Geschichten eines Geistreisenden. Axel Kruse

Geschichten eines Geistreisenden - Axel Kruse


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angelangt musste ich mich übergeben und zwar so stark, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Dann kam der Schmerz! Der Schmerz, der in der Brust begann und sich übergangslos in beide Arme fortsetzte. Ich brach vor der Toilette zusammen, der Schmerz wurde immer schlimmer, ich verlor das Bewusstsein.

      Irgendwann wachte ich dann wieder auf. Mein Vater strich mir mit seiner Hand über den Kopf. »Thomas, es ist Zeit zum Aufstehen«, sagte er und betrieb damit das uralte Ritual, unser Ritual, als ich noch bei meinen Eltern wohnte.

      Ich blinzelte, vom Flur fiel etwas Licht ins Kinderzimmer auf mein Gesicht. »Weck deinen kleinen Bruder nicht auf«, ermahnte mich mein Vater. »Er muss erst später aufstehen.«

      Ich verstand nichts mehr, was war geschehen? Egal, das würde ich später ergründen, jetzt verspürte ich erst einmal ein dringendes Bedürfnis meine Notdurft zu verrichten. Ich sprang aus dem oberen Bett des Doppelstockbettes heraus, logischerweise, wie fast immer früher, landete ich auf einem der meinem Bruder gehörenden Legosteine, die flächendeckend auf dem Fußboden verteilt waren. Der Schmerz überzeugte mich davon, dass ich nicht träumte.

      Ich schlich mich in den Flur, der grün gestrichen war, nicht weiß, wie er sich noch vor einer Woche dargestellt hatte, als ich meine Eltern besuchte. Nein, grün! Dieses merkwürdige, kräftige grün! Siebziger Jahre, die des vorigen Jahrhunderts, wie man heute so zu sagen pflegte. Das war in den Siebziger Jahren so gewesen. Damals hatten meine Eltern den Flur in diesem grün gestrichen, die Badezimmer waren in hellblau und in hellgrün gefliest, vom Boden bis zur Decke, rundum, wie im Schwimmbad.

      Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und strich mit der Hand die Wand im Flur entlang. Ja, Raufaser, grün gestrichen, nicht der weiße Rauputz von letzter Woche. Ich ging ins Gäste-WC, das Bad wurde morgens immer von meinem Vater benutzt. Auf der Toilette sitzend, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Was lief hier ab? Ich war doch gerade fünfzig Jahre alt geworden, schoss es mir durch den Kopf. Das hier konnte doch nicht real sein. Der Legostein fiel mir wieder ein und dann der Schmerz in meinem Fuß, gut der hatte nachgelassen ..., dann erinnerte ich mich an die Schmerzen in meiner Brust. Ich schob meine rechte Hand unter den Schlafanzug, legte sie auf mein Herz und hörte in mich hinein, nein, da war nichts, absolut nichts, alles schien völlig in Ordnung.

      »Thomas, bist du da drin?«, schallte es durch die Tür. »Mach mal, ich muss auch!« Die Stimme meiner Schwester rief mich in die Realität oder zumindest in das, was ich zurzeit dafür hielt, zurück.

      »Ja, einen kleinen Moment noch«, antwortete ich und beeilte mich, fertig zu werden.

      Eine Viertelstunde später saß ich am Frühstückstisch und sah meine Mutter und meinen Vater vor mir. So jung! Ich konnte es nicht fassen. »Soll ich euch mitnehmen?«, fragte mein Vater meine Schwester und mich. »Oder nehmt ihr das Fahrrad?«

      »Fahrrad«, würgte ich hervor. Ich war doch immer mit dem Rad gefahren, zumindest ab einem gewissen Alter. Meine Schwester zog es noch vor, von meinem Vater mit dem Auto mitgenommen zu werden. Gut so, ich brauchte Ruhe und die Einsamkeit des Radfahrens, um überlegen zu können.

      »Hast du deine Tasche gepackt?«, fragte meine Mutter.

      Ich wusste es nicht. Oft genug hatte ich damals meine Sachen erst morgens zusammengesucht, manchmal auch am Abend vorher. Ich zuckte mit den Achseln und eilte in mein Zimmer. Mein kleiner Bruder war mittlerweile ebenfalls aufgestanden und hatte sich ins Bad begeben, sodass ich Licht machen konnte.

      Meine Tasche stand auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Auf dem Tisch lagen keine Utensilien herum, die Tasche sah gepackt aus, also ergriff ich sie, nahm meinen Schlüsselbund vom Haken, den ich an meinen Schrank in meinem Zimmer angebracht hatte, zog meine Schuhe an, ergriff meine Jacke und wandte mich zur Tür. Kam jetzt der unsägliche Moment? Er kam!

      Meine Mutter stürzte aus der Küche, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach´s gut, Thomas«, sagte sie und ich flüchtete schnell zur Tür hinaus.

      Mein Rad stand wie immer draußen im Nieselregen vor der Tür im Fahrradständer. Ich blickte zurück, ja, so hatte das Haus damals in den Siebzigern ausgesehen, als es noch nicht mit Schiefer verkleidet worden war. Sieben Stockwerke hoch, fünf Eingänge, L-förmig gebaut. Ein Wohnblock, an den sich zwei weitere, ähnlich gestaltete Blöcke anschlossen, die um einen großzügigen Innenhof herum angesiedelt worden waren. Vor wenigen Jahren waren hier noch eine Kuhweide und Felder gewesen, jetzt stand hier eine Hochhaussiedlung. – Ich hatte diesen Hof geliebt, hier hatte ich gespielt, es war eine Unmenge an Kindern vorhanden, es war eine schöne Zeit, aber, verdammt noch mal, ich gehörte nicht hierher, nicht hier und jetzt!

      Ich war fünfzig Jahre alt, hatte selbst Kinder, war verheiratet und ... hatte vermutlich gerade einen Herzinfarkt erlitten. Erneut tastete ich mit meiner Hand meinen Brustkorb ab, nein, da war nichts.

      Was sollte ich tun? Ich schritt zu meinem Rad, öffnete das Schloss, wischte den Sattel ab, sodass meine Hose nicht allzu nass werden würde. Warum hatte ich das Rad damals eigentlich nicht regelmäßig in den Fahrradkeller gebracht? Sicherlich, der war im Keller, ich musste eine Treppe runter, aber da stand es trocken, würde nicht rosten ... Der Lenker würde nicht während der Fahrt brechen, fiel mir ein. Ich rüttelte daran, nein, das würde heute nicht geschehen, dazu bedurfte es vermutlich noch einiger Jahre, die das Rad draußen stehen würde.

      Ich schnallte meine Tasche auf dem Gepäckträger fest, saß auf und fuhr los. Es war schön, einfach genial. Diese Strecke hatte ich geliebt. Die Rheinstraße ein Stück entlang, dann links abbiegen und den Hohlweg hinunter, da bekam man richtig Fahrt, später war es dann auf dem Rückweg beschwerlich, da musste ich sicherlich die Hälfte des Berges schieben, aber runter, das war einfach genial.

      Die Ampel an der Graf-Zeppelin-Straße war grün, ich konnte ohne anzuhalten die Straße überfahren. Nun lag links der Friedhof, meine Großmutter kam mir in den Sinn, sollte ich anhalten und ... Ich schalt mich einen Idioten, jetzt und hier? Sie musste noch leben, ich würde sie besuchen können, ein Aspekt, der mir an dieser Situation sehr gefiel. Aber jetzt war die Schule mein Ziel. Kurze Zeit später langte ich dort an und stellte mein Rad auf dem Fahrradhof rechts vor der Schule ab. Ich war früh genug, um noch einen Platz unter der Überdachung zu ergattern, noch standen nicht viele Räder hier. Fuhren heutzutage eigentlich immer noch so viele Schüler täglich mit dem Rad zur Schule? Meine Kinder taten es nicht und deren Freunde ebenfalls nicht. Damals, heute, ich brachte die Zeiten durcheinander, hier und jetzt würde sicherlich der komplette Hof mit Rädern vollgestellt sein. Wie viele Räder passten hier hin? Zweihundert? Dreihundert? Schwer zu schätzen. Die Schule hatte damals annähernd eintausend Schüler, wie mir einfiel, die Quote war sicherlich nicht schlecht.

      Der Raucherhof, direkt vor dem Eingang gelegen, kam mir wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten vor, aber hier standen die Oberstufenschüler und rauchten tatsächlich. Ich ging durch die Gruppen hindurch, da gehörte ich noch nicht zu, das war mir klar, sie waren allesamt wesentlich größer als ich, wo waren meine Mitschüler? Wo musste ich hin? Zwischen siebter und neunter Klasse war sicherlich alles möglich. Wohin also? Ich sah mich um.

      Da gingen ein paar meiner Mitschüler, also hinterher. Sie gingen ins Treppenhaus, dort die Treppe runter in den Keller, demnach waren wir in der siebten oder achten Klasse, damals waren wir im Souterrain untergebracht, da zu viele Parallelklassen existierten, die normalen Klassenräume reichten nicht aus, geburtenstarke Jahrgänge halt.

      »Hast du Englisch?«, wurde ich gefragt, als ich vor dem Klassenraum ankam.

      Ich zuckte die Achseln, ich hatte keine Ahnung, welches Fach jetzt dran war.

      »Das musst du doch wissen, ob du die Hausaufgaben gemacht hast«, fuhr mich Stefan an.

      »Ach so«, antwortete ich und mir lief es siedend heiß den Rücken herunter, die gleiche körperliche Reaktion, wie ich sie von früher her kannte. Hausaufgaben, die waren doch dazu da, dass man sie kurz vor der Schule oder in den Pausen zwischen den Stunden von den anderen abschrieb. Nur in Ausnahmefällen machte ich sie damals selbst. Demnach stand zu erwarten, dass ich sie nicht hatte, ich riss meine Tasche auf, wühlte darin herum und brachte doch tatsächlich das Englischheft zum Vorschein. Ich blätterte darin herum, bis zur letzten


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