Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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Kopfbewegung auf Günter, der inzwischen auf einem Hocker saß, „der wird immer weinerlich, wenn mal die Rede darauf kommt und möchte am liebsten in seinen Strohsack kriechen. Es handelt sich hier um einen Fluglehrer, der schon im Krieg die Me109 geflogen hatte und dann hier bei Cottbus als Fluglehrer Volksarmeepiloten auf der sowjetischen Mik15 schulte und dabei mit einem westlichen Nachrichtendienst in Verbindung stand, soviel wir vom Kalfaktor wissen, der den täglich zur Rauchpause in die Spülzelle begleitet. Bekannt ist daher auch, dass er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Wie er aufgeflogen ist, weiß allerdings keiner.“

      Wahrscheinlich redet der nicht darüber“, fügte Klaus hinzu und hob leicht die Schultern. „Es heißt jedenfalls er hat Pläne dieser Mik15 dem Westen zukommen lassen.“

      „Ein Todeskandidat …? Menschenskinder, damit hab’ ich hier nicht gerechnet.

      Das ist ja ’n verdammter Mist!“, schimpfte Sebastian merklich geschockt.

      Auch Totila blieb vom Schock nicht verschont. „Es gibt also wirklich Todesurteile?“, fragte er.

      „Wieso wundert dich das?“, fragte Sebastian etwas erstaunt den Freund. „Ich hab’s nur hier nicht erwartet“, fügte er hinzu.

      „Na ja, draußen hört man so was unter der Hand, aber nie offiziell im Radio oder liest davon in Zeitungen.“

      „Ich weiß nicht“, sagte Sebastian, „wir hatten zu Hause immer RIAS eingestellt.

      Und wer liest schon DDR- Zeitungen? Todesstrafen in der DDR, das ist doch nichts Neues. Der Artikel 6 reicht ja schon von einem Jahr bis Todesstrafe.

      Totila nickte dazu. „Wie lange ist denn der Fluglehrer schon hier“, fragte er dann

      „Wissen wir nicht“, antwortete Klaus. „jedenfalls länger als wir“, dazu wies er mit der Hand auf Günter und sich. „Wir sind ja zusammen hergekommen.“

      In eine längere Pause hinein, in der alle vor sich hin schwiegen, erklang die nachdenkliche Stimme des Schmalgesichtigen:“Hinrichtungen werden in Dresden vollzogen“, erklärte er. „ Eine Hitlerguillotine steht dort ja noch“, und er schüttelte sich. „Man kriegt richtig ’ne Gänsehaut …“ Niemand äußerte sich dazu. Jedem ging diese Situation durch den Kopf und alle starrten vor sich hin.

      Der kann ja auch nur verraten worden sein, überlegte Sebastian.

      Vielleicht war der leichtsinnig und hat sich so selbst verraten“, äußerte Totila sich, als hätte er Sebastians Überlegungen erraten.

      Der ging wieder die wenigen Schritte von der Tür zum Fenster hin und zurück.

      „Ist durchaus möglich“, bestätigte er seinem Freund. „Man muss ja auch davon ausgehen, dass in den westlichen Nachrichtendiensten überall ‚Kundschafter des Friedens‘ sitzen.“

      „Nur mit dem Unterschied, dass diese Kundschafter keine Todesstrafe zu erwarten haben“, wandte Günter ein, „ganz gleich wo sie sitzen.“

      „Das ist der gravierende Unterschied“, bestätigte Klaus.

      „Aber dafür haben wir doch den humanen Strafvollzug“, hielt Sebastian grinsend dagegen. „Den haben die beim Klassenfeind nicht!“

      Schließlich drang vom Eingangsbereich unten das hohle Scheppern von Kesseln herauf, die über einen Steinboden gezogen wurden. In kurzen Abständen erklang dann auch bald das Krachen von Schlössern.

      „Mittagessen!“, rief Günter, sprang vom Hocker hoch und hielt das Ohr an den Türspalt.

      „Das wäre das erstemal, dass wir überhaupt was zu essen kriegen“, ließ Totila sich vernehmen und musterte dazu seinen Blechnapf im Regal.

      Auch Freund Sebastian tat automatisch ein Gleiches. „Menschenskinder“, wunderte er sich dann, „wir sind doch erst seit gestern hier und mir ist’s als wären’s mindestens acht Tage.“

      „Na ganz so verschwenderisch verhält sich mein Zeitempfinden nicht“, erklärte Totila, „aber dass wir erst seit gestern hier sein sollen, kann auch ich nicht begreifen.“

      „Wartet’s mal ab“, gab Klaus, der Graumelierte, zu bedenken, „das ändert sich bald. In spätestens vier Wochen hat sich das gegeben. Es sind halt die neuen Eindrücke, die durchaus nicht alltäglich und sehr nachhaltig sind.“

      Günter, der sich weiterhin an der Türe aufhielt, steckte, als das Schlösserkrachen lauter wurde, die Nase in den Türspalt. „Wieder mal Weißkohlsuppe“, sagte er, „das riecht man schon durch den ganzen Bau.“

      „Das gibt’s hier nur“, klärte Klaus die beiden Neuen auf. „ Entweder zerkochte Bruchnudeln mit brauner Mehlsoße oder Weißkohlsuppe: ein paar Weißkohlblätter in trübem Wasser mit einigen Mehlklümpchen, alles ohne Salz.“

      Sebastian winkte nur müde ab. „Das kennt man doch schon aus der Spreestraße.“

      Schließlich und endlich war auch Station vier mit der Essensausgabe dran. Das Krachen der Schlösser und Riegel kam näher und wurde lauter. Alle vier in der Zelle standen mit ihren Blechschüsseln bereit, als auch ihre Tür aufflog: Zwei Kalfaktoren schleppten einen zerschrammten Militärthermoskessel vor die Tür.

      Ein dritter schöpfte daraus mit einer Kelle in die hingehaltenen Aluminiumschüsseln. Dann warf auch schon der Wachtmeister die Türe wieder ins Schloss.

      „Der erste Schlangenfraß im Zuchthaus Cottbus“, sagte Totila, rührte in der Schüssel und begann dann zu essen.

      Alle löffelten die Suppe bis auf den letzten Rest aus ihren Näpfen.

      „Ich denke, so könnte Abwaschwasser schmecken“, erklärte Sebastian und legte den Löffel auf den Tisch neben seinen leeren Napf.

      „Meckert nicht“, mahnte Klaus als der Ältere, „das bringt gar nichts. Ihr werdet so was noch jahrelang essen müssen.“

      „Das ist schon richtig“, stimmte Sebastian zu. „Bei der Stasi hatte ich mir schon am ersten Tag vorgenommen alles bis auf das letzte Krümel zu essen, ganz gleich was die mir vorsetzen würden. Das ist ja jetzt nicht anders. Wer will hier schon krank werden?“, fragte er und sah sich in der Zelle um.

      Nachdem schließlich alle ihre Näpfe mit Wasser aus der Kanne gereinigt und dieses dann in den Eimer geschüttet hatten, saßen sie entweder auf ihren Hockern, starrten vor sich hin oder liefen in Gedanken versunken die wenigen Schritte zwischen den Betten von der Tür zum Fenster und wieder zurück, hielten manchmal am Fenster an, blickten durch die Gitter hinaus und nahmen dann die Wanderung wieder auf. Jeder der vier langjährig Verurteilten hatte ja die Vielschichtigkeit seiner ganz eigenen Welt draußen lassen müssen. Dort in den vollgestellten Zellenschächten schrumpfte dann in der Regel die Persönlichkeit jedes einzelnen auf das Minimum ihres Selbsterhalts. Aber davon wussten die beiden Freunde, trotz ihrer Feuertaufe in den Stasi- Katakomben, noch nichts. Sie waren über diese Schwelle in eine Welt getreten, über die sie nur vom Hörensagen gewusst hatten und über die in der Welt, aus der sie kamen, ängstlich geschwiegen wurde: Hinter ihnen geht einer, hinter ihnen steht einer, dreh’n Sie sich nicht um …! Und die verängstigten Schweiger gehorchten und sahen sich nicht um …

      Der Tag war zu Ende gegangen. Sebastian blickte wieder wie so oft durch die Gitter nach draußen. Ganz unten vom Hof stieg allmählich Dunkelheit wie grauer Dunst auf, der vom Scheinwerferlicht aus dem Wachturm zerschnitten wurde. Licht, das die weißen Zuchthausmauern bis an die Zellendecke zurückwarfen, um dort als Schattenriss die Gitterstäbe abzubilden. Gitter wohin man auch sieht, sagte Sebastian sich, selbst noch als Schatten an der Wand.

      Die anderen in der Zelle schliefen bereits tief atmend auf ihren Strohsäcken, auch sein Freund Totila. Zählung und Einschluss fanden im Sommer um acht Uhr statt. An klaren Tagen schien um diese Zeit noch die Sonne und Amseln sangen. Doch tief hängende graue Wolken, aus denen seit Wochen fast ohne Unterbrechung Regen fiel, bedrückten das Land, verwandelten Felder in Morast und ließen sonst harmlose Bäche ganze Weideflächen überfluten. Grünfutter konnte nicht eingebracht werden, das Vieh


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