Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
„Sechs Betten in so ’nem kleinen Stall? Vor hundert Jahren, als dieser ganze Kasten gebaut worden ist, waren das alles Einzelzellen.“
„Aber ständig Einzelhaft?“, warf Hannes Kretschmann fragend ein.
„Unsinn!“, wehrte Sebastian ab. „Zu bestimmten Tageszeiten standen alle Zellen offen. Jeder konnte jeden besuchen. Das kennt man doch aus Filmen, jedenfalls im Westen. Außerdem, vier Mann oder gar sechs und dieser kleine Kübel dort“, dazu wies er mit der Hand in die Ecke vor der Tür. „Vor hundert Jahren ging’s den Häftlingen auf alle Fälle besser als uns hier. Damals mussten nicht vier oder gar sechs Leute wie jetzt in den unteren Stationen, dieses Ding da hintereinander benutzen.
„Das ist richtig“, stimmte Herbert Fischer zu. „ Auch die Strohsäcke hier“, und er schlug mit der flachen Hand darauf, sodass eine feine Staubwolke durch die Zelle zog. „Da kann man sich ja gleich auf die blanken Bretter legen.“
„Die ranzigen Decken, auch das eine Zumutung“, ergänzte Totila und roch daran. „Stinken genau so nach altem Schweiß wie die bei der Stasi“, und er warf sie wieder zurück auf den Strohsack. „Die sind kurz vor dem Verfaulen.“
„Aber jetzt mal ehrlich“, ließ Sebastian sich hören, „hat denn jemand von euch hier was anderes erwartet?“
„Ich hab’ überhaupt nichts erwartet“, antwortete Herbert Fischer „Aber du hast doch wenigstens gewusst was hier los ist?“, wandte Sebastian sich an Hannes Kretschmann.
„Ja schon“, sagte der, „aber gegen früher hat sich’s doch etwas gebessert.“
„Wer nichts erwartet, kann auch nicht überrascht werden“, erklärte Sebastian und ging dann wieder langsam die wenigen Schritte Richtung Fenster.
„Beim Russen“, sagte Totila, „, soll’s noch schlimmer sein.“
Sebastian blickte durch die Gitterstäbe nach draußen in den Frühsommermorgen, nah und doch unerreichbar fern zugleich. Er bestaunte das Schattenspiel des Sonnenlichts in dem von leichtem Sommerwind bewegten jungen Laub der alten Kastanienbäume, als sähe er das zum ersten Mal. Und er erinnerte sich an eine ähnliche Erfahrung, etwa drei Jahre zurück.
Es war eine Winternacht. Er fuhr mit seinem Fahrrad auf der Chaussee von Altdöbern nach Großräschen und kam vom Besuch zweier Schwestern und deren Freundin. Zu später Stunde hatte sich dann noch der Freund einer der Schwestern eingefunden und war mit dieser ziemlich bald ins Bett gefallen. Er selbst hatte dann im dunklen Zimmer auf einem Stuhl gesessen, der Freund mit Freundin in einem Bett, die beiden übrigen Mädels in einem anderen. Eine peinliche Situation. Er saß schließlich dort wie bestellt und nicht abgeholt. Und als die beiden Mädels schließlich meinten, er solle doch zu ihnen ins Bett kommen, war er gegangen.
Doch als er unten die Tür des Hauses öffnete, blickte er in das helle Licht eines großen, runden, fast weißen Mondes. Alle Gegenstände warfen scharfe schwarze Schatten in eine glitzernde Schicht unberührten Neuschnees. Er war überrascht und einen Moment lang scheute er davor zurück diese glitzernde Zauberwelt zu betreten. Als er dann doch in den watteweißen Schnee trat, knirschte der leicht in der tiefen Stille dieser mondhellen Nacht.
Der Zauber war geblieben, als er mit seinem Fahrrad durch den noch unberührten Schnee der im Mondlicht glitzernden Chaussee gerollt war. Links und rechts verschneiter Kiefernwald in blendendem Weiß mit tiefschwarzen Schatten. Ein Wald voller noch unerzählter Märchen, durch den er damals gefahren war, ganz neu, als sähe er das alles zum ersten Mal.
Dann wieder der Blick durch die Gitterstäbe auf die Zuchthausmauer mit den im Sonnenlicht glitzernden bunten Glasscherben auf der Schräge, die alten Kastanienbäume dahinter und die Backsteinvilla des Anstaltsleiters. Dann wandte er sich um und sah auf die zerkratzte eiserne Tür mit dem Spion darin und den Kübel in der Ecke in seinem rostigen Gestell, sah die hölzernen Doppelstockbetten mit den zerschlissenen Strohsäcken und die Elendsgestalten die dort auf ihren Schemeln hockten, dachte an die vielen Jahre die noch vor ihm lagen. Doch eines Tages, sagte er sich, eines Tages wird das hier vorbei sein. Die Sonne, den lauen Wind im Laub alter Bäume, den Mond, den Schnee und die Wälder dort draußen gabs ja noch und wird es immer geben.
„Ja“, sagte er schließlich, „wir werden uns hier einrichten müssen, ehe die mit dem Mittagessen anrücken.“ Damit trat er an sein Bett.
„Du hast Recht“, pflichtete Totila ihm bei und tat ein Gleiches.
Beide hatten die Betten nur erst mit ihren Bündeln belegt, die sie nun auseinander kramten. Blechnapf, Aluminiumlöffel, Holzzahnbüste, Tonseife im Zelluloidschälchen …all das musste in die Fächer eines rostfarbenen Holzregals an der Wand schräg über dem Kübel eingeräumt werden.
Sebastian stieß dabei mit dem Fuß gegen einen Hocker, trat einen Schritt zurück und zeigte auf die darauf stehende Schüssel. „Da sollen wir uns alle waschen?
Und das Handtuch?“
„Da unten“, sagte Hannes und wies auf die Wand unter dem Regal, „da sind doch Haken …“
„Ah ja, aber direkt neben dem Kübel?“
„Ja wo sonst?“ Hannes sah sich demonstrativ um. „Ist ja kaum Platz in so ’nem vollgestellten Käfig.“
„In der Spreestraße“, erklärte Totila, „wusste man jedenfalls, dass man dort nicht jahrelang bleiben würde, aber hier?“
Doch dann hörten sie Schritte vor der Tür, die gleich darauf krachend aufflog.
Ein Häftling mit Armbinde neben dem Wachtmeister fragte mit einer Handbewegung in die Zelle: „Alle lebenslänglich?“, und grinste ganz leicht dazu.
Die Vier sahen den Kalfaktor verständnislos an.
„Nein, wieso?“, meldete Totila sich verblüfft.
„Na die rote Scheibe draußen an der Tür. Das hier ist ’ne Zelle für Lebenslängliche“, klärte der Kalfaktor die vier Neulinge auf.
„Ich hab’ sieben Jahre“, sagte Totila. „Ich sechs“, erklärte Hannes. „Zehn“, sagte Sebastian.
Der Kalfaktor winkte ab. „Ist ja gut! Rafft eure Plünnen zusammen, ihr kommt in ’ne andere Zelle.“
„Hat jemand Berufung eingelegt“, ließ der Wachtmeister sich hören.
Nach einem Moment erneuter Verblüffung meldete Sebastian sich: „ Ja, ich“, sagte er und hob dazu die Hand, also ich meine wir“, fügte er berichtigend hinzu und deutete auf Totila. Unser Rechtsanwalt hat Revision beantragt.“
Der Wachtmeister nickte und notierte die Namen der beiden in einem Block den er bei sich trug. „Na machen Sie schon „, ließ er sich vernehmen, „packen Sie ihre Sachen!“
„Hätten wir uns gar nicht erst einrichten müssen“, brummte Sebastian, indem er wie alle anderen seine eben noch zusammengelegte Decke wieder auseinander breitete, um dort seine Utensilien aus dem Regal hinein zu werfen.
„Kommen Sie schon“, sagte der Wachtmeister ungeduldig und warf, als alle mit ihren Bündeln auf dem Gang standen, die Türe zu. „Gehen Sie!“ Die Vier setzten sich hintereinander in Bewegung, vorneweg der Stationskalfaktor und zum Schluss der Wachtmeister. Schließlich hielt der Kalfaktor vor einer Zellentür.
Der Wachtmeister trat vor und schloss auf. Die Zelle war, wie Sebastian mit vorgestrecktem Hals erkennen konnte, noch unbelegt. Als dann Totila und er hinter den beiden anderen mit hinein gehen wollten, hielt der Wachtmeister sie zurück. „Sie nicht“, sagte er, schloss die Türe und blätterte kurz in seinem Block.
„Gehen Sie!“, und weiter ging’s an noch ein paar Türen vorbei, alle mit runden grünen Scheiben beklebt, bis fast ans Ende des Gangs. „Halt!“, vernahmen sie wieder die Stimme des Wachtmeisters hinter ihrem Rücken. Die Tür vor der sie standen, wies auch eine dieser runden grünen Scheiben auf, aber mit einem großen schwarzen R darin. Den beiden war klar, dass es sich dabei um eine Revisionszelle