstens eine Viertelstunde bis Arenal. Wenn es dich beruhigt, Markus, so was habe ich auch noch nicht erlebt«, antwortete Stefest belustigt, der inzwischen ein neues Beobachtungsobjekt ausfindig gemacht hatte. Auch Müller schaute wie gebannt auf den Touristen, der mit gespielter Ruhe und aschfahlem Gesicht versuchte, das kleine Schiebefenster am oberen Teil des Busfensters – eigentlich mehr ein Luftloch – zu öffnen, um seine Fracht elegant an die frische Luft zu befördern. Er formte seine Lippen zu einem Kussmündchen, so dass ihm das eigentlich Unmögliche tatsächlich gelang. Stefest hätte fast Beifall geklatscht.
Im hinteren Teil des Busses allerdings überwältigte diese Meisterleistung eine bislang noch recht standfeste Frau; denn der Fahrtwind klatschte Kussmündchens geballte Ladung ans Fenster, direkt vor den Augen der Standfesten, die nun auch nicht mehr an sich halten konnte. Markus Müller hätte gern die Augen geschlossen, aber die Faszination des Schauspiels war zu groß.
Lichter … ein Hotel … der Bus bremst … Markus dachte nur noch in Fetzen.
Als der Bus schließlich vor der Bausünde aus den 1970er Jahren, die sich »Hotel Kakadu« nannte, zum Stehen kam, war Dr. Stefests Sportsgeist geweckt. Er wollte unbedingt wissen, ob Miguel als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war. Er musste sich allerdings beeilen, denn der Busfahrer hatte sich schnell verdrückt, um dem Zorn der Passagiere zu entgehen. Die wiederum waren jedoch derart entkräftet und von der Schwerkraft zerzaust, dass ihnen als einzige Bedrohung halbherzige Flüche über die Lippen kamen. Alle schworen sich insgeheim, auf dem Rückweg ein Taxi zum Flughafen zu nehmen. Jetzt wollten sie sich nur schnell erholen, literweise Sangria würde, nach der Logik der Hobby-Trinker, den etwas verstimmten Magen schnell wieder in Stimmung bringen. Schon im Foyer des Hotels stimmte der Kegelclub jedoch, zwar noch etwas gedämpft, aber doch unüberhörbar Schlachtrufe an: »Jetzt geht’s lohoos! Jetzt geht’s lohooos!«
Stefest eilte Miguel nach und bekam gerade noch mit, wie der Portier lachend als Schiedsrichter fungierte. Er hatte die Busse inspiziert und erklärte nun Miguel zum eindeutigen Sieger.
Während Markus Müller kurz darauf seinen Koffer an der Rezeption hinter seinem Chef abstellte, der seltsam beschäftigt tat, schwante ihm, dass dieses Schlitzohr Dr. Ernst