Der neue König von Mallorca. Jörg Mehrwald

Der neue König von Mallorca - Jörg Mehrwald


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in die Hand.

      Stefest lehnte ebenso oft energisch ab und setzte seinen finstersten Blick auf, wenn auch nur ein Verteiler in seine Nähe kam.

      »Schmeiß das Zeug in den nächsten Papierkorb«, riet er Müller professionell. Der sah weit und breit keinen Papierkorb und maulte: »Ich wette, hier gibt’s mehr Verteiler als Schmeißfliegen.« Stefest blickte auf Müllers Handzettel: »Ich wäre vorsichtig mit solchen Vergleichen. Du weißt doch, tausend Schmeißfliegen können nicht irren.« Müller ging mit festem Schritt auf einen offensichtlich Besoffenen los, drückte dem bis zum Scheitel Abgefüllten seine gesammelten Werbezettel in die Hand und sagte: »Ich komme in zwei Minuten zurück und hole mir alle wieder ab. Also aufpassen, nicht dass einer fehlt, nachher!«

      »Aber …«, versuchte das im mittleren Alter vor sich hin trinkende Zufallsopfer einen Einwand zu formulieren.

      Markus schnitt ihm scharf das Wort ab: »Kein Blatt darf verlorengehen, verstanden?!«

      Das Opfer salutierte mit der freien Hand und wiederholte lallend: »Alllles klllllaar Schefff. Keinnnnn Blatt daffff velllloren gehhn. Vestannnnen.«

      Markus eilte davon und verschwand im Promenadengewühl. Mit beachtlichem Tempo eilte Stefest in Richtung Bierstraße. Er hatte Durst. Müller holte ihn erst nach einer knappen Minute atemlos ein.

      »Du hast ja einen Schritt am Leib …«

      »Traut man so einem kleinen Dicken wie mir nicht zu, was? Ich hab’ einen Brand, das glaubst du gar nicht! Und wenn ich nicht bald was zum Löschen bekomme, artet das in einen Flächenbrand aus.«

      »Das da vorn scheint diese Bierstraße zu sein«, bemühte sich Müller eilfertig um den Durst seines Chefs.

      »Stell dir mal vor, du kommst jetzt an den Tresen, willst zwei Bier bestellen und dir versagt die Stimme«, merkte Stefest an und lachte dabei ein wenig hysterisch, während sie in die mit Leuchtreklame zweier deutscher Brauereien illuminierte Bierstraße einbogen. Ein Lichtermeer voller verheißungsvoller Angebote zum grenzenlosen Verzehr von Speisen und Getränken eröffnete sich ihren gierigen Blicken. Hier schien auf ein paar hundert Metern Straße die Leuchtreklame einer mittleren Kleinstadt montiert zu sein. Tresen an Tresen präsentierte sich jede Kneipe mindestens doppelt so groß wie zuhause in Deutschland. Ein Straßenzug als riesengroßer stimmungsvoller Ausschank. Dazwischen brutzelten Würste, Steaks und alle erdenklichen Fleischgerichte. Hier konnte man sich für Stunden oder Tage ins Schlaraffenland einkaufen. Wie in ganz Arenal war alles auf deutsche Besucher eingerichtet: Man sprach deutsch, man schrieb deutsch und man trank deutsches Bier.

      Stefest suchte sofort Kontakt zum erstbesten Bierzapfer und öffnete die Hand, um sicherheitshalber gleich mal fünf Bier zu bestellen. Markus kam ihm lautstark zuvor. Stefest sah sich irritiert um.

      »Nur für den Fall, dass dir die Stimme versagt – ich wollte nicht, dass du stammeln musst, Ernst«, versuchte sich Müller zu entschuldigen. Stefest grinste. »Na, ein bisschen müssen wir doch noch warten. In sieben Minuten wird das Pils gezapft.«

      Am Nebentisch nahm man die eilige Bestellung aufmerksam zur Kenntnis. Ein stämmiger Junge aus dem Kohlenpott versuchte sie mit lauter Stimme zu provozieren: »Die sind ja am Verdursten. Ihr kommt wohl direkt aus der Wüste, was? Aus welcher Karawane seid ihr denn ausgebrochen?«

      »Welches Kamel will das denn wissen?« Stefest fragte das fast beiläufig, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Das Kamel hieß Georg und verstand Spaß. Als die beiden Neuen ihr Pils in einem Zug hinunterschütteten und Stefest nochmal das Gleiche und eine Runde für den Tisch der »Wüstenkamele« bestellte, gingen Markus’ sämtliche Berührungsängste im Gelächter unter. Er selbst wäre nie in der Lage gewesen, eine dermaßen schnoddrige Antwort einfach so einem unbekannten Angetrunkenen an den Kopf zu schmeißen. Das Risiko einer gewalttätigen Auseinandersetzung war ihm immer zu groß. Rhetorisch war Müller zwar fit, aber seine Muskelmasse hätte nie ausgereicht, um in einer Schlägerei Akzente zu setzen. An so etwas hatte er nur einmal in seinem Leben teilgenommen und dabei die Bekanntschaft mit einem mehrfach vorgetragenen klassischen Leberhaken gemacht. Danach mied er Volksfeste oder sonstige Feierlichkeiten, auf denen sich Zahnärzte bereits die Patienten der nächsten Woche ansehen konnten. Stefest nutzte eine Atempause, um festzustellen: »Du hast hoffentlich deine erste Lektion gelernt?«

      Markus nickte: »Nimm nie Werbezettel entgegen, bestelle jedes Bier doppelt und bleibe keinem eine Antwort schuldig.«

      Stefest hob sein Glas: »Junge, mit diesem Motto kommt hier unten jeder Vertreter durch.« Die »Wüstensöhne«, wie Stefest nach dem fünften Bier nun versöhnlich die fröhliche Runde aus Bottrop nannte, stimmten zwischendurch mal einen kleinen Gesang an. Dabei schwangen sie ihre Mützen, die mit phantasiereichen Sprüchen zum Thema Alkohol bestickt waren. Stefest und Müller staunten nicht schlecht, als aus den Trinkerkehlen in sauberem Ton »Veronika, der Lenz ist da …« in der Version der Comedian Harmonists erklang. Nachdem Stefest die ganze Runde nach Lieblingsgetränken, Lieblingskneipen und Lieblingsfrauen abgefragt hatte, verließen die beiden Dienstreisenden die Stehtische inmitten der Bierstraße.

      »Eins kapiere ich nicht: Was haben die Lieblingsfrauen mit den Lieblingskneipen zu tun?«, wollte Markus auf dem Heimweg wissen.

      »Niemand wird gern ausgefragt. Damit wiege ich sie alle in Sicherheit. Frage immer mehr, als du wissen willst, damit weckst du kein Misstrauen«, antwortete Stefest.

      »Aha.« Markus beließ es dabei und wehrte stattdessen den mittlerweile dritten Handzettelverteiler erfolgreich ab.

      Sie kamen auch an dem alkoholisierten Papierkorb vom Hinweg vorbei. Markus ging vorsichtshalber etwas schneller. Gefahr war aber nicht im Verzuge, denn der gehorsame Trinker schlief im Sitzen vor einem Baum. Er hatte tatsächlich keinen einzigen Handzettel fallen lassen. Stefest schüttelte den Kopf und dachte: »Das arme Schwein ist bestimmt im öffentlichen Dienst.«

      *

      Zur gleichen Zeit sah sich Bertram Mollenhauer, von Statur klein und hager und irgendwie einem Windhund nicht ganz unähnlich, in seinem Lokal um. Er tat das nicht ganz freiwillig, denn für morgen früh hatte sich wieder ein Beamter von der Baupolizei angekündigt. Ein geplatztes Wasserrohr war vor drei Wochen zum Albtraum geworden. Seine Kneipe »Volles Rohr« – nomen est omen – war fast in jedem Raum schwer von den Wasserschäden gezeichnet. In den Räumen roch es nach Moder. Selbst nach einer Abfüllung mit billigstem Sangria waren die Touris nicht davon zu überzeugen, dass es sich um den edlen Duft andalusischen Weines handelte, der bereits seit 86 Jahren im Hause lagerte und auf den seit Jahren Sotheby’s spekulierte. Was Mollenhauer gerettet hätte, denn eigentlich stand er vor dem Ruin. Er nahm seine dicke Hornbrille ab und putzte die Fettschlieren weg. Nächste Woche würde er doch zum Friseur gehen müssen, um seine geliebte und lang gezüchtete Haartolle etwas kürzen zu lassen.

      »Dein Geiz bringt uns nochmal um!«, rief seine Frau Margarita aus der Herrentoilette, wohin sie zuvor schimpfend mit einer Malerleiter verschwunden war. Dieser Vorwurf traf auf noch viel schlimmere Art und Weise zu, als sie es sich hätte vorstellen können. Mollenhauer war Händler aus Berufung. Feilschen konnte er wie kein Zweiter, was aber über die Jahre dazu führte, dass er schon fast krankhaft knickrig wurde, weil er eigentlich jede Ausgabe scheute. Freunde konnte er nicht verlieren, denn er hatte aus Kostengründen keine. Nun klebte ihm auch noch das Pech an den Hacken. Schlimm war der Rückzug seiner Gäste, die sich selbst im volltrunkenen Zustand in seinem »Vollen Rohr« nicht wohlfühlten. Zumal Mollenhauers Programm als Alleinunterhalter hauptsächlich aus mühsam gekrähten Schlagern bestand, die er als Kellner zum Besten gab. Techno und Pop-Schlager waren ihm komplett entgangen, und um so etwas wie Nostalgie zu vermitteln, fehlte ihm einfach die besondere Note, wie er gern seine Verspieler bezeichnete, wenn er auf der Pianotastatur danebengriff. Dadurch hielten sich Ausgaben und Einnahmen die Waage. Es blieb nichts übrig. Ein Zustand, den Mollenhauer hasste, insbesondere, weil er ihn selbst betraf. Noch viel schlimmer fielen allerdings zwei Tatsachen ins Gewicht, von denen Mollenhauers Frau überhaupt nichts ahnte. In seinem Geiz hatte er, obwohl er es seiner Margarita gegenüber behauptet hatte, für sein Lokal keine Versicherung abgeschlossen, die Schäden wässriger Art abdeckte. Und als wäre das nicht genug, kämpfte


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