Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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in die Zelle. „Alle beide“, sagte er dazu ohne die Meldung der Zellenbelegung abzuwarten, und schon krachte auch hinter ihnen die schwere Türe wieder ins Schloss.

      Beide standen dann mit ihren Bündeln in den Armen zwei älteren Schicksalsgenossen gegenüber und alle vier beäugten sich gegenseitig. Es stimmt also, die haben noch Haare auf dem Kopf, stellte Sebastian erleichtert fest. Und Totila fielen die Worte ihres Anwalts ein: Bloß keine Revision! Das kann nur schlimmer werden …` Jetzt sind wir Scheinrevisioner, sagte er sich. Und laut erklärte er: „Zum Glück diesmal keine Zelle für Lebenslängliche. Da waren wir nämlich auch schon.“ Und beide legten ihre Bündel erst mal auf dem Fußboden ab „Na, nun sind wir ja wieder komplett“, begrüßte sie der, der die Meldung versucht hatte.

      „Lebenslängliche sind wir hier nicht, aber was habt ihr Kinder denn mitgebracht?“

      Sebastian überhörte die leichte Herablassung. „Zehn Jahre“, antwortete er, überzeugt nicht eben von einem Pappenstiel zu reden.“

      „Das geht ja schon“, sagte der Ältere mit den kurzen graumelierten Haaren, dem schmalem straffen Gesicht und einer leichten Hakennase.

      Sebastian ahnte sogleich, dass hier der Höhe einer Strafe eine ganz eigene Bedeutung beigemessen wurde und dass es sich bei den beiden auch um Politische handeln musste.

      „Du meine Güte“, reagierte der andere der beiden, „zehn Jahre“, sagte er, „da ist eure Jugend ja so ziemlich futsch.“ Er erschien äußerlich und in der ganzen Erscheinung als das genaue Gegenstück des großen Hageren mit dem schmalen Gesicht. Ihn zeichnete eine fortgeschrittene Stirnglatze aus, ein rundliches Gesicht und eine mehr füllige Gestalt.

      „Was heißt denn: Ist die Jugend dahin …“, fragte Sebastian. „Es gibt Verhältnisse und Umstände, ihr kennt die ja auch“, wandte er sich an die beiden Älteren, „die hauptsächlich in der Abwehr von Zumutungen und in Anfällen von Verzweiflung bestehen. Das gibt es“, sagte er und fügte hinzu: „ So was endet dann eben manchmal auch in solchen Verliesen hier“, dabei wies er mit der offenen Hand in den Raum.

      „Es scheint wenigstens so, als ob hier jemand erwachsen werden will“, sagte der mit dem schmalen Gesicht, als er sich Sebastians Auslassungen lächelnd angehört hatte.

      Der fragte nun dagegen: „Was habt ihr denn mitgebracht?“

      „Zwölf und Fünfzehn Jahre“, bekam er zur Antwort.

      „Da habt ihr aber auch ganz schön was zu buckeln.“

      „Wie’s kommt so kommt’s eben“, antwortete der mit dem schmalen Gesicht.

      „Aber nun schnappt euch mal die Bündel da und räumt euren Krempel ein. Die beiden unteren Betten sind vergeben. Ihr müsst dann mit oben vorlieb nehmen.“

      Eine dieser Zellen ähnelte der anderen und so wussten die beiden mit dem Einräumen ihrer Sachen inzwischen Bescheid.

      „Seid ihr schon länger hier?“, fragte Totila.

      „Wie sollten wir denn?“, antwortete der Schmalgesichtige, „wenn wir noch in einer Revisionszelle sitzen.“

      „Na, Revision“, warf Totila ein, „, die könnt ihr ja auch nach zwei oder drei Jahren eingelegt haben.“

      „Seht an was für’n cleveres Kerlchen!“ Der mit den graumelierten Haaren lachte.

      „Hat sich vergaloppiert und sofort einen Ausweg gefunden. Was ist lange?“, sagte er dann. Wir sind rund drei Monate hier. Ist das viel oder wenig …? Aber was ist das schon gegen fünfzehn oder auch zehn Jahre? Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich?“

      „Achtzehn“, sagte Sebastian, „und Totila hier“, dabei wandte er sich kurz dem Freund zu, „ist neunzehn und hat sieben Jahre. Wir beide sind ein Fall und von einem Freund verraten worden.“

      „Wie, was für ein Freund?“

      „Also genauer, ein alter Freund von mir, leider …“, sagte Sebastian und zuckte dazu mit den Schultern.

      „Ja, ja, alte Freunde. Das ist so eine Sache, kommt aber öfter vor“, erklärte der mit der Stirnglatze. „Was hat der denn verraten?“

      „Wir haben für Gehlen gearbeitet.“

      „Und der Verräter auch?“

      „Ja klar, der auch.“

      „Also ich muss schon sagen“, mischte der Graumelierte sich ein, „Gehlen …das hätte ich euch gar nicht zugetraut.“

      „Andere auch nicht“, sagte Sebastian.

      „Na schön, und jetzt hockt ihr hier oben auf Station vier. Und du“, wandte er sich an Sebastian, „bist höchstwahrscheinlich der jüngste Gefangene im ganzen Bau.“

      „Mag sein“, sagte der, „aber das ist nur vorübergehend so. Und Station vier hier oben ist doch besser als weiter unten. Dort kann man nicht aus dem Fenster sehen.“

      „Na ja wie man’s nimmt“, sagte der Graumelierte. „Doch nun wollen wir uns erst mal bekannt machen. Also ich bin Klaus uud der Kollege hier oder besser Schicksalsgenosse“, und er klappste dem mit der Halbglatze, der dort gegen einen Bettpfosten lehnte, auf die Schulter: „ Das ist Günter. Tja“, fuhr er fort, „der vierte Stock hier? Keiner unter fünf Jahren …“

      „Haben wir schon gehört“, warf Totila ein, „und deswegen auch die Lebenslänglichen hier oben?“

      „Richtig. Und bis auf drei Mörder, einen Totschläger und zwei die wegen eines Raubüberfalls sitzen, gibts hier oben nur Politische. Und unter den Lebenslänglichen, soweit ich gehört habe, kein einziger Mörder.“

      „Alles Politische?“, fragte Totila verwundert.

      Klaus, der mit den graumelierten Haaren, fuhr mit der Hand durch die Luft: „Alles!“, bekräftigte er, „ich hab’s vom Kalfaktor, außer zwei oder drei Buntspechten, aber die zählen meiner Meinung nach mindestens zu den Halbpolitischen, schon wegen der sehr hohen Strafen für’n paar Kilo Blei oder Kupfer.“

      Totila lachte und schüttelte den Kopf. „Buntspechte?“, sagte er. „Eine kuriose Bezeichnung.“

      „Kurios?“, fragte Klaus, „kurios sind erst die Strafen! So zwischen zehn und fünfzehn Jahren.“

      Sebastian pfiff kurz durch die Zähne. „„Donnerwetter! Warum denn das?“

      „Buntmetalldiebe schaden dem sozialistischen Wirtschaftsaufbau der DDR und nutzen damit dem kapitalistischen Klassenfeind im Westen, an den das Buntmetall verkauft wurde.“

      „Aha. Natürlich. Aber wo haben die das Buntmetall her?“

      „Bleirohre, Kupferkabel, Messinggeräte … aus den Ostberliner Ruinen“, zählte Günter, der mit der Halbglatze, auf. „Das liegt dort noch tonnenweise unter Trümmern. Das wissen die Parteibonzen auch, nur kommt man da nicht so ohne weiteres ran.“

      Sebastian, der sich inzwischen auf einem Hocker niedergelassen hatte, nickte dazu. „Klar“, sagte er, „das mit den Trümmern in Berlin und den darunter verschütteten Bleirohren und so … das kann man sich vorstellen, doch darauf gekommen wäre ich nie. Woher wisst ihr das alles?“

      „Zum einen bin ich Ostberliner und zum anderen hat mir das einer erzählt.

      Buntspechte sind ja in aller Regel von der Stasi in die Mangel genommen worden.“

      „Das nur zu den Buntspechten“, mischte Klaus sich wieder ein. „Hier spielt sich zur Zeit eine noch viel schlimmere Geschichte ab …“ „Ich möchte gar nicht immer daran denken“, winkte Günter mit verzogenem Gesicht kopfschüttelnd ab.

      „Möchte nicht immer daran denken“, äffte Klaus den Zellengenossen nach.

      „Was meinst du denn woran der denken muss!“

      „Hör auf damit“, und Günter hob abwehrend die Hand.

      Sebastian


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