Götter sind auch nur Männer. Christiane Wagner
Bei den nächsten Haltestellen füllen sich die Abteile so stark, dass ich Mitgefühl mit Tiertransporten bekomme.
Die nächste Station ist zum Glück meine: Hauptbahnhof.
Ich werde auf einer Woge flüchtender Menschen nach draußen getragen, eile im Laufschritt und mit ansteigendem Puls die Rolltreppe nach oben zur Bahnhofshalle. Dort erwarten mich schon die üblichen Freitagnachmittagsschlangen vor den Schaltern, die ich auf mindestens 15 Minuten Wartezeit einschätze.
Jetzt kann nur noch der „Maschinenkollege“ helfen. Ich steuere entschieden auf einen freien Fahrkartenautomaten zu, auf dessen Tastenfeld schon Hunderte Reisende verzweifelt geschlagen oder herumgeschmiert haben. Und das in der Hochsaison der Grippe!
Konzentration. Es geht los. Expresskauf und ein ruhiger Zeigefinger sind eine sichere Bank für eine 2-Minuten-Fahrkarte. Keine Reservierung, jetzt bloß nicht „electronic-cash“ mit „Geldkarte“ verwechseln, den Magnetstreifen, der sich unbedingt rechts unten befinden muss, schön gleichmäßig einführen. So.
Die Geheimzahl eingeben – geschafft! Karte akzeptiert, im Fahrkartenfach blinkt es schon.
Ich suche schnell nach einer genauen Uhrzeit, mein Blick fällt zurück auf das Fahrkartendisplay. Abfahrt des gewählten Zuges ist 17:28 Uhr, und es ist 17:28 Uhr, wie ich unten rechts bei der Zeitangabe der Bahn lesen kann.
Ein Griff ins Fahrkartenfach, Fahrschein raus, rennen und auf die Verspätung der Deutschen Bahn vertrauen. Das verbrennt Kalorien. Oder sind Sie schon mal mit 12-Kilo-Hanteln durch ihren Gymnastikraum gerannt, und das mit 20 bis 30 Leuten?
Ausweichen muss man übrigens auch noch. Da tut man sogar noch etwas fürs Koordinationsvermögen, wenn man nicht unnötige Bekanntschaften schließen will. Die Welt ist ein einziges Fitnesscenter.
Ich werde bei meinem Sturm aufs Gleis vom männlichen Reinigungspersonal angefeuert und werde belohnt: fünf Minuten Verspätung. Ein unerwarteter Erfolg an diesem Tag.
Ich renne an orientierungslosen Fahrgästen vorbei, lasse die Erste-Klasse-Wagons in Bestzeit neben mir liegen, verbrenne die nächsten 124 Kalorien und steige hinter dem ICE-Bistro in Wagen Nummer neun ein. Geschafft! Im Großraumabteil gibt es sogar noch Platz.
Ich sinke dezent schwitzend, aber in Siegerlaune, in meinen „Ich hab ja noch so viel Zeit“-Sessel. Das Leben kann so schön sein, auch wenn ich kurzatmig geworden bin. Keine Kinder im Großraumwagen, große Behindertentoilette auf dem Gang – diese Fahrt kündigt sich vielversprechend an.
Wenn ich erst einmal zu Hause, im Paradies, angekommen bin, werde ich meine mühsam verbrannten Kalorien wieder ohne schlechtes Gewissen aufstocken und meine Seele mit einem Schokoladenkuchen nach Art des Hauses trösten. Mit Schlagsahne.
„Die Fohrkoarten bitte!“ Der Schaffner nimmt mir meinen hektisch zerknitterten Fahrschein, der mittlerweile wie von letzter Woche aussieht, aus der Hand.
„Woos is denn dees?“
Aufgeschreckt schaue ich auf den Fetzen, den der Schaffner gerade infrage stellt. Erleichtert stelle ich fest, dass es sich wirklich um den Zettel aus dem Automaten handelt.
Im nächsten Augenblick schaue ich genauer hin. Was macht denn meine Kontonummer auf dem Fahrschein?
„Junge Frau, des is Ihr Abbuchungsbeleg. I brauch a Fohrkoarten!“
„Ja, ja, Moment.“ Ich krame aufgeregt in meiner Handtasche, um Zeit zu gewinnen. Ein paar Gedanken später finde ich die Lösung in meiner Erinnerung. Dort taucht der schemenhafte Hinweis des Fahrkartenautomaten auf. „Es werden zwei Belege gedruckt.“
Zwei! Eine 50:50-Chance, die ich verloren habe. Typisch für mich!
Mein Fahrschein wartet wahrscheinlich immer noch vergeblich im Automatenfach beim „Maschinenkollegen“ am Münchner Hauptbahnhof.
„O nein!“, entfährt es mir im ehrlichsten Ton der Verzweiflung.
Jetzt kann ich mich nicht mehr fragen: „Was is dees?“ und die hilflose Frau spielen.
„Aber Sie sehen doch, dass ich die Fahrkarte gezahlt habe.“ Meine spärliche weibliche Hilflosigkeit kann den gut fünfzig Jahre alten „Ich mach hier nur meine Arbeit“-Schaffner nicht überzeugen.
„Ober i brauch a Foahrkoartn, junge Frau.“
Der Zug muss aus Österreich kommen. Meine Chancen stehen gerade ganz schlecht. Keiner der konzentriert lauschenden Fahrgäste kommt mir in diesem Augenblick zur Hilfe. Um mich herum sitzt scheinbar ein lebendiges Wachsfigurenkabinett. Jetzt wären doch Kinder, so ab acht, gut gewesen. Die hätten etwas gesagt.
Es bleibt mir keine andere Wahl. Ich ziehe langsam, keine Waffe, aber meinen Geldbeutel aus der Tasche und zahle noch einmal: 66 Euro.
Es trifft ja keine Arme.
„So ein Kaiserschmarrn!“, murmele ich wütend und stelle mir den Sitz in eine angenehmere Liegeposition. Langsam versuche ich mich wieder zu beruhigen. Immerhin bin ich noch 34, und es ist erst Mitte März. Das Jahr ist noch jung.
Trotzdem bin ich immer noch ohne neuen Job, und es gibt nicht einmal die Hoffnung auf einen Drehtag. Noch nicht einmal eine Einladung zu einem Werbecasting ist in Aussicht.
Kein Wunder, denn ich wollte ja unbedingt Schauspielerin werden.
Immerhin soll es uns noch besser gehen als den Journalisten und den Soziologen. Übrigens sind dies alles Berufe, die ich vor der Schauspielerei ins Auge gefasst habe. Meine Wahl war demnach die aussichtsreichste. Statistisch gesehen.
Kurz vor halb neun werde ich aus meinen Träumen gerissen.
„In wenigen Minuten fahren wir in Mannheim Hauptbahnhof ein. Zugführer Emil Jansen und sein Team verabschieden sich von unseren aussteigenden Fahrgästen und hoffen, Sie hatten eine angenehme Fahrt ...“
„Ja, und besonders teuer war es mit Ihnen“, kommentiere ich innerlich die Ansage des Zugführers. Eigentlich sollte er sich Zugkapitän nennen, diese Durchsage ähnelt immer mehr der bei einer Airline. Obwohl die Bahn manchmal teurer ist als ein Flug.
Auf dem Bahnsteig winkt mir schon voller Freude meine Mutter zu. Eigentlich könnte ich auch die Augen schließen und ihrer Stimme folgen: „Flöhchen, Flöhchen ...!“, ruft sie lautstark, als sie mich an der Zugtür sieht. So nannte sie mich als Kleinkind und wird mich noch so nennen, wenn ich 58 bin. Meine Mutter ist eine selbstbewusste Frau. Sie bemerkt nicht die peinlich berührten Blicke der Leute, die sich an mich heften.
Ich liebe die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.
„Mama, ich bin nicht mehr Flöhchen. Mittlerweile bin ich eine erwachsene Filzlaus,“ zische ich ihr entgegen. Dann umarmen wir uns freudig, und ich ziehe meine Mutter vom Bahngleis.
„In deinem Alter habe ich mich auch für solche Dinge geschämt“, versucht sie mir Mut zuzusprechen.
Ich hoffe die restlichen Kleinigkeiten ändern sich auch noch.
„Wie geht es Papa?“, frage ich sie, während ihre Finger nervös nach dem Autoschlüssel suchen.
„Gut, glaube ich. Wir sehen uns ja kaum. Sein Restaurant läuft fantastisch. Er sollte sich ein Bett in die Küche stellen und einen Kochtopf heiraten. Sag mal, hast du meine Schlüssel gesehen?“
Meine Mutter wühlt verzweifelt in ihrer Handtasche. Das macht sie immer. Sie sucht, seit ich mich erinnern kann, nach ihren Schlüsseln.
Mein Vater ist leidenschaftlicher Koch. Während meiner Kindheit war er kaum existent. Wenn er nach Hause kam, lag ich schon längst im Bett. Die Gastronomie hat meine Kindheit gefressen.
„Mama, der Wagen ist offen. Ich glaube der Schlüssel steckt.“
„Ach ja?“
Meine Mutter bricht ihre Suche schlagartig ab und steigt ins Auto. „Also, das ist mir wirklich noch nie passiert. Aber da siehst du mal, wie sicher diese Stadt ist.“