Geschichten eines Geistreisenden. Axel Kruse
ab. »War doch irgendwie klar, dass du es nicht hast«, maulte er und fragte schon andere Mitschüler.
Ich sah auf meine Uhr, noch gut fünf Minuten bis zum Unterrichtsbeginn, konnte ich es noch schaffen, die Hausaufgaben abzuschreiben? Stefan hatte eine Mitschülerin davon überzeugen können, dass es lebensnotwendig war, dass sie ihm ihr Heft lieh, also los, hinterher. Wir schrieben beide so schnell und so viel ab, wie wir konnten, bis zum Klingelton und etwas darüber hinaus. Wir hatten knapp die Hälfte des Textes geschafft, als Sabine uns ihr Heft wieder abnahm, Frau Matthay hatte das Klassenzimmer betreten.
Alle Mitschüler holten nunmehr ihre Hefte heraus und legten sie aufgeschlagen auf die Tische. Frau Matthay ging herum, kontrollierte oberflächig die Texte. Vor meinem Tisch blieb sie stehen, schaute kritisch auf das Heft. War ja klar, auch mir, wenn ich denn Lehrer gewesen wäre, wäre aufgefallen, dass der Text zu kurz war. »Morgen nochmal«, war ihr Kommentar dazu. Auch Stefan hatte Pech, wie noch drei weitere Mitschüler. Die Stunde verlief quälend langsam. Ich bekam mit, dass Stefan unter dem Tisch irgendwelche anderen Hausaufgaben abschrieb. Welche wohl? Es lief mir erneut siedend heiß den Rücken herunter, sollte es dieser Tag sein? Dieser Tag, sechs Einzelstunden, mit sechs vorzulegenden Hausaufgaben, von denen ich nicht eine gemacht hatte! Es war dieser Horrortag, der schlimmste in der ganzen Schulzeit. Danach hatte ich es seinerzeit kapiert und die Hausaufgaben ernster genommen. Maximal drei Aufgaben pro Tag, vorzugsweise die der später liegenden Stunden, konnte ich schaffen in den Pausen abzuschreiben, aber nicht sechs. Drei musste ich selber erledigen, das hatte ich dann später beherzigt, aber heute ..., heute war eben dieser schreckliche Tag!
Englisch, danach Mathe, dann Erdkunde, Geschichte, Französisch (der Horror schlechthin bei Herrn Huch) und dann noch Physik. Ich versuchte alles zu schaffen, manche Lehrer sahen nicht so genau hin, bei vieren fiel ich auf, Pech gehabt, wie damals. Sabine fragte mich nach zwei Pausen entnervt, ob ich denn überhaupt nichts gemacht hätte. Ich zuckte mit den Achseln, was sollte ich auch antworten? Irgendwie ging dann dieser Schultag doch vorüber.
Der allgemeine Schüleraufbruch nach der sechsten Unterrichtsstunde war phänomenal für mich. Dass es so katastrophal war, war mir in meiner Erinnerung nie so vorgekommen. Vor allem der Start der fahrradfahrenden Schüler war bemerkenswert. Dutzende Räder steuerten gleichzeitig das Nadelöhr, auch Tor genannt, an, durch das man hindurch musste, um vom Fahrradhof über den Gehweg die Straße zu erreichen. Den Gehweg, der nunmehr von den übrigen Schülern auf ihrem Weg nach Hause genutzt wurde und das alles ohne Kollisionen, ohne Schutzhelme. – Die Diktatur der Fürsorge hatte, zumindest was die Fahrradfahrer anging, noch nicht eingesetzt, die Helmpflicht kam erst Jahre später. Damals machten wir uns noch lustig über die blödsinnige Vorschrift, dass jetzt Mofafahrer einen Integralhelm zu tragen hatten, ließen wir die doch mit unseren Rädern quasi auf der Straße stehen.
Das Gros der Schüler, die mit dem Fahrrad unterwegs waren, wandte sich nach rechts, korrekt der Einbahnstraße folgend. Ich fuhr entgegen der Fahrtrichtung nach links und erreichte nach nicht einmal einhundert Metern dann wieder Rechtssicherheit, da dort die Straße in beide Fahrtrichtungen befahren werden durfte. Für mich war es notwendig diesen Weg zu nehmen, da er mich an der Bude an der Corneliusstraße vorbeiführte. Wie ich in der Schule mitbekommen hatte, war heute Donnerstag und donnerstags erschien immer das neue Zack-Heft. In meiner Hosentasche hatte ich die dafür notwendigen 1,50 DM gefunden, ich musste sie mir wohl am gestrigen Abend zu eben diesem Zweck eingesteckt haben. In die Comicabenteuer vertieft, radelte ich einhändig weiter, wieder am Friedhof an der Brederbachstraße vorbei und entschied mich dann, das Rad den kompletten Berg nach oben zu schieben, um dabei weiter schmökern zu können. Die Comics kannte ich zwar alle noch fast auswendig, hatte ich sie mir doch später in meinem Erwachsenenleben erneut in Luxusausgaben zugelegt, aber es war ein besonderes Gefühl, die Erstausgabe im deutschsprachigen Raum quasi druckfrisch in den Händen zu halten.
Irgendwann langte ich dann zu Hause an, stand vor der Tür und traute mich nicht hinein. Wie sollte ich mich verhalten? Das etwa vierzehnjährige Kind spielen? Der Comic war ja gut und schön gewesen, aber jetzt war ich in der Realität angekommen. Ich entschied mich dazu, erst einmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen und versuchte den Nachmittag so zu verbringen, wie ich ihn damals verbracht haben könnte, sogar an die Hausaufgaben wagte ich mich heran. Dröges Zeug, überspitzt dargestellt: Warum sollte ich seitenweise 1+1 rechnen, wenn ich kapiert hatte, wie es ging? – Nun, ich hatte es ja nicht kapiert, aber diese Hausaufgaben brachten mich diesbezüglich auch nicht weiter.
Ich sah mir mein Bücherregal an, fast ausschließlich Karl May, den konnte ich jetzt wirklich nicht mehr lesen. Aber da, da waren ein paar Bücher von B. Traven, mein Vater hatte sie mir seinerzeit überlassen, die hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen, ich vertiefte mich in die Rebellion der Gehenkten und der Nachmittag verging wie im Fluge.
Nach dem Abendessen verschwand ich zügig im Bett, las das Buch zu Ende und schaltete das Licht aus. Ich lag noch lange wach und dachte an den morgigen Tag. Würde ich wieder hier aufwachen oder würde ich in meine Zeit zurückkehren? – Irgendwann schlief ich ein.
Mein Vater strich mir sanft über den Kopf. »Du musst aufstehen, mein Sohn«, sagte er dabei. »Die Schule wartet.« Der Lichtschein aus dem Flur fiel mir ins Gesicht.
Ich kletterte aus dem Bett, diesmal vorsichtiger, wegen der Legosteine, begab mich ins Bad und führte das morgendliche Ritual aus. Wie sollte ich den Tag verbringen? So tun, als ob alles normal wäre, so wie gestern? Ich dachte an meine Familie, meine Frau, meine Kinder. Wo waren sie? Warum war ich hier? Wie war ich hierhergekommen? – Die Maschinerie des Alltags brachte mich zum Funktionieren.
Eine Idee schoss mir durch den Kopf, die Stadtbücherei. Ich war doch damals immer in die Stadtbücherei gegangen, hatte mir dort Bücher ausgeliehen. Hatte ich den dazu notwendigen Ausweis bereits oder musste ich ihn erst beantragen? Wo pflegte ich denn damals das Teil hinzulegen? Ich wusste es nicht mehr. Im Portemonnaie war er nicht, auf dem Bücherregal ebenfalls Fehlanzeige.
Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. »Thomas, beeil dich, du musst los, du kommst sonst zu spät«, rief sie aus der Küche.
Ich antwortete nicht, der Ausweis war jetzt wichtiger. – Da, unter einem Stapel Papier lugte er hervor, glücklich ergriff ich ihn und steckte ihn ein. Jetzt konnte erst einmal nichts mehr schiefgehen, in der Stadtbücherei in Kettwig hatten sie ein zwar beschränktes, aber dann doch anständiges Sortiment an guten Büchern. Etwas genervt, ich konnte es kaum abwarten, brachte ich die Schule hinter mich und fuhr dann, selbstredend entgegen sämtlicher Einbahnstraßenregelungen, durch die Kettwiger Altstadt zur Stadtbücherei.
Zielstrebig betrat ich die Räumlichkeiten, sie sahen noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Da, vor Kopf, dieses Regal, dort standen sie, die Bücher, die mich interessierten. Mit dem Finger fuhr ich die Buchrücken ab, sofort breitete sich ein Gefühl der Enttäuschung in mir aus, aber was hatte ich denn erwartet? Die hier stehenden Werke kannte ich alle bereits, wie sollte es auch anders sein? Damals hatte ich sie doch über Jahre hinweg ausgeliehen und gelesen und mir später dann auch noch gekauft, als ich über eigenes Geld verfügte. Ich konnte den Inhalt der meisten Werke fast rezitieren!
Ich fing noch einmal im obersten Regalfach an, da stand eine Reihe mit Titeln von Asimov, geniale Bücher in ihrer Zeit, für mich mittlerweile etwas altbacken. Einige russische Autoren schlossen sich an, auch die hatte ich damals gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite, kein Wort ausgelassen, trotz der offensichtlichen Ideologie, die hier transportiert wurde, aber mir ging es um die Idee, die hinter den Werken stand und die war oft genug trotzdem genial.
Weiter. Da kam Clarke, Heinlein und da ... Simak! Ich griff zu. Wie oft hatte ich den gelesen, sämtliche seiner Bücher, oft, mehrmals. Vor allem seine Kurzgeschichten, einfach genial, der Mann. Ich blätterte herum, ja, da war sie! Der große Vorgarten, die Geschichte, die mich so sehr beeindruckt hatte. Vier Bücher von Simak wanderten in meinen Korb. – Wie viele Bücher durfte ich mir gleichzeitig ausleihen? Egal, ich nahm mir noch zwei Werke von Heinlein, ebenfalls Kurzgeschichten, da war er in meinen Augen stark und bückte mich zu den unteren Regalreihen. Ringwelt, nein, das musste ich nicht noch einmal lesen, war zwar nicht so schlecht gewesen hatte aber Längen und dann diese endlosen Fortsetzungen, Niven hatte bestimmt gut daran verdient.