Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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Flucht in verschiedene Richtungen entschlossen.

      Der Schlachtenlärm mit Ruf und Zuruf hatte Dorfbewohner an die Fenster gelockt. Überall, hatte Hankel erzählt, überall sei dort Licht angegangen. Sehr bald habe sich dann aber auch alles in der Dunkelheit verlaufen. Als Hankel sich in Begleitung eines der jungen Burschen, wie er erzählt hatte, seinem Haus genähert habe und am Hoftor des Nachbarn einen der Russen wie einen nassen Sack habe hängen gesehen, der wohl nicht mehr die Kraft aufgebracht hatte sich über das Tor zu retten, konnte er sich’s, wie er reuig sagte, nicht verkneifen dem mit der Zaunlatte eins über den Hintern zu ziehen. Als ich damals einwarf, dass der das verdient habe, zuckte der Hankel regelrecht erschreckt zusammen.

      Mehr habe er ja nicht getan, jammerte er. Überhaupt sei das auch alles gewesen … Davon waren an diesem Abend sowohl Hankel, als auch die anderen mehrheitlich jüngeren Gäste des Lokals, überzeugt.

      Am nächsten Morgen schon wurden sie jedoch eines anderen belehrt, nämlich ganz früh aus den Betten geklingelt und aus dem Sonntagsschlaf getrommelt.

      Wie Wilhelm Hankel erzählte, sei er noch halb schlafend im Bett hochgefahren wie auch seine Frau, verwundert darüber, was denn am Sonntag jemand so früh von ihnen wolle. Der Lärm, der entsteht, wenn Gewehrkolben gegen das Hoftor geschlagen werden, trieb Wilhelm Hankel dann doch aus dem Bett. Als er, wie er den Schrecken schilderte, nur eine Hose übers Nachthemd gezogen, das Tor zum Hof geöffnet hatte und dann davor Rotarmisten mit Karabinern und Maschinenpistolen habe stehen sehen, da sei ihm gleich ziemlich schlecht geworden. Auf die Frage eines Offiziers, ob er Wilchelm Chankel sei, habe er nur nicken können, um sich danach gleich an einem Torpfeiler zu übergeben.

      „Du anziechen“, habe der Offizier gesagt, Hankel dabei von oben bis unten gemustert und mit der Hand über den Hof auf die Haustür gewiesen: „Nu dawai!“

      Der Offizier und drei weitere Kameraden mit Kalaschnikows im Anschlag folgten Wilhelm Hankel ins Haus.

      Dort hatte auch seine Frau sich einen Morgenmantel übergeworfen und dabei am ganzen Körper gezittert.

      Er sei gleich ins Schlafzimmer gegangen und einer der Russen sei ihm gefolgt, Er wisse nicht was die von ihm wollten, habe er seiner Frau noch sagen können.

      Ein Missverständnis! Er sei sicher bald wieder zurück.

      Draußen habe ein Militärlaster geparkt.“Nu einsteigen“, hätten die Rotarmisten ihn aufgefordert und auf die Ladefläche unter einer Plane gewiesen. Als er sich dort hinauf gehangelt habe, sei er zu seiner Überraschung auf den Malermeister Arno Fleischer gestoßen, der sich ins kurze Gefecht im Dunkeln auf der Straße eingemischt hatte, als er mit dem Fahrrad, etwas angeschickert, ganz zufällig von einem Fußballspiel in der näheren Umgebung zurückgekommen war.

      „Was ist eigentlich los?“, habe der Malermeister sich ratlos gezeigt. „Mit den Iwans hatten wir doch weiter nichts. Ich konnte die im Dunkeln nicht mal richtig erkennen.“

      „Na ja, Schnaps holen. Die waren doch wie immer heimlich ausgebüchst“, hatte Hankel ihn aufgeklärt. „Woher wissen die in der Kaserne denn davon …?“

      Dann sprangen auch schon zwei der Rotarmisten mit auf die Ladefläche und der Laster fuhr los.

      Sie hätten natürlich ziemlichen Schiss gehabt, hatte Hankel erzählt, zumal unterwegs auch die jungen Burschen noch eingesammelt worden seien und keiner gewusst habe, was das sollte. Der Jüngste sei gerade mal siebzehn gewesen.

      Alle zusammen seien dann in der russischen Kaserne gelandet, dort einzeln weggesperrt und auch einzeln verhört worden. „Bei den Verhören“, sagte Sebastian, „hatte Hankel erzählt“, habe er erst gar nicht verstehen können, was die von ihm gewollt hatten. Immer wieder die Frage: „Wo ist sowjetischer Soldat?“ Was hätte er antworten sollen? Ihm sei dann nur die Gegenfrage eingefallen: „Welcher Soldat?“ Daraufhin hätte es Schläge gegeben, wie Hankel berichtete und immer wieder die gleiche Frage. Das sei dann ständig hin und her gegangen. Irgendwie sei ein Russe abhanden gekommen. Das hätte man aus den wiederholten Fragen schließen können. Die glaubten, wir verheimlichten was.

      Aber wie die darauf gekommen seien, dass wir über den Verbleib des vermissten Muschiks etwas haben wissen sollen, das sei ihm zuerst schleierhaft gewesen.

      Doch schließlich sei ihm allmählich gedämmert und den anderen Festgenommenen vermutlich auch, dass die einen Verdacht hegten, der bei den Verhören von den Russen noch nicht ausgesprochen worden war. Ihm sei allmählich klar geworden, habe Hankel gemeint, dass der Kommandant, ein sowjetischer Oberst, geglaubt habe, der verschwundene Rotarmist sei ermordet worden und es handele sich dabei um einen Racheakt.

      Nicht ganz ohne Grund, meinte Hankel. Dazu müsse man wissen, dass das Frühjahr 1945 in Hohenleipisch noch jedem in Erinnerung geblieben war. Die Russen waren damals an einem Spätnachmittag in den zuvor von Deutschen verteidigten Ort eingerückt und das übliche Plündern und Vergewaltigen habe eingesetzt, als am ganz frühen Morgen des nächsten Tages eine SS-Panzerbrigade ‚Frundsberg‘ überraschend für die Russen in Hohenleipisch eingerückt sei. Die Russen hätten damals, wie Hankel erzählte, ziemlich aufgescheucht und so schnell sie konnten den Ort verlassen. Volkssturmangehörige, ganz junge Kerle und ganz alte Männer halfen noch die gefangenen Rotarmisten zu entwaffnen. Die sowjetischen Kampftruppen hätten sich erst einmal weit zurückgezogen. Vor der zu erwartenden Rache der Russen habe der deutsche Brigadekommandeur aber noch gewarnt, als er mit seinen Panzern wieder abgezogen sei. Der Volkssturmkommandant und einige Stellvertreter hätten sich den abrückenden Deutschen angeschlossen.

      Als die Russen dann zurückgekehrt seien, hätten sie eiligst alle männlichen Deutschen von vierzehn, fünfzehn Jahren bis ins höchste Greisenalter zusammengetrieben und auf dem Marktplatz erschossen. Außerdem sei noch eine Reihe Bauerngehöfte in Brand gesetzt worden. Ein deutscher Racheakt für das Geschehen damals, sei also nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen gewesen, meinte auch Hankel dazu, obwohl er genau gewusst habe, dass keinem der drei Muschiks etwas angetan worden sei, außer dem Schlag mit der Zaunlatte aufs Hinterteil des einen am Hoftor hängen Gebliebenen.

      Die Erlösung habe sich dann um die Mittagszeit mit dem wieder in der Kaserne aufgetauchten Sowjetarmisten eingestellt. Der vermisste Soldat habe in einem Garten übernachtet, hatten sie noch vom Kommandanten erfahren. Damit habe sich alles erledigt. Sie könnten nach Hause gehen.

      „Man muss sich das mal vorstellen“, sagte Sebastian, „die sahen sich schon zu Hause, als ein Offizier sie alle vier über den Appellplatz zum Kasernentor geleitete. Sie dachten dabei an ihre Familien, Ehefrauen und Eltern … In einer halben Stunde würden sie wieder bei ihnen sein.

      Als sie dann erleichtert durch das Tor gingen, der russische Offizier, der sie bis dort hin begleitet hatte, zurück blieb und dafür drei bedenkliche Gestalten in Stiefeln und langen Mänteln auf sie zukamen, wusste bei diesem martialischen Aufzug natürlich gleich jeder, wer das war und überlegte dann blitzschnell was er getan, irgendwo gesagt, ja vielleicht auch nur laut gedacht haben könnte.

      Ganz sicher konnte sich da niemand sein. Das wissen wir ja von uns selbst.

      Hankel vermutete“, fuhr Sebastien dann fort, „dass die Russen Bescheid gewusst und der Stasi zu verstehen gegeben hätten, dass für sie alles erledigt sei und die Leute gehen könnten. Doch einer der gestiefelten Ledermantelträger trat zum russischen Offizier, der noch am Kasernentor stehen geblieben war.

      Die anderen beiden gesellten sich dann auch noch dazu.

      Das verschüchterte Häufchen der vier eigentlich schon Freigelassenen stand unschlüssig zusammengedrängt, als die Ledermanteltroika schließlich auf sie zu kam: „Zur Klärung eines Sachverhalts mitkommen!“ Nur dieser eine alles und nichts sagende Satz ließ die vier eben Freigelassenen willenlos gehorchen. Diese Willenlosigkeit ist es“, gab Sebastian zu bedenken, „die wie eine Lähmung über die Menschen kommt. Es ist schlicht Angst, denn wenn alles in der Beliebigkeit steht, kann man leicht stolpern.“

      „Du meinst die verbreitete Willkür in der DDR“, warf Klaus der Graumelierte ein, „du kannst dich da auf nichts berufen …“ „Mangelnde Rechtssicherheit, Gummiparagraphen“:


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