Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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sinnierte Sebastian laut vor sich hin, saß auf einem Schemel und blickte von dort durch die Zelle und zur vergitterten Fensterklappe hinaus in einen gleichmäßig grauen Himmel.

      Und knapp ein halbes Jahr von zehn Jahren … Aber bei lebenslänglich sieht der erst mal kein Ende. Welch ein Unterschied …“ Immer wieder und sehr oft kam ihm auch der Todeskandidat in der Zelle schräg gegenüber in den Sinn. Ein Typ wie die um Stauffenberg, sagte er sich. Wie ist der bloß aufgeflogen? Keiner wusste es.

      So manche Freistunde mit diesen Märschen rund ums Rasenkarree, von den Wachposten auch gern Hofgang oder Rundgang genannt, war bereits wegen zu starken Regens ausgefallen. Bei Nieselregen allerdings wurden diese Rundmärsche, wenn auch verkürzt, durchgeführt. Sebastian betrachtete dann den weiten grauen Himmel, mal eben nicht durch die schmale Fensterklappe und dazu der feine Regen der gleichmäßig auf alles fiel, dort draußen und hier drinnen, sagte er sich und hielt das Gesicht in das staubfeine Naß, das aus dem hohen Himmel fiel, bis er von einem Posten angeblafft wurde: „Gucken sie gefälligst wohin Sie latschen!“

      Es war schon vorgekommen, dass einer der ein, zwei Meter aus der Bahn geraten war, weil er sich, wie etwa Sebastian, die Wolken in einem weiten freien Himmel angesehen hatte, zur Strafe dafür eine Reihe von Kniebeugen oder Liegestütze zu absolvieren hatte.

      Die trüben regenreichen Tage zogen sich hin und es wurde nie richtig hell in der Zelle. Den handtellergroßen Toilettenpapierstücken aus Zeitungen war weiterhin bruchstückhaft zu entnehmen, dass inzwischen immer mehr große LPG-Getreideflächen, durch den vielen Regen zu Boden gedrückt, auszuwachsen begannen. Auch Frühkartoffeln faulten inzwischen auf den Feldern.

      „Da wird ja auch Gemüse faulen …“, kamen Bedenken in der Zelle auf. „Wer weiß was die uns dann zumuten werden, wenn’s ja jetzt schon neben dieser Wassersuppe nur Bruchnudeln mit brauner Mehlsoße zu fressen gibt.“

      „Na klar“, warf der Rundgesichtige mit der Halbglatze ein, „die fegen den ganzen Nudelbruch in der Fabrik hier in Cottbus zusammen und uns wird das dann täglich zum Fraß vorgeworfen.“

      „Natürlich trifft’s uns besonders, wenn’s mit der Versorgungslage draußen wieder mieser werden sollte“, sagte der Ingenieur mit besorgter Miene.

      „Aber nach dem 17. Juni“, warf Sebastian ein, „da wissen die inzwischen ja selbst, dass mit der Bevölkerung nicht zu spaßen ist. Ohne den Iwan wären die nämlich längst weg vom Fenster.“

      Der Ingenieur nickte. „Schließlich sitzen ja genug vom 17. Juni hier oben auf Station. Aber die DDR lebt nun eben mal nur von der Hand in den Mund und für Importe gibt’s kein Geld. Da gilts dem Volk den Gürtel enger zu ziehen.

      Das ist ja hier nicht wie in Westdeutschland. Da importieren die in solcher Lage auf Teufel komm raus! Für ihre Westmark kriegen die überall alles mit Handkuß.

      Aber hier im Osten sitzt uns der Russe im Nacken, die haben ja auch nie was zu fressen. Und unser Ostgeld? Bloß Dekoration“, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.

      Dann krachten plötzlich auf der Station in Abständen Schloss und Riegel. Alle lauschten. Der Lärm kam näher.

      Totila legte das Ohr an den Türspalt.

      Die andern guckten halb neugierig, halb verunsichert.

      Der Volkswirt, der mit der Halbglatze, saß auf seinem Hocker, starrte seitwärts zur Tür, pustete durch die Lippen und hob die Schultern. „Jetzt um diese Zeit?, fragte er und sah dazu die andern an. Die blickten ratlos zurück. Letztlich wurde ja alles was aus dem alltäglichen Einerlei fiel nicht ohne Grund in weiterem Sinne als bedrohlich betrachtet.

      Dann flog auch ihre Türe auf. Der Volkswirt machte Meldung. Der Kalfaktor stellte einen gefüllten Wassereimer in die Zelle und drückte dem Volkswirt zwei Wurzelbürsten in die Hand. Schon fiel die Türe wieder ins Schloss und zugleich klirrte der Riegel ins Mauerwerk.

      Sebastian und Totila besahen sich das Ganze mit Erstaunen. „Was ist denn das“, fragte Sebastian und trat zum Wassereimer. „Sollen wir das trinken?“

      Günter, der Volkswirt, lachte. „Nee“, sagte er, „damit wird der Zellenboden geschrubbt“, und hielt dazu die beiden Wurzelbürsten mit ausgestreckten Armen von sich.

      „Greift zu“, sagte er, an die beiden Jungen gewandt. „Etwas schrubben hilft der Gesundheit.“

      Sebastian betrachtete diesen Boden zum ersten Mal wirklich.

      „Das ist ein stabiler Dielenboden“, erklärte der Ingenieur „massive Bohlen, das sieht man schon an der Breite der einzelnen Dielen. Dieser Boden hier“, und er stampfte einige Mal mit dem Fuß auf, „ist wahrscheinlich so alt wie der ganze Bau. Und wir sorgen nun dafür, dass diese alten festen Bohlen in relativ kurzer Zeit verfaulen werden.“

      „Wieso das?“, fragte Sebastian und besah sich diese Dielen genauer.

      „Was siehst du?“, fragte Klaus, der Ingenieur.

      „Was soll ich sehen“, sagte Sebastian, „Holzdielen …

      „Und“, fragte Klaus weiter.

      „Ja, die sind ziemlich sauber, im Gegensatz zu den verschmierten Wänden hier überall.“ Dann sah er den Ingenieur an und lachte. „Ich weiß schon“, sagte er.

      Der Ingenieur nickte. „Sauber“, sagte er, „das ist richtig. Alle drei Wochen gibt’s so’n Eimer Wasser und anschließend kommen die um nachzusehen, ob der Boden auch wirklich sauber ist. Das Problem aber bleibt, dass der größte Teil des Wassers in den Dielen versickert. Am Ende ist nur noch ein Viertel Eimer Restwasser übrig, um von Schmutz nicht zu reden.“

      „Na uns soll’s Recht sein“, sagte Totila, „, wenn dieser Knast von unten her allmählich verfault.“

      Sebastian winkte ab. „Nicht unsere Sache“, sagte er, „, aber ich mach’ das, ich werde schrubben.“ „Erst ausfegen“, bemerkte Totila und griff sich den Handfeger, der mit einer Schaufel stets in der Zelle blieb.

      „Ich fange am Fenster an“, erklärte Sebastian.

      Totila nickte und begann dort zu fegen.

      Sebastian griff sich indessen eine der Bürsten, trug den Wassereimer Richtung Fenster und begann auf dem Boden kniend die Dielen mit der harten Wurzelbürste zu bearbeiten.

      Die beiden Älteren saßen auf ihren Hockern und grinsten.

      „So ist’s richtig“, sagte Klaus, der Ingenieur, „Jugend voran!“

      „Lästert ruhig“, reagierte Sebastian ohne aufzublicken, „mir macht das nichts.

      Ich kann mich hier ein bisschen bewegen.“

      „Die hintere Hälfte schrubbe ich“, meldete Totila sich, der die Zelle inzwischen ausgefegt hatte. „Zwei Bürsten sind zwar da, aber nur ein Eimer.“

      „Da musst du die Waschschüssel nehmen. Das meinen die vielleicht auch und anschließend auswaschen“, sagte Sebastian.

      „Alles mit kaltem Wasser?“

      „Na ja, dann lass es halt. Kannst dann ja gleich die andere Hälfte schrubben.“

      Nachdem alles fertig war, stand Sebastian mitten in der Zelle und schüttelte den Kopf. „Ich hatte gedacht man würde zum Wasser aufnehmen noch einen Scheuerlappen brauchen, also um nach zu wischen. „Das ist aber wirklich so wie ihr gesagt habt“, wandte er sich an die beiden Älteren. „Im Eimer der winzige Rest und das andere ist einfach verschwunden. Der Boden sieht richtig trocken aus.

      „Und sauber“, ulkte Günter der Volkswirt.

      „Hat auch was“, antwortete Sebastian. „Man sieht nachts die großen Kakerlaken besser.“

      Der Ingenieur lachte. „Wir tun ja auch alles, damit’s denen unter den Dielenböden hier richtig anheimelnd geht.

      „Die haben die Ausmaße eines kleinen Fingers“, warf Totila


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