Geschichten eines Geistreisenden. Axel Kruse
Niven. Ich ging zurück. Da stand nur der Titel auf dem Buchrücken, kein Autorenname. Wahrscheinlich deshalb unter R abgelegt, dachte ich und zog das gebundene Buch heraus. Mir wurde schwindlig, ich musste mich auf den Boden setzen, da prangte ein anderer Name ganz groß auf dem Cover: Randolph Zoran. – Wer zum Teufel war Randolph Zoran? Ich schlug das Buch auf, suchte im Impressum. Copyright 1953! Originaltitel Ringworld! – Das konnte nicht sein, das war doch unmöglich. Das Buch hatte Larry Niven geschrieben, in den Siebzigern, das wusste ich ganz genau!
Ich legte das Buch in meinen Korb und zog weitere Bücher, die neben diesem gestanden hatten heraus. Alle gaben sie Randolph Zoran als Verfasser an. Und die Titel? Ich kannte sie alle! Der Wüstenplanet, die Flusswelt der Zeit, Gateway, Ender, Planet der Habenichtse – das alles sollte dieser Zoran geschrieben haben? Ich schlug die Seiten mit dem Impressum nach und nach auf. Die Werke stammten allesamt aus den vierziger und fünfziger Jahren. Auch das war falsch, sie waren in der realen Welt, in meiner Welt, erst wesentlich später verfasst worden.
Ich legte sie alle in meinen Korb, stellte dafür die Werke von Heinlein und Simak zurück, ich musste dem hier erst einmal auf den Grund gehen. Das Wochenende verbrachte ich damit, sie alle zu lesen. Meine Eltern mussten akzeptieren, dass ich nicht mit zu den Großeltern fuhr, das hier war wichtiger!
Sie waren gut, sie waren besser als die Originale, die ich kannte. Dieser Zoran hatte einen besseren Stil. Er hatte die Längen, die die Originale durchaus hatten, gestrafft, einige neue Ideen eingebracht und einfach phantastisch geschrieben. Der Liste am Ende der Bücher entnahm ich, welche Werke er noch geschrieben hatte. Allesamt bekannte Bücher, Bestseller in meiner Zeit. Er hatte jedoch nicht den Fehler begangen, sie mit den endlosen Fortsetzungen zu beglücken, nein er hatte immer nur das jeweilige Hauptwerk neu geschrieben. Bände sprach für mich der Herr der Ringe, als phantastisches Fantasywerk mit 300 Seiten angepriesen. Der Mann schien wirklich mit Verstand an die Nacherzählung herangegangen zu sein!
Ich ließ das Buch in meiner Hand sinken. Mir war mittlerweile klar geworden, was hier geschehen war. Dieser Randolph Zoran musste ein ähnliches Schicksal wie ich erlitten haben, er hatte jedoch etwas daraus gemacht. Mit seinem Wissen und seiner schriftstellerischen Begabung, hatte er sicherlich viel Geld verdient, führte jetzt bestimmt ein sorgenfreies Leben. Konnte ich das auch? Ich überlegte, wie ich mein Vorauswissen über die Entwicklung der Welt einsetzen könnte. – Die Lottozahlen der kommenden Woche wusste ich nicht, so weit, so gut ...
1977, was wusste ich noch über diese Zeit? Herzlich wenig, wie ich mir eingestehen musste. Nachschlagen konnte ich auch nirgendwo. Wer war denn aktuell in Deutschland an der Regierung? Brandt? Oder war es schon Schmidt? Egal, das ließ sich herausfinden. Auf jeden Fall wusste ich, dass 1982 Kohl die Ära der SPD geführten Kabinette ablösen würde. Ließ sich damit etwas machen? Was war mit den Terroranschlägen der RAF, die fielen doch auch in diese Zeit. Konnte ich da Honig saugen, die Behörden irgendwie informieren? Tschernobyl, das war sicherlich etwas, das verhinderungswürdig war, fiel mir ein. – Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ein vierzehnjähriger Junge mit überbordender Fantasie, mit der literarischen Vorliebe für Science Fiction, der die offiziellen Stellen Jahre vorher von einer Katastrophe in einem Kernkraftwerk im Ostblock unterrichtete?
Nein, ich benötigte Unterstützung, das war klar, aber welche? Wen hatte ich denn in meinem eigentlichen Leben kennengelernt, den ich jetzt aktivieren könnte? Ich hatte in den 1980ern in der Verwaltung eines Konzerns gearbeitet, der in Duisburg im Innenhafen saß. Da könnte ich versuchen anzusetzen. Mein damaliger Chef, Peter Wilhelm Groß, den würde ich kontaktieren!
Und was sollte ich ihm sagen? Hallo, hier ist ihr zukünftiger Debitorenbuchhalter, ich weiß, Sie kennen mich noch nicht, aber ich kann Ihnen wichtige Daten der Zukunft verraten? – So ging das nicht. Ich brauchte zwei Wochen, bis ich mir eine Strategie zurechtgelegt hatte.
Von Kettwig aus war es eine Himmelfahrt. Ich brauchte Stunden, bis ich in Duisburg im Innenhafen anlangte. Die Schule hatte ich an diesem Montag geschwänzt, nun stand ich vor dem etwas heruntergekommenen Bürogebäude und näherte mich dem Pförtner. Ihn kannte ich noch von früher, ein freundlicher, alter Mann, der bald nachdem ich hier angefangen hatte, in Rente gegangen war. Er sah mich erstaunt an, es geschah sicherlich nicht oft, dass ein Jugendlicher hier auftauchte.
»Zu Herrn Groß willst du?«, fragte er erstaunt. »Ich glaube nicht, dass er Zeit für dich haben wird«, nahm der Pförtner mein Anliegen entgegen.
»Oder zu seiner Chefsekretärin, Frau Schmidt«, fügte ich an. Die musste damals schon hier gewesen sein. »Oder von mir aus auch zu Herrn Bürger, dem Chef der Buchhaltung«, entfuhr es mir, der hatte mich damals eingewiesen, war auch schon lange Jahre hier angestellt gewesen, bevor ich hier angefangen hatte.
»Du willst ja hoch hinaus, kennen dich die denn alle?«, fragte er erstaunt.
Ich war versucht zu nicken, aber das stimmte ja noch nicht, sie würden mich erst kennenlernen, in gut zehn Jahren! »Bitte lassen Sie mich hinein, ja?«, sagte ich. »Es ist wichtig!« Ich schien ihn überzeugt zu haben, allein dadurch, dass ich die Namen diverser Entscheidungsträger des Unternehmens kannte.
»Guten Morgen, Herr Börner«, hörte ich hinter mir eine wohlbekannte Stimme.
Ich drehte mich um. »Lisa«, sagte ich. Die Frau, die hinter mir stand und nun durch die Eingangstür wollte, sah mich erstaunt an.
»Kennen wir uns?«, fragte sie.
Sie sah gut aus. Lisa Brenner, sie war drei Jahre älter als ich und hatte hier eine kaufmännische Ausbildung absolviert, bevor sie dann auf Dauer in die Buchhaltungsabteilung übergewechselt war. Lange, dunkle Haare, schmales Gesicht, ungefähr 1,60 Meter groß, weiße Bluse, roter Minirock, weiße Stiefel. So hatte ich sie nicht in Erinnerung, aber sie gefiel mir auf Anhieb.
»Noch nicht«, entgegnete ich und wurde rot. Platte Anmache.
Sie lachte und maß mich von oben bis unten. Irgendwie war klar, dass ich ihr etwas zu jung vorkommen musste. »Woher kennst du meinen Namen?«, fasste sie nach.
»Er will zum Chef«, sagte der Pförtner. »Ersatzweise auch zu Frau Schmidt oder Herrn Bürger. Nehmen Sie ihn mit hoch, Fräulein Brenner?«
Sie nickte. »In Ordnung, komm mit«, sagte sie in meine Richtung gewandt. »Ich will aber wissen, woher du mich kennst!« Wir stiegen zusammen die Treppen empor.
Viele Treppen, vier Geschosse, bis ins oberste Geschoss, hier war die Chefetage, gleichzeitig war hier auch die Buchhaltung untergebracht. »Wen bringen Sie uns denn da, Fräulein Brenner?«, fragte Frau Schmidt, als wir oben angelangt waren.
»Keine Ahnung, Frau Schmidt«, entgegnete Lisa. »Er will zum Chef.«
»Zum Chef?«, fragte die Chefsekretärin irritiert nach.
Ich nickte. »Es hört sich für Sie sicherlich etwas merkwürdig an, aber ich kenne ihn, Sie und auch noch so einige andere Menschen, die hier arbeiten. Ich möchte Ihnen etwas über die nahe Zukunft berichten.«
Die Chefsekretärin sah mich von oben herab über ihren Brillenrand an. Sie wusste nicht so recht, wie sie mit mir umgehen sollte. In ihren Augen musste ich einen durchaus gepflegten Eindruck machen, ich hatte mich in meine besten Klamotten gesteckt. Mein Anliegen war trotzdem äußerst ungewöhnlich.
»Sie trinken morgens immer eine ganze Kanne Kaffee, vorher sind Sie äußerst unleidlich, da geht man Ihnen am besten aus dem Weg«, sagte ich forsch. »Herr Bürger kommt regelmäßig immer eine Viertelstunde zu spät ins Büro, als Chefbuchhalter kann er sich das leisten und der Chef hat in seinem Schreibtisch eine Flasche Cognac versteckt, unten rechts in der Schublade.« Mein Wissen lag von hier aus gesehen zehn Jahre in der Zukunft, ich vertraute darauf, dass die Gewohnheiten bereits jetzt vorlagen.
Lisa und Frau Schmidt starrten mich entgeistert an.
»Hat der Chef sich bereits das Bein gebrochen?«, fragte ich unvermittelt weiter. »Er erzählt die Geschichte immer und immer wieder. Er ist im Treppenhaus ausgerutscht und eine ganze Treppe hinuntergestürzt, ich bin mir nicht sicher, wann das war, aber es muss in den späten Siebzigern gewesen sein.«
»Junger