Trilogie des Mordens. Ulrich W. Gaertner
Lauter Beifall macht sich breit, als der Bürgermeister erklärt, dass das reichhaltige Angebot aus Vierlanden und aus den Speichern der hanseatischen Sponsoren den Obdachloseneinrichtungen der Stadt zur Verfügung gestellt werden soll. Das ist der Abschluss des offiziellen Teils. Das übliche Schmausen und Feiern kann beginnen. Appetitanregende Düfte hängen in der Luft. Musik von verschiedenen Gruppen setzt ein. Fröhliche Menschen genießen diesen besonderen Tag.
Jetzt wird es gleich losgehen, denkt die Frau zufrieden. Ihr Begleiter hat sich unbemerkt neben sie gestellt und beobachtet das flanierende Publikum. Die erfahrenen „Street Runner“, mit ihrer Überzeugungskunst bemerken sehr schnell: Es herrscht noch Schwellenangst. Der Mann verschwindet im Auswertungs-Pavillon. Wenig später tönen aus unsichtbaren Boxen einschmeichelnde Klänge spiritueller indischer Musik. Die junge Frau nimmt einen Stapel dünner Broschüren und stellt sich damit als attraktiver Blickfang den Neugierigen in den Weg. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Zwei junge Männer im Freizeitlook kommen an dem lebendigen Hindernis nicht vorbei.
„Habe ich Sie neugierig gemacht, meine Herren?“
Mit gurrender Stimme, tiefen Blicken und aufreizenden Bewegungen fordert sie die beiden zum Stehenbleiben auf.
„Ich sehe Ihnen doch an, dass Sie nach geistigen Werten suchen und wissen möchten, wie Sie Ihre Innere Quelle finden können.“
Die beiden Männer, etwa zwischen Anfang und Mitte zwanzig, blicken sich amüsiert an und grinsen frech.
„Also Puppe, wenn du meinst, ich sollte meine Innere Quelle suchen, dann musst du mir schon zeigen, wie das geht. Am besten heute Abend.“ Die Männer lachen laut; sie fühlen sich überlegen. Aber die knallharte Sekten-Lady kann mit damit umgehen.
„Darüber könnte man reden, mein Lieber. Aber Voraussetzung dafür ist die Testteilnahme, damit du erkennen lernst, mit wie viel Problemen du in Wirklichkeit vollgepackt bist.“
Nun sind die Rollen vertauscht. Einer der beiden Männer, nicht unattraktiv, Typ Handwerker mit biederem Gesichtsausdruck, fühlt sich überrumpelt.
„Was iss’ n das für ’n Test?“
Der hinzugetretene Teamführer mischt sich ein.
„Ein kostenloser Persönlichkeitstest, begleitet von unserer Technik hier“, er zeigt auf das Messgerät, „Dazu gibt’s die kostenlose Auswertung.“
Nun ist auch der Jüngere der Männer hinzugetreten. Interessiert betrachtet er das Gerät.
„Hat Ähnlichkeit mit ’nem Lügendetektor aus den US-Krimis.“
„Richtig, mein schlauer Freund. Nur dient dieses Gerät nicht dazu, Lügen aufzudecken, sondern dazu, die eigenen Wahrheiten zu finden.“
Die beiden beeindruckten jungen Männer erkennen nicht den Doppelsinn der verdrehten Erklärung. Intuitiv ergreift die Frau das Heft.
„Sie können natürlich auch beide einen solchen Test machen, bei mir oder meinem Partner, und zwar jetzt gleich“, schnurrt sie wieder.
Dabei öffnet sich wie zufällig ihre eng geschnittene Kostümjacke und lässt den Blick auf ihre üppigen Brüste unter dem dünnen T-Shirt zu. Darunter trägt sie keinen BH.
„Was meinst du, Lothar?“, fragt Jan, der Ältere, der schon Feuer gefangen hat.
„Also, ich meine“ – der Gefragte beginnt zu stottern – „… ich würde den Test gern von der Dame durchführen lassen.“
„Hmh.“ Jan überlegt noch, während er der Blonden ungeniert auf die prallen Brüste starrt.
„Ich muss sagen, die wäre mir auch das Liebste.“
Die „Street Runner“ grinsen sich heimlich an. Immer dasselbe, aber die Masche zieht.
„Gut, dann mache ich einen Vorschlag. Sie gehen beide mit meiner Partnerin in den Pavillon und legen nacheinander den Test ab. Und dann gibt’s die Auswertung. Einverstanden?“
Die Männer nicken.
„Okay, und wie lange dauert das?“
Lothar, der Jüngere, will es genau wissen.
„Nun ja, da wir nicht arbeitsteilig vorgehen können, dauert es für beide rund eine Stunde. Sonst nur die halbe Zeit. Trotzdem lohnt es sich für Sie immer, weil Sie ganz viel über sich in Erfahrung bringen. Bei einem Psychiater würden Sie ein Dutzend Sitzungen absolvieren und müssten einen Haufen Kohle abdrücken.“
Das ist ein überzeugendes Argument des routinierten Teamführers, der die Sprache der „Generation Golf“ beherrscht und damit letzte Einwände beseitigt.
„Kommen Sie, meine Herren!“
Mit raumgreifenden Schritten ihrer makellosen Beine und wiegenden Hüften schreitet die erfahrene Überredungskünstlerin den beiden zukünftigen Seminar Anwärtern voraus. Sie sollen es bald bereuen, dass sie an diesem schönen Tag wie die Fliegen am Honigtopf in Gestalt der provozierenden Blonden hängen geblieben sind. Der smarte Teamführer übernimmt derweil am Bücherstand geübt die Rolle eines kompetenten Beraters. Das war schon mal ein guter Start. Der Captain wird sich freuen, wenn die Erfolgsliste heute Abend länger ist.
Im Haus der Kluges in der kleinen Gemeinde nahe Lüneburg findet am Sonntagmorgen das gemeinsame Frühstück statt. Der Tisch in der Diele ist liebevoll gedeckt. Gelbe Narzissen verbreiten ihren angenehmen Duft. Auch die seltene Aprilsonne meint es gut an diesem Morgen.
„Möchtest du noch etwas Kaffee, Lieber?“
Ninette-Elaine Kluge, bereits für den Tag angekleidet, winkt mit der halbvollen Kanne.
„Na klar, mein Schatz, schenke ein. Dein Kaffee schmeckt mir am besten.“
Kluge legt die Wochenendausgabe der LandesZeitung zur Seite und blickt seine Frau aufmerksam an.
Sie sieht immer noch gut aus. Einige Falten auf ihrer Stirn zeugen von den Sorgen des hinter ihnen liegenden gemeinsamen Lebens. Trotzdem blicken ihre Augen weiterhin liebevoll und optimistisch in die Welt. Was Besseres konnte mir gar nicht im Leben passieren, als ihr zu begegnen. Unwillkürlich fährt er sich über das dünner werdende Haar und lächelt seine Frau nachdenklich an. Dann streichelt er zärtlich über ihre Hand, als sie den Kaffee nachschenkt. Wo ist die Zeit geblieben? Die Kinder sind lange aus dem Haus und haben bereits eigene großzuziehen und ihre eigenen Sorgen. Habe ich eigentlich den Bedürfnissen und Wünschen meiner Frau immer genügend Raum gegeben?
„Bernhard, träumst du?“
Elaines melodische Altstimme führt ihn an den reich gedeckten Frühstückstisch zurück.
„Und stell’ deine Tasse ab, mein Schatz, sonst gibt es eine Überschwemmung“ kommt die belustigte Ergänzung hinterher.
„Du bist wieder mal meine Lebensretterin.“
Er lehnt sich entspannt zurück und beobachtet seine Frau, die nun zu ihrer Lieblingszeitschrift für Einrichtung und Accessoires greift. Das ist ihr Faible, weil sie einen vollendeten Geschmack und ein ausgeprägtes künstlerisches Empfinden für Proportionen und Gestaltungen hat. In jungen Jahren hatte sie ein Innenarchitekturstudium begonnen, das sie jedoch ihrer glücklichen Ehe zuliebe aufgegeben hatte.
Kluge kommen die Erinnerungen wieder hoch wie er – nun schon viele Jahre zurückliegend – den entsetzlichen Gefängnisaufenthalt im Ost-Berliner Staatssicherheit Gefängnis durchstehen musste. Unwillkürlich wird ihm die Kehle trocken, bei den Gedanken an den grauenhaften Alptraum, der ihm an der Schwelle zum Tod die Augen über sich selbst geöffnet hatte. Hastig greift er zur Kaffeetasse, ein klirrendes Geräusch. Die in ihrer Welt versunkene Gattin blickt verstört auf weil das teure Kaffeegeschirr zu zerbrechen droht. Par bonheur. Gerade noch mal gut gegangen.
Sie blickt aufmerksam auf ihren geliebten Mann, heute im ungewohnten Hausanzug, der wieder zur Zeitung greift. In der letzten Zeit wirkt er sehr angespannt und nachdenklich. Es ist sein Beruf, der ihn über die