Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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die Diktatur des Proletariats?“, fragte Günter mit schelmischem Grinsen in seinem runden Gesicht.

      Sebastian winkte nur ab. „Hört euch lieber die Geschichte Wilhelm Hankels an, da habt ihr schon alle Antworten …“

      „Und kaum noch Fragen“, fügte Totila hinzu.

      „Richtig“, sagte Sebastian. „Es beantwortet sich dort fast alles schon von selbst.

      Klärung eines Sachverhalts, das ist und das wissen wir ja alle selbst“, dazu sah er sich kurz um, „so was wie die Standardformel bei politischen Verhaftungen. So auch dort bei diesem Häufchen eben Freigelassener.“

      Ein als geschlossener Kastenwagen getarnter Transporter rollte heran, blieb stehen und einer der Gestiefelten öffnete die Tür ins fensterlose Fahrzeug, ein finsteres Loch. „Los, los, einsteigen“, trieb ein anderer aus der Troika den verwirrten Haufen in diesen Transporter, in dem alle getrennt in je einer winzigen Zelle verschwanden. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Sitzbrett und dazu schmale Luftschlitze in den Seitenwänden.“ Sebastian lachte. „Ich bin ja selbst mit so ’ner Stasi-Schaukel vom Hof des Gerichtsgebäudes in der Spreestraße zum Eingang des sogenannten Landgerichts, so stand es oben über dem Portal, gefahren worden. Und so landete dann auch Hankel mit dem ländlichen Verschwörertrupp in der Cottbusser Spreestraße. Weshalb der dort in meine Zelle verlegt worden war …?“ Sebastian zuckte mit den Schultern.

      „Als Spitzel?“ Er schüttelte den Kopf. „Völlig ungeeignet“, sagte er. „Das ständige Gejammere und Geflenne ging mir mächtig auf die Nerven. Was der mir über seine Verbrechen erzählt hatte, zumal sie ja alle von den Russen wieder freigelassen worden waren, fand ich einfach lächerlich. Der hätte zu einem Psychiater gehört. nicht aber in eine Stasi-Zelle. Andererseits, das muss man berücksichtigen, konnte Hankel nicht begreifen, was man ihm bei den Verhören unterstellte: Etwa dass sie es, das heißt er und die übrigen verdächtigen Gäste des Lokals, an diesem Abend von vornherein darauf angelegt hätten, die sowjetischen Soldaten, die dort regelmäßig auftauchten, zu überfallen und zusammenzuschlagen. Genau geplant vor Beginn der Viermächtekonferenz in Berlin.

      Ich hab’ diese Vorwürfe damals für einen Spaß seiner Vernehmer gehalten, die ihn damit verwirren und ein bisschen Angst machen wollten. Von so einer Konferenz wussten weder Hankel noch die anderen Provokateure etwas. Na klar“, fügte Sebastian nach einer kurzen Pause nachdenklich hinzu, „die Menschen schimpften zwar alle über die verbreiteten Versorgungsmängel, die das alltägliche Leben nicht selten zu einer Tortour machten, aber das sei es dann in aller Regel auch schon.

      Sebastian erhob sich von seinem Hocker und ging wieder mit gesenktem Kopf die wenigen Schritte Richtung Fenster. Dort wandte er sich in die Zelle um.

      „Ich denke hierzu bloß an meine Mutter“, sagte er, „die sich ständig Gedanken machen musste wie sie, bei einer großen Familie, vor allem die Kinder gesund über die Runden bringen konnte. Und nicht zuletzt auch, dass man überall und immer aufpassen musste auf das, was man so sagte. Viele schimpften erst, wenn sie sich zuvor einige Mal umgesehen hatten. Im Grunde genommen aber interessieren sich nur wenige wirklich für Politik und von einer Viermächtekonferenz wussten die Wenigsten. Und wenn, dann vom RIAS, aber wer versprach sich von so einer Konferenz schon etwas?“

      „Ja, so ist das“, meldete Günter sich, „immer die Propaganda … damals die Nazipropaganda und jetzt die kommunistische. Das klingt den Leuten in den Ohren. Immer wieder nur Sprüche. Den Nazis glaubten noch siebzig bis achtzig Prozent der Deutschen, schlimm genug. Aber so kurz danach die Kommunisten, denen glauben nun aber achtzig Prozent der Menschen nichts mehr. Natürlich gibt’s welche, die keine Probleme damit haben. Die singen halt diese Lieder mit und hängen die Fahne raus, wenn’s verlangt wird. Wieder andere frönen ihrem Ehrgeiz, ganz gleich worum es sich handelt. So eine Einschätzung aber darf man eigentlich nicht mal denken, will man nicht ins schwarze Buch kommen oder wie wir hier, gesiebte Luft atmen.“

      „Wie auch immer“, mischte Totila sich ein, „ist ja alles richtig oder auch nicht.

      Was Sebastian hier aber erzählt hat, ist einfach haarsträubend. Ich hätte draußen so was nicht geglaubt. Ich habe ja auch, wie wir wahrscheinlich alle, viele schlimme Geschichten gehört. Und wenn man erfährt weshalb so mancher hinter Gittern sitzt, einfach schauderhaft. Da wird einem doch deutlich: Jeder ist rechtlos, jeder kann jederzeit schuldig sein.“ Totila saß dabei vorgebeugt auf einem Hocker. „Ich glaubte draußen“, fuhr er fort, „ich glaubte, ich wüsste Bescheid, aber was ich dann erfuhr … Nicht mal der Verrat eines Freundes“, Totila richtete sich auf, „ja nicht mal das“, sagte er, „geht mir so auf den Geist wie die abgrundtiefe Willkür, auf die man hier überall trifft. Es gibt ja ganze Hände voll ähnlicher Geschichten. Nur draußen erzählen eben die wenigsten davon und da ist sie dann schon wieder, die Angst …“ Schließlich hörten sie von unten herauf das rutschende hohle Schurren von Metallkesseln auf Stein.

      „Kaffee!“, sagte Klaus und alle langten sich ihre Aluminiumbecher aus dem Wandregal. Außerdem hieß das auch den leeren Kübel reinzunehmen, wenn die Tür aufflog. Das war schnell zur Routine geworden. Dann ließen sich alle ihre Becher mit Muckefuck aus dem ausgemusterten Militärkessel füllen, griffen sich ihre Brotkule und den 20gr.-Klecks Margarine auf Pergamentpapier für den Tag sowie den Esslöffel Marmelade, den man ihnen in die Essschüsseln klatschte.

      Doch dass Wilhelm Hankel in der Nebenzelle saß, hatte sich für Sebastian als etwas Unerwartetes erwiesen. Zwischen Kübelwechsel und Frühstück wurden nach zehn Minuten die Messer zum Zerschneiden der Brotstücke wieder aus den Zellen geholt. Nach dem Frühstück warteten die Gefangenen auf die Freistunde und Sebastian insbesondere auf das Zusammentreffen mit Wilhelm Hankel. Zwölf Jahre! Er konnte es noch immer kaum glauben. Beim Anstellen auf dem Gang stand er so, dass Hankel aus der Nebenzelle sich dicht hinter ihn stellen konnte.

      „Wonach hat man euch denn verurteilt?“, fragte Sebastian, den Kopf etwas seitwärts geneigt.

      „Artikel 6 und Kontrollratsdirektive 38“, antwortete Hankel gedämpft.

      „Dann seid auch ihr allesamt, du und die jungen Burschen mit dir, stramme Kriegsverbrecher“, und er konnte sich dabei ein hysterisches Kichern kaum verkneifen. Dann sah er sich ganz nach rückwärts um und blickte in Wilhelm Hankels bekümmertes Gesicht. Er tat ihm wirklich leid. Es hatte den ja wesentlich schlimmer erwischt als ihn. Der hatte damals, als er an einem Sonnabend sein Stammlokal aufsuchte, nie damit rechnen können, dass er von dort nicht mehr zurückkehren würde. Dann der Schreck am nächsten Morgen und endlich die Erlösung, als die Russen sie freigelassen hatten … und er kehrte doch nicht zurück, alles war am Ende verloren: Haus, Hof und Familie, die man davongejagt hatte. Eigentlich ist so was nicht wirklich zu begreifen, sagte er sich.

      „Alles Marsch!“, ertönte schließlich die Stimme des Stationskalfaktors und ein weiterer Austausch mit Hankel wäre in dem dann anbrechenden Krachen der schweren Holzschuhe auf den Holzplanken des Gangs nicht mehr möglich gewesen. Dann ging es polternd die steinernen Treppen hinab und hinaus auf den Hof.

      „Abstand halten!“, rief dort der Vorturner, auch ein Gefangener, und trat in die Mitte des Rasenstücks, das die Gefangenen einzeln hintereinander zu umrunden hatten.

      Und so liefen sie, Sebastian, Hankel hinter ihm und die anderen der Station in ihren Holzschuhen und runden Mützen auf den Glatzen, im Gleichschritt und im Kreis um den Rasen auf dem der Vorturner stand und die Kommandos gab: „Links, links, links zwo drei vier …“ An allen vier Ecken des Rundlaufs hatten sich Wärter postiert und achteten darauf, dass jeder Gefangene die in den Erdboden eingelassenen weißen Ziegel beachtete, die an vier Seiten des Rundgangs jeweils einen rechten Winkel beschrieben, den jeder im Gleichschritt in exakter Wendung zu nehmen hatte.

      Dazu immer wieder die Stimme des Vorturners: „Links, links, links zwo drei vier …“ Schließlich der Ruf: „Alles Halt! Links um!“, also mit dem Gesicht zum Vorturner, der dann mit Kniebeugen begann, bei denen einige ältere Gefangene von den Posten angeschnauzt wurden, weil sie dabei nur langsam und schwer aus der Hocke wieder hoch kamen. „Na machen Sie endlich! Sie können doch den ganzen Laden hier nicht


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