Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
feucht nächtlicher Dunst auf. Er rollte sich zusammen und versuchte einzuschlafen.
Das schrille Geräusch von Eisen auf Eisen riss bereits um sechs Uhr die Gefangenen wieder aus dem Schlaf. Am Tage auf dem Bett zu sitzen, geschweige denn zu liegen, war laut Zuchthausordnung streng verboten.
Kapitel 3
Als am nächsten Morgen Sebastian als Neuer dran war nach der Zählung und vor der Frühstücksausgabe den randvollen Kübel vor die Tür auf den Gang zu stellen, stand er daher plötzlich dem Wilhelm Hankel aus Hohenleipisch gegenüber, mit dem er sich in der Spreestraße für einige Tage eine Zelle hatte teilen müssen. Beide sahen sich verblüfft an.
Hankel, ein kleiner Fuhrunternehmer Mitte vierzig, mit Frau und fünfzehnjähriger Tochter, der im wesentlichen Stückgut im Auftrag einiger weniger Kleinunternehmer mit Pferd und Wagen zum Bahnhof und zurück transportierte, sowie nebenbei Umzüge abwickelte oder sein geschmücktes Gespann für Vatertagsausflüge, aber auch zum 1.Mai-Umzug, vermietete.
„Was machst du denn hier?“, fragte Sebastian immer noch erstaunt. „Ich hätte gewettet du bist längst zu Hause.“
Hankel grinste nur. „Zwölf Jahre“, sagte er, „enteignet, alles weg und die Familie aus dem Haus gejagt. Bin jetzt ’n armer Mann …“ Dann kam aber auch schon der Wachtmeister und reden auf dem Gang war strengstens untersagt. „Bis nachher“, sagte Hankel noch, ehe er sich in seine Zelle verzog.
Auch Sebastian trat eilig in die seine zurück.
„Nee“, sagte er dann kopfschüttelnd, „unglaublich! Das ist ja ’n Ding. Ich dachte zuerst wirklich ich seh’ nicht richtig.“ Und wieder sah er zu Boden und schüttelte den Kopf. „Der Hankel, Wilhelm Hankel hier neben uns“, und er wies rechter Hand auf die Zellenwand. „Ein kleiner Fuhrunternehmer aus Hohenleipisch mit einem Pferd. Das ist einer, den ich aus der Spreestraße kenne.
Zwölf Jahre! Und ich glaubte den längst zu Hause.“ Dann lief Sebastian ein paar Mal die wenigen Schritte zwischen den Betten auf und ab und ließ sich schließlich auf einen Hocker am Tisch fallen. „Also ich weiß“, sagte er dann, „ich weiß, wir sind ganz bewusst gegen diesen Staat hier vorgegangen … dass wir verraten wurden ist wieder eine andere Sache. Aber dieser Wilhelm Hankel, der hat ja nie auch nur daran gedacht sich in irgendeiner Form aufzulehnen.
Und jetzt zwölf Jahre und die Familie aus dem Haus gejagt. Das verstehe wer will …“
Klaus, der Graumelierte, lachte kurz. „Du sagst von dir, du hättest bewusst gehandelt, dann müsstest du aber deinen Gegner auch kennen. Die Verblüffung über das Geschehen hinsichtlich dieses Hankel sagt jedoch, dass du das nicht verstehst. Ich meine dieses sozialistisch-kommunistische System. Dein Zellengenosse aus der Spreestraße, der kleine selbständige Fuhrunternehmer, war in der angestrebten Gesellschaftsordnung ein gerade noch geduldetes Ungeziefer, um hier mal deren eigenen Wortschatz zu verwenden, also ein in der Wolle gefärbter Kleinbürger. Wenn man die los werden kann, dann nimmt man halt jede sich bietende Gelegenheit wahr.“
„Du hast sicherlich Recht“, sagte Sebastian, „Nicht die angebliche Straftat bestimmt dieses verrückte Urteil, sondern Wilhelm Hankel selbst ist es, eine bürgerliche Existenz, ein Kleinunternehmer, ein Klassenfeind.“
„Ja, ganz richtig.“ Der Graumelierte nickte zustimmend. „Das ist aber nicht immer leicht zu erkennen“, fügte er hinzu, „eine Menge Ausnahmen verwirren das Bild, denn man braucht vielerorts diese selbständigen Existenzen ja noch.“
„Aber zwölf Jahre für Wilhelm Hankel? Ich hätte jede Wette abgeschlossen“, erklärte Sebastian, „dass der sehr bald wieder draußen sein würde. Damit hatte ich ihn zu trösten versucht. Höchstens ein paar Monate, hatte ich ihm gesagt, damit die Untersuchungshaft gerechtfertigt wird.“
„Es ist schon erstaunlich“, reagierte Günter, der Rundgesichtige mit der Halbglatze, „dass man immer wieder sprachlos ist, über das, was die so anrichten.“
„Die schneiden sich doch dauernd ins eigene Fleisch“, warf Totila ein.
„Ich denke nicht“, erklärte Klaus, „, dass dein Hankel Fleisch von ihrem Fleische ist, indem der nämlich persönlich verantwortete Arbeit leistete, damit für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie selbst aufkam, also selbständig war. Dann passt so einer eben nicht ins kollektivistische Konzept und ist unerwünscht. Aber wie ich schon sagte“, wandte er sich an Sebastian, „man braucht solche Menschen eben noch, wenn auch nur für eine Übergangszeit wie es in der Partei unter der Hand heißt. Dein Hankel war offensichtlich bereits verzichtbar.“
„Ja schön und gut“, mischte wieder Günter sich ein, „aber inzwischen sind wir schon neugierig, wer denn nun dieser Wilhelm Hankel aus der Nebenzelle ist, den du hier dauernd erwähnst. Was war denn dem so Schlimmes geschehen, wenn er doch nichts getan hat …“
„Geschehen ist richtig“, sagte Sebastian. „Ihm war was geschehen und nicht nur ihm. Ich hatte nach seinen ersten Erzählungen damals, also weshalb er dort in der Spreestraße saß, auch nicht verstehen können, wieso ihn eine Kneipenzeckerei, von Keilerei konnte keine Rede sein, mit drei Rotarmisten, in die Cottbusser Stasizentrale bringen konnte. Ich begriff erst gar nicht was die von ihm gewollt hatten, was sie ihm vorwarfen.“
„Na dann erzähl’s doch mal, vielleicht begreifen wir’s“, forderte der Graumelierte.
Sebastian stand wieder am Fenster und blickte von dort in die Zelle zurück.
„Ich wollte doch nur klar machen“, sagte er, „dass das Ganze schwer zu verstehen ist.“
„Dann fang’ schon an“, sagte wieder Klaus, der auf einem Hocker saß und seinen Ellenbogen auf der Tischkante abstützte, „wir sind ja nicht dumm, vielleicht versteh’n wir’s sogar.“
„Von Dummheit hat niemand was gesagt“, konterte Sebastian grinsend. „Es geschah auch nicht in Berlin“, sagte er dann, „sondern in Hohenleipisch, einem Landstädtchen. Hier in der Gegend kennt das vielleicht noch mancher, aber sonst? Also ein Sonnabendabend im Spätherbst.Eine Kneipe in der Nähe einer sowjetischen Kaserne mit Munitionslager, das es auch bei Hitler schon gab.
Hankel und andere, vor allem jüngere Stammgäste, bevölkerten die Gaststube und einige wie eben auch Hankel, saßen beim Wochenendskat, als drei Rotarmisten, von der Bevölkerung Muschiks genannt, das Lokal betraten. Im Prinzip nichts besonderes, der Wirt und auch die Gäste kannten das. Die Russen waren von Kameraden aus der Kaserne geschickt worden, um heimlich Schnaps zu besorgen. Die Muschiks durften die Kaserne ja nie verlassen und schon gar nicht um Schnaps zu kaufen. Das wusste ja jeder, natürlich auch der Wirt. Der aber drückte stets ein Auge zu. Keiner hatte was dagegen. Aber diesmal hatten die Muschiks offensichtlich schon in der Kaserne einiges über den Durst getrunken. Und so bestellten sie auch gleich an der Theke „Schto Gramm“, die sie unverzüglich in sich hineinschütteten und das nicht nur einmal. Dem Wirt schwante wohl schon Ungemach. Doch normalerweise, hatte Hankel erzählt, spielte sich das nie so ab wie an diesem Abend. Und so weigerte der Wirt sich schließlich den Russen weiterhin Schnaps auszuschenken. Das ärgerte die wie zu erwarten und sie wurden aggressiv, beschimpften den Wirt.“
„Und wie das so ist“, sagte Sebastian, „jetzt fühlten die Deutschen sich beleidigt.
Ihr Wirt sollte ein Faschist sein? Das ginge denn wohl doch zu weit. Einer der deutschen Gäste“, erzählte Sebastian die Geschichte des Wilhelm Hankel weiter, „ein junger Bursche, sei vor zur Theke gegangen und habe auf die Russen eingeredet und begonnen sie langsam auf den Ausgang hin abzudrängen. Plötzlich habe einer der Iwans ein Messer gezogen und damit dem Jungen das Jackett über dem Rücken aufgeschlitzt. Gleich darauf habe der Wirt den augenblicklichen Feierabend verkündet. Die Gäste sollten das Lokal verlassen: Die Russen mit der von ihnen erstandenen Schnapsflasche vorne raus, durch die Tür des Lokals und die Deutschen nach hinten über den Hof auf die Straße.
Noch auf dem Hof hatten sie sich, in Erwartung der Russen auf der Straße, mit Zaunlatten