Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien. Tino Hemmann
schneller durch die verschiedensten Seiten als viele seiner nichtblinden Freunde. Durch die Berührungsoberflächen der neuen mobilen Gerätegenerationen musste Fedor sich völlig umgewöhnen und eine zweite Art der Bedienung lernen, denn eine Tastatur gab es am iPad nicht. In der Schule hatte er das Zehnfingerschreiben an der Blindentastatur annähernd perfekt gelernt, doch das half ihm bei einem Touchscreen leider nicht weiter. Inzwischen kam Fedor mit den Gesten jedoch so gut zurecht, dass Stefan stets staunte, wenn Fedor mit dem iPad arbeitete oder im Netz surfte.
Nachdem Fedor den Ladezustand aller elektronischen Geräte pedantisch geprüft hatte und endlich davon überzeugt war, dass er eine Speicherkarte mit genügend MP3-Musik und Hörbüchern gefüllt hatte, packte er alles ordentlich und vorsichtig in seinen Rucksack und stellte diesen neben die Zimmertür. Dokumente und Geld trug er gewöhnlich in einem Brustbeutel. Anschließend prüfte Fedor seinen Langstock und stellte ihn neben den Rucksack.
In diesem Moment rief es: »Uzhin!« Die Mutter verbesserte sich sofort: »Ich meine Abendessen!«
*
Ein paar Stunden zuvor, etwa zwanzig Kilometer von Fedors Zuhause entfernt: Hans Rattner, Hauptkommissar der Mordkommission Leipzig, stieg zu seinem immerhin um ein Jahr jüngeren Untergebenen Kriminalobermeister Paul Meisner in den Einsatzwagen und schlug derb die Beifahrertür zu.
»Der Tag fing so gut an«, stellte Meisner fest.
Rattner zuckte mit den Schultern. »Ausgerechnet in der Eisenbahnstraße«, raunte er. »Was ist denn da wieder los?«
Meisner stöhnte. »Schnall dich lieber an, nicht dass uns noch die Polizei erwischt.«
Es dauerte eine geraume Weile, bis Rattner mit dem Gurt zurechtkam. Wahrscheinlich dachten die beiden Beamten in diesem Augenblick des Beginns einer neuen Ermittlung das Gleiche. Vor einigen Tagen glaubten zwei Kollegen ihren Augen nicht zu trauen, als sie nach einer Routinekontrolle in Zivil die Leipziger Multi-Kulti-Meile Eisenbahnstraße abliefen und dabei notgedrungen einen Iraner beobachteten, der es sich gerade mit einem Teppich auf dem Gehsteig bequem machte. Als sie genauer hinschauten, entdeckten die beiden Beamten ein buntes Sortiment an Drogen und Zubehör. So etwas hatten selbst die Drogenfahnder noch nicht gesehen. Als sie den Iraner zur Rede stellen wollten, zückte er sofort ein Teppichmesser. Zum Glück verstanden die Beamten ihr Handwerk besser als der Drogendealer und konnten ihn daher blitzschnell entwaffnen. Später stellte sich heraus, dass die Tütchen, die der Mann in seinem kleinen Freiluft-Lädchen feilbot, mengengerechte Portionen Heroin und Cannabis enthielten. Der Mann wurde festgenommen und wegen illegalen Drogenhandels angeklagt. So ernst die Geschichte auch war, in den Polizeidienststellen sorgte sie für sehr viel Gelächter.
Rattner brachte es damals auf den Punkt: »Unsere Gesellschaft verdummt zusehends. Warum sollte die Verdummung ausgerechnet einen Bogen um die Kriminellen machen?«
Der Hauptkommissar öffnete die Mappe auf seinem Schoß, entnahm ihr das einzige Blatt Papier und versuchte, die Schrift darauf zu lesen. »Wackle nicht so rum!«
Der arme Paul Meisner umfuhr bereits nahezu jedes der unzähligen Schlaglöcher. »Das bin nicht ich, das ist die Straße«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »Und, was sagst du dazu?«
»Scheint Arbeit zu geben. Hier steht wortwörtlich: ›Notarzt wurde 11:16 Uhr über Notruf zu Hinterhaus gerufen. Er fand einen Toten vor, der nicht mehr wiederbelebt werden wollte. Männliche Leiche, südländisch, zirka vierzig Jahre. Tötungsdelikt durchaus möglich.‹ Welch primitiver Idiot hat denn so etwas geschrieben?« Rattner packte den Zettel zurück und Meisners Gesicht färbte sich rosa.
»Ich. Das war eine Telefonmitschrift. Entschuldige bitte!« Dann schwieg er beharrlich.
»Bist du jetzt eingeschnappt oder was?«, fragte Rattner drei Ampeln später.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Kriminalobermeister. »Du kannst einen aber auch manchmal schwächen.«
»Schwächen?« Rattner grinste. »Merkwürdig. Das sagt meine Frau seit ein paar Jahren auch ständig.«
»Volltrottel!«, rief Meisner und meinte damit einen Autofahrer, welcher schlagartig von der rechten in die linke Spur gewechselt hatte. Und zwei Spuren lagen noch dazwischen. Sie ließen den Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs hinter sich und fuhren durch eine kurvenreiche Straße, die in die Eisenbahnstraße münden würde. »Der Satz ›Du kannst einen aber auch schwächen‹ umschreibt lediglich mit netten Worten, dass die Senilität bei dir heftig zugenommen hat. Jetzt weißt du auch seit wann.« Nun grinste Meisner. Er versuchte, irgendwelche Hausnummern zu erkennen. »Das mit dem Häusernummerieren haben die hier noch nicht richtig verstanden.« Abrupt trat er auf die Bremse, lenkte scharf links ein und wendete fast auf der Stelle. Das geschah etwas sprunghaft, denn die Straßenbahntrasse hatte man hier leicht erhöht, um die freie Fahrt der Tram zu gewährleisten. Einige Sekunden später stand der Wagen zur einen Hälfte auf dem Fußweg und zur anderen Hälfte zwischen zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei. »Lass bloß nichts im Auto liegen, sonst kann ich gleich einen neuen Satz Scheiben bestellen.«
»Du und deine Vorurteile gegenüber fremdländischen Mitbürgern.« Rattner schüttelte den Kopf und schaute bedächtig an der Fassade hinauf. Unmittelbar über einem Laden im Erdgeschoss hing ein buntes Schild mit zwei Wörtern in kyrillischer Schrift: »Cрпски специалитети«. Weil Rattner aus früheren DDR-Zeiten noch halbwegs russisch beherrschte, buchstabierte er: »Srpski Specijaliteti. – Sag mal, was ist denn Srpski nun wieder für ein Land?«
Meisner beendete soeben die Kontrolle der Sicherheit seines Fahrzeuges. »Srpski? Sag mal, weißt du denn überhaupt irgendetwas? Srpski! In diesem Laden gibt es Serbische Spezialitäten. Außerdem siehst du das auch auf dem Schild da: Pasulj, Sarma, Bela, Vesalica, Proja und Slivovic.«
Rattner öffnete die Haustür. »Immerhin: Slivovic kenne ich ganz gut. Brennt im Hals und wärmt von innen.«
»Mir war völlig klar, dass du nur den Pflaumenschnaps kennst.«
»Ich dachte immer, der wäre tschechisch.«
»Da hast du falsch gedacht. Die meisten Sachen gibt es überall im slawischen Raum.«
Im düsteren Hausflur wurden Rattner und Meisner von einer Streifenpolizistin begrüßt. »Morgen, die Herren. Der Tatort befindet sich vierzehn Schritte geradeaus auf dem Hinterhof.«
Beide knurrten gleichzeitig ein »Danke!« und verließen den Hausflur durch den Hintereingang.
Auf dem Hinterhof herrschte reges Treiben.
Einer der Herren in Blau begrüßte die Kriminalisten mit den Worten: »Den Weg hätten Sie sich praktisch sparen können.« Er zeigte auf einen Mann, welcher unmittelbar neben der Hauswand in einer Blutlache lag. »Das Opfer. Nebojša Suker, 49, deutsche Staatsbürgerschaft seit acht Jahren, der Vater des Ladeninhabers.« Und dann auf eine Frau, die am anderen Ende des Hofes auf einer umgedrehten Holzkiste saß und mit Handschellen an den Handgelenken versuchte, eine Zigarette zu rauchen. »Der Täter – oder besser die Täterin. Kristina Krajic, 28, hat dem Opfer mehrmals ein Filetiermesser in den Hals gerammt. Sie hat keine Aufenthaltsgenehmigung.«
Zwei Leute in modernen Weltraumanzügen betraten den Hof. Die Spurensicherung. Beide grüßten Rattner, indem sie kurz winkten, und gingen sofort zu der Leiche, um die sich niemand wirklich kümmerte.
»Eine Frage noch: War diese Kristina hier, als Sie am Tatort eintrafen?«
Der Polizist verneinte. »Niemand hatte was gesehen, wir haben ringsherum fast alle Leute gefragt. Wer hier wohnt und arbeitet, ist wie die drei berühmten Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Als wir mit dem Absperren beschäftigt waren, kam Kristina Krajic auf den Hof getaumelt, setzte sich und erzählte irgendwas Unverständliches. Irgendwann sagte sie dann in gebrochenem Deutsch: ›Ja. Ich habe das getan. Sorry.‹ Das war alles. Seitdem schweigt sie.«
»Haftbefehl?«
»Ein vorläufiger wurde bereits mündlich erteilt. Der Staatsanwalt meinte …«
Mit einer Handbewegung unterbrach Rattner.