Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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Sonne zeigte.

      So vergingen in den Zellen die Tage unendlich langsam.Vom Grund eigener Verurteilung sprach von den Politischen kaum einer und schon gar nicht im Detail oder nur in Andeutungen, wenn sichs ergab. Eine Hauptaufgabe der Anstaltsleitung bestand deshalb darin, das Entstehen von Vertrauen unter den Gefangenen zu verhindern. Ehe so etwas entstehen konnte, kam es gezielt zu Verlegungen in immer wieder andere Zellen, sodass ein Grundmisstrauen stets erhalten blieb. Das Spitzelunwesen stand wie draußen so auch in den Zuchthauszellen in voller Blüte. Angst und Misstrauen erwiesen sich wie eh und je als probates Herrschaftsinstrument einer Diktatur.

      So traute man insbesondere den politischen Gefangenen nicht über den Weg, gab es unter ihnen doch immer einzelne, die laut dachten und es erwies sich als nicht möglich sie alle in Einzelhaft zu sperren. Und so wurde auch das Misstrauen der Wachmannschaften in ständigen Schulungsstunden immer wieder von neuem geweckt.

      Die beiden Freunde Totila und Sebastian waren trotz häufigen Wechsels von Zelle und Zellenbelegung noch immer beisammen.

      Neue kamen hinzu, und jene deren Revision verworfen worden war und das waren zumindest unter den Politischen fast alle, wurden auf Normalzellen verteilt.

      Eines Tages schwappte gewissermaßen eine Welle von hoch verurteilten leitenden Mitarbeitern verschiedener DDR-Ministerien aus Berlin in die obere Station des Zellenbaus. Lauter Abteilungsleiter und Hauptabteilungsleiter, von denen sich einige ganz offensichtlich bereits von draußen her kannten, wie Sebastian, Totila und andere es bei einer ersten Freistunde mitbekamen.

      Von denen, die Revision eingelegt hatten und davon gab’s tatsächlich einige, landeten in Sebastians und Totilas Zelle gleich zwei dieser Neuen. Sie hatten damit rechnen können, denn zwei aus ihrer Zelle waren am Vortag überraschend verlegt worden und jedem war ja bekannt, dass es an Zellenplätzen im Bau mangelte.

      Bei den Neuen handelte es sich, wie sie gleich zu Anfang auf Nachfragen erfahren hatten, um einen Volkswirt und einen Dipl. Ingenieur, beide Abteilungsleiter in entsprechenden Ministerien.

      Sebastian wunderte sich über die vielen ‚bürgerlichen Elemente‘ die an den Schalthebeln der Arbeiter und Bauernmacht gesessen hatten.

      „SED?“, hatte Sebastian fragend auf den Busch geklopft.

      „Nein“, beteuerten beide.

      „LDPD“, bekannte der Volkswirt.

      „NDPD“, sagte der Ingenieur.

      „Nationale Front“, warf Totila abwinkend ein. „Alles eine Wichse.“

      Die beiden älteren Neuzugänge grinsten und sahen sich amüsiert an.

      „Jeder tut das Seine auf seine Weise“, erklärte der Volkswirt.

      „Ohne Sachverstand geht’s eben auch nicht“, warf der Ingenieur ein.

      Sebastian winkte wieder ab. „Die wollten euch doch bloß ausnutzen, genau wie meinen Vater.“

      „Wir haben die aber auch missbraucht“, sagte der Volkswirt wieder grinsend.

      „Ach was, ist doch alles Unsinn“, unterbrach Totila diesen Meinungsaustausch.

      „Arbeiterkinder an die Universitäten!“, sagte er und lachte. „Nach spätestens einer Generation sind das dann keine Arbeiterkinder mehr. Was dann?“

      Der Ingenieur lachte ebenfalls. „Vielleicht führt man dann eine Elitenrotation ein, ehe die völlig zu Bürgern werden.“

      „Wenn das Ganze überhaupt so lange hält“, sagte Sebastian und wandte sich wieder mal dem Fenster zu, um hinaus in den Regen zu starren. Bereits im Juni hatte es zu regnen begonnen. Ein kleiner Trost blieb es, dass er in dieser Hinsicht draußen kaum etwas verpasste. Sehr kurz blieb dieser Trost aber, wenn er zurück in die Zelle blickte und die Gefangenen auf ihren Schemeln hocken sah in diesen schäbigen Uniformen, verteilt zwischen Bettgestellen, Kübel und Esstisch. Die dort gespannt lauschten, ob sich mit dem Mittagessen nicht schon was tat, in der blassen Hoffnung, dass es sich diesmal nicht um die gleiche wässrige Kohlsuppe der vergangenen Tage handeln möge.

      Aus immerwährendem Warten bestand das eigentliche Leben eines Gefangenen im Zellenbau und bezog sich ansonsten immer nur auf Ziele in kürzesten Distanzen, wenn das wechselseitige Erzählen und Reden meist eher als später wiederholende Elemente aufzuweisen begann. Dann domininierten eher entsprechende Ziele die Zeit des Wartens wie: Freistunde, Frühstück, Mittagessen und Einschluss … Letzteres hieß Nachtruhe auch im Sommer um 20 Uhr.

      Das Fenster? Es handelte sich um kein wirkliches Fenster, sondern nur eine mit Glasbauziegeln zugemauerte Fensteröffnung, die im letzten Drittel in einer Fensterklappe endete, die eigentlich nur zum Lüften gedacht war, durch die man aber, allerdings nur im vierten Stock, weit hinaus blicken konnte. In den unteren Stationen erwiesen sich diese Fenster wirklich nur als Lüftungsklappen. Vom vierten Stock aber konnte man nicht nur weit über die Mauer hinwegsehen, sondern auch beobachten was unten im Hof vor sich ging, wenn etwa neu ausstaffierte Gefangene neben dem Eingangstor ein paar Stufen hoch zur Sprecherlaubnis geführt wurden; oder wenn Neuzugänge einzeln oder in Gruppen wie ein scheuer Hühnerhaufen zusammengedrängt den Hof überquerten .

      Die da im Haufen kämen, seien fast immer Karnickeldiebe und meist Kriminelle“, war den beiden gleich zu Anfang erklärt worden. Karnickeldiebe hörten sie, seien solche mit nicht mehr als zwei oder drei Jahren. Manche in Knastklamotten, kämen auch aus anderen Anstalten. Des Weiteren konnte man von dort oben, hinter einer internen Mauer die einen weiteren Hof abschloss, gefangene Frauen bei der Freistunde sehen. „Die laufen dort in genau so beschissenen Klamotten rum wie wir“, stellte Totila fest.

      „Na dachtest du, die laufen dort in hübschen Sommerkleidern spazieren?“, fragte mit spöttischem Unterton der Ingenieur „Quatsch!“, entgegnete Totila. „Ich denke eher, dass vor allem Männer Frauen nicht so als Vogelscheuchen herumlaufen sehen wollen.“

      „Es gibt Länder, da laufen fast alle Frauen voll verhängt in der Öffentlichkeit herum“, widersprach der Ingenieur.

      „Ja im Orient, aber das ist nicht unsere Kultur. Sollen sie da rumlaufen wie sie wollen. Aber das da unten“, und er wies mit der Hand zum Fenster, „also das finde ich schlimm.“

      Der Ingenieur lachte. „Ich sehe schon, du bist ein Nachkomme edler Ritter und Minnesänger. Aber wer weiß denn schon“, fragte er, „was die, die da unten rumlaufen, so alles ausgefressen haben?“

      „Das kann man genau so gut auch von uns sagen“, mischte Sebastian sich ein.

      „Ja warum nicht?“, stimmte der Ingenieur zu.

      „Ich sage, wir hier“, erklärte Sebastian, „wir alle haben was getan. Wir sind keine Opfer. Jeder wusste was er tat, also davon gehe ich aus“, sagte er an die beiden Älteren gewandt.

      Die wiegten die Köpfe, nickten leicht und lächelten ein bisschen. Jeder hatte natürlich in vollem Bewusstsein gehandelt. Und so manches war auch bei vielen Verhören ungesagt geblieben. Widerständler in DDR-Zuchthäusern blieben schließlich eine stets gefährdete Spezies.

      „Du sagst“, wandte Totila sich an seinen Freund Sebastian, „jeder wusste was er tat. Ich würde sagen, jeder tat etwas, weil er wusste dass er’s tun musste.“

      Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Na logisch“, sagte er, „das hatte ich vorausgesetzt …“

      „So logisch ist das nicht, wenn du sagst wir alle hätten was getan und säßen deshalb hier“, gab Totila zu bedenken.

      „Na ja, das war wohl dumm ausgedrückt. Ich meinte, wir sind keine Opfer, sondern ganz bewusst Täter. Und nicht nur wir paar Männeken hier. Es gibt sie überall und immer wieder und sicher auch mehr als man denkt, die eben nicht nur beim Alkohol in der Kneipe auf den Staat und den Spitzbart schimpfen. Es gibt sie auch hier auf Station wie zum Beispiel die zu lebenslänglich verurteilten Artikel 6er. Ich hab da mit diesen roten Streifen einen ganz jungen Kerl gesehen.

      Der soll erst neunzehn sein, hab ich gehört. Von Beruf


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