Geschichten eines Geistreisenden. Axel Kruse

Geschichten eines Geistreisenden - Axel Kruse


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hatte überzogen, mein Plan war hin. Ich griff in meine Hosentasche, holte ein Blatt Papier heraus. »Hier, meine Adresse und Telefonnummer, ich habe alles darauf notiert. Außerdem noch ein paar Ereignisse, die bald eintreten müssten.« Ich blickte verzweifelt zu Frau Schmidt hinüber. »Mogadischu, die Entführung der Landshut ...«, ich sah in ihren Augen, dass sie mir nicht mehr folgen wollte. Auch meinen Zettel nahm sie nicht entgegen. Ich ließ mich von Lisa hinausführen.

      Schweigend gingen wir die Treppen wieder nach unten. Auf dem vorletzten Treppenabsatz hielt sie mich am Arm fest und sah mir in die Augen. »Woher kennst du mich?«, fragte sie. »Was soll das Ganze?«

      »Schwer zu erklären«, entgegnete ich. »Dazu brauchen wir mehr Zeit.« Ich ergriff die Chance und hielt ihr mein Blatt Papier hin. »Wenn du willst, ruf mich an, wir treffen uns dann und ich erklär dir alles.« Sie nahm den Zettel wortlos entgegen und komplimentierte mich hinaus.

      Zurück nach Hause benötigte ich ebenfalls wieder Stunden, ich kam zumindest einigermaßen rechtzeitig zu Hause an, sodass meine Mutter davon ausgehen konnte, dass ich in der Schule gewesen sein musste. Eine Entschuldigung zu fälschen fiel mir nicht schwer, darin hatte ich mehr als genug Übung.

      Es dauerte lange, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, aber im Oktober 1977, genauer gesagt, am 14. Oktober läutete bei uns das Telefon. Meine Mutter nahm ab und rief mich dann. »Eine Lisa für dich«, ihre Stimmlage drückte Neugier aus, es war das erste Mal, dass mich ein Mädchen anrief.

      Ich verfluchte die Technik der Siebziger. Unser Telefon stand im Flur, direkt neben der Wohnungseingangstür. Zentral zu erreichen, jeder, der sich in Küche oder Wohnzimmer befand, hörte das komplette Gespräch mit, da das Kabel, mit dem das Gerät mit der Wandbuchse verbunden war, nur etwa einen Meter lang war und sich somit nicht mitnehmen ließ.

      »Ja«, sagte ich nur.

      »Thomas?«, fragte Lisas Stimme.

      »Ja«, erwiderte ich erneut.

      »Woher wusstest du das? Woher kennst du mich? Muss ich jetzt zur Polizei gehen?« Sie klang aufgeregt, sehr aufgeregt. An die Möglichkeit, dass ich in Schwierigkeiten, in erhebliche Schwierigkeiten kommen könnte, hatte ich nicht gedacht.

      »Können wir uns treffen?«, fragte ich sie. Stille am anderen Ende der Leitung war die Folge meiner Frage. Ich fasste noch einmal nach. »Soll ich nach Duisburg kommen?«

      »Nein«, entgegnete sie. »Ich komme zu dir. Ich habe meinen Führerschein gemacht, habe ein kleines Auto. Ich komme nach Kettwig. Da gibt es doch sicher irgendwo ein Café?«

      Wir verabredeten uns für den kommenden Samstag in der Kettwiger Altstadt. Meine Eltern mussten erneut damit klarkommen, dass ich nicht mit zu den Großeltern gehen konnte, das hier war einfach wichtiger, was mein Großvater sicherlich nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren würde, aber das war mir egal. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie er toben würde, weil ich es wagte, nicht zu erscheinen.

      Sie sah phantastisch aus. Das lange, dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, saß sie mir im Café gegenüber. Ich hatte nur Augen für diese Frau. Es musste schon ein wenig seltsam für die anderen Gäste anmuten, für ein Paar waren wir beide doch noch zu unterschiedlich. Ich mochte vielleicht als ihr kleiner Bruder durchgehen, mehr aber auch nicht.

      Wir hatten uns vor dem Café getroffen und saßen nun inmitten älterer Damen an einem Fensterplatz. Vor mir stand eine Tasse Tee, sie hatte sich Kaffee und ein Stück Obstboden bestellt. »Ich habe nicht viel Geld«, stotterte ich. »Mein Taschengeld reicht gerade mal dafür«, ich wies auf den Tee.

      Sie grinste. »Wir befinden uns in den Siebzigern, da geht es durchaus modern zu«, erwiderte sie. »Ich lade dich ein.«

      Wenn du wüsstest, dachte ich im Stillen und nickte dankbar. An dieser desolaten Situation mit dem Geld musste ich schleunigst etwas ändern.

      »Also, raus mit der Sprache«, sagte sie dann unvermittelt. »Woher kennst du mich? Woher wusstest du das mit der Flugzeugentführung? Beim Sturz des Chefs kannst du ja deine Finger nicht im Spiel gehabt haben. – Das ist übrigens das einzige, das mich davon abhält zur Polizei zu gehen«, fügte sie noch an.

      Ich lehnte mich im Stuhl zurück, schloss kurz die Augen und überlegte, ob ich ihr wirklich die Wahrheit erzählen sollte. Was konnte mir denn schon passieren?, überlegte ich. Im Extremfall stand sie einfach auf und ging. Selbst wenn sie zur Polizei gehen würde, was hätte sie denn in der Hand? Einen Zettel, auf dem ich notiert hatte: 1977 Mogadischu, Entführung des Flugzeuges. – Nun, das war seit gestern weltbekannt, also, was hatte ich zu verlieren? – Ich erzählte ihr alles.

      Sie stand nicht auf und ging nicht, vielmehr blieb sie lange sitzen und dachte nach. »Starker Tobak, den du mir da auftischst«, sagte sie dann nach einer Weile. »Aber ..., in Ordnung. Was machen wir jetzt daraus?«

      Ich war mir selber nicht sicher. Das Problem mit dem Vorauswissen war, dass ich zwar vieles wusste, aber eben nicht, wie man damit zu Geld kommen konnte. Außerdem war mein Wissen, was konkrete Daten anging, doch recht beschränkt. Was mochte es im Jahr 1977 bringen, zu wissen, dass sich die FDP 1982 von der SPD abwenden und so Helmut Kohl Kanzler werden würde? Das war so ein Datum der relativ nahen Zukunft, das sich mir eingeprägt hatte. Das war die erste Bundestagswahl gewesen, zu der ich meine Stimme abgegeben hatte. – Aber ..., ließ sich daraus etwas machen?

      Wir beschlossen, dass ich weiter zur Schule gehen sollte. Wir trafen uns dann regelmäßig am Wochenende, wobei Lisa mich ausfragte. Alle möglichen Details kamen zu Tage. Bill Gates mit Microsoft, fiel mir beispielsweise ein. Konnte man sich nicht an den Zug dranhängen? Mir schwebte vor, Lisas Chef dazu zu bewegen, ein größeres Investment zu tätigen. Microsoft würde sich bestimmt gut dazu eignen, aber wie kam man an Gates ran? Und vor allem, wie weit war er denn 1977 bereits gewesen? Brauchte er denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch einen Partner aus good old Germany? – Irgendwie passte das alles nicht. Und die Lottozahlen der kommenden Woche fielen mir partout nicht ein!

      Die Schule ging etwas besser als seinerzeit. Ich konnte mich tatsächlich überwinden, etwas mitzumachen. Ja, mir gelang auf dem Zeugnis sogar ein Dreierschnitt. Vor allem aber machte es mir Spaß, mich für all die kleinen Gehässigkeiten zu rächen, die mir einzelne Mitschüler angetan hatten. Vor allem dieser Lars, ein schmächtiger Junge aus einer der Parallelklassen. Den hatte ich gehasst, allerdings erst Jahre später. 1978 hatte ich noch überhaupt keine Berührungspunkte mit ihm. Erst in der Oberstufe hatten wir dann Kurse zusammen und da war er mir gegenüber mehr als arrogant und ziemlich ekelhaft aufgetreten. – Der arme Kerl, ich hatte wirklich fast so etwas wie Mitleid mit ihm, wusste überhaupt nicht, was ihm geschah, als ich ihm auf dem Nachhauseweg auflauerte, seine Schultasche wegriss und über die Friedhofsmauer warf. Er wagte nicht einmal, sich zu wehren, ich war körperlich größer und hatte genug Selbstvertrauen, um ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen.

      Friedhofsmauer? Ich blieb überrascht stehen. Jetzt war ich bereits monatelang hier meinem Schulweg gefolgt und erst jetzt fiel mir auf, dass der Friedhof entlang der Brederbachstraße von einer rund drei Meter hohen Backsteinmauer eingefasst war. In meiner Erinnerung war das anders gewesen. Schmiedeeiserne Gitter, ja, daran erinnerte ich mich genau! Hier war so einiges anders, als in meiner Erinnerung, nicht nur, dass die Werke bekannter Autoren von diesem Randolph Zoran geschrieben worden waren. Es gab auch diese anderen, kleinen Änderungen im Detail. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Die einzige logische Erklärung war, dass es andere wie mich geben musste, die sich an ihr früheres Leben erinnerten. Sollte ich versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen? Zusammen könnten wir bestimmt mehr erreichen, als als einzelne Individuen. Aber, was zum Teufel, hatte denn dann diese Mauer zu sagen? Das ergab doch keinen Sinn. Welche Art von Vorauswissen würde denn dazu führen, hier eine Backsteinmauer anstatt der schmiedeeisernen Gitter anzubringen? – Ich gab es auf, darüber nachzudenken.

      Die Jahre zogen ins Land, ich sah Lisa tatsächlich nach wie vor an jedem Wochenende. Meine Eltern hatten sich bereits daran gewöhnt. Irgendwann, ich war mittlerweile zwanzig Jahre alt, hatte meine Schule abgeschlossen und eine Lehre bei Peter Wilhelm Groß begonnen, zogen wir dann zusammen. Etwas wirklich elementares, mit dem


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