Schwarzer Kokon. Matthias Kluger
Eines Nachmittags – im Spätsommer 1732 – vernahm Zola ein sonderbares Geräusch. Es war wie das Geplapper vieler, durcheinanderredender Menschen. Vorsichtig, doch entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Fluss. Je näher sie diesem kam, desto stärker vernahm Zola die seltsamen Laute. Als sie aus dem Wald trat, stand sie auf einer Anhöhe und überblickte das gesamte Tal. Ein betörendes Bild tat sich ihr auf. Neben bewaldetem Gebiet erkannte sie eine große Seenlandschaft. Tausende von Vögeln flogen oder standen in der Nähe der Gewässer, schnatterten und kreischten. Der überwältigende Anblick, der sich ihr bot, gab ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl von Freiheit. Lange saß sie auf einem Stein, bestaunte den Sonnenuntergang, der das Tal in ein tiefes Rot färbte und sich im Wasser spiegelte. Als die Dunkelheit hereinbrach, genoss sie noch immer das Gefühl, glücklich zu sein.
Es raschelte neben ihr, als die Wölfe zu ihr gelangten. Sie spürte die raue Zunge des Leitwolfes, als dieser ihre Wange schleckte. Das restliche Rudel begann zu jaulen, als wollte es für Zola ein Lied anstimmen, bevor sie den Anführer drängten, wieder mit in den Wald zu kommen. Doch dieser blieb in der Nacht neben Zola, während der Rest der Meute in der Dunkelheit verschwand.
Am nächsten Morgen machte sich Zola wieder auf den Weg. Sechs Tage nochmaliger Fußmarsch Richtung Norden. Weitere fünf Tage später lag sie schlafend unter einem großen Laubbaum, dessen vormals grüne Blätter jetzt goldbraun schimmerten.
Im Traum sah sie Tumelo, wie er auf einem weißen Schimmel angeritten kam. Behände sprang er vom Pferd und sie spürte seine Hand auf ihrer Wange. Doch statt der weichen Haut der Handflächen, war es ein stechendes Gefühl. Als ob ein Specht seine Arbeit verrichtete, um ein Loch für sein Nest zu bauen. Ihre Hand wischte im Schlaf an ihrer Wange, dann erwachte sie.
»Zola, wach auf. Wir brauchen deine Hilfe.«
Nach und nach erkannte sie, dass es der Schnabel des Sperlings war, der sie in die Wange piekste. »Was ist los? Wer braucht meine Hilfe?«
»Lass alles hier. Nimm nur dein Messer mit und folge mir.«
Der Sperling flog in Sichtweite voraus, Zola rappelte sich auf und folgte ihm in die Nacht. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Dann hörte sie ein Jaulen. Es war ein jämmerlicher Laut, durchsetzt von Angst. Wenig später sah sie ihn. Ihr Leitwolf taumelte aufgeregt um die eigene Achse und biss hektisch in seine Vorderpfote. Irgendetwas schien seinen Vorderlauf festzuhalten. Geduckt schlich Zola näher, bis sie, neben ihm angekommen, vorsichtig sein Ohr streichelte, was ihn zu beruhigen schien.
»Ruhig, ruhig«, flüsterte sie, während sie zur Vorderpfote blickte. Scharfe Eisenkrallen hatten sich in sein Fell geschlagen und hielten ihn fest. Das halbrunde Metallgebilde wurde durch eine im Waldboden verankerte Kette gesichert. Zola zog mit aller Kraft an der Kette, ohne dass die Verankerung auch nur einen Millimeter nachgab. Beim Versuch, beide Krallen der Falle auseinanderzupressen, hätten sich fast ihre eigenen Finger in dem Ungetüm verfangen. Im zweiten Anlauf gelang es Zola, die Eisenzähne so weit auseinanderzupressen, dass der Wolf sein Bein herausziehen konnte. Hechelnd fiel ihr Wolf mit heraushängender Zunge zur Seite.
Sie betrachtete die Wunde ihres Freundes. Das Fell der Pfote war blutverschmiert. Sie musste sie reinigen und mit Eisenkraut behandeln. Während sie noch die Verletzung ihres Freundes betrachtete, vernahm sie plötzlich ein leises Rascheln direkt hinter ihrem Rücken. Blitzschnell zog Zola ihr Messer, sprang auf und drehte sich um. Der Gewehrkolben schlug wie ein Blitz auf ihre Stirn und sie verlor im Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein.
Als Zola wieder zu sich kam, hämmerte ein dumpfer Schmerz an ihrer Stirn, brachte in Erinnerung, dass sie ein heftiger, harter Schlag getroffen hatte. Sie lag auf einer Pritsche in einer geräumigen, aus schweren Holzstämmen erbauten Hütte. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer. Darüber ein großer Kessel, dem ein wohlriechender Duft direkt in ihre Nase entstieg. Ihre Hände tasteten vergeblich nach ihrem Messer, als die Türe geöffnet wurde.
Zola versuchte aufzustehen, um sich dem Angreifer zu stellen, doch ihre Beine versagten den Dienst. Auch verrutschte ein nasses Tuch, welches ihre Stirn bedeckte, derart, dass es ihr die Sicht versperrte. Sie warf den feuchten Stoff auf den Boden und sah, dass zwei stämmige Beine in Fellhose vor ihr standen.
Zola sah einen Mann, dessen Gesicht nur aus zwei Augen und einem dicht gewucherten Bart zu bestehen schien. Selbst die Nase war durch den dichten Haarwuchs kaum zu erkennen. Nicht allein das Aussehen des Mannes (hatte er überhaupt einen Mund?) flößte ihr Angst ein, nein, es war seine Größe. Einen solch gigantischen Menschen hatte sie zuvor noch niemals gesehen.
Langsam beugte er sich zu ihr, hob das Tuch vom Boden und ging schweigend zur gegenüberliegenden Seite des Raumes. Dort stand ein großer hölzerner Trog. Er tauchte das Gewebe ein, trat schweren Schrittes zur Pritsche und reichte ihr den nassen Lappen.
»Kannst du mich verstehen?« Seine Stimme war dunkel, grollend wie die eines Donners. »Sag, kannst du meine Sprache?«
Er zog einen Schemel heran und nahm Platz. Sitzend hatte er ungefähr die Größe, die Zola für normal erachtete.
»Dann werden wir es schwer haben, wenn du nicht sprechen kannst.« Seine Augen lagen bohrend auf Zola.
»Ich …« Zolas Hals war heiser und ihre Worte klangen krächzend. »Ich kann Sie verstehen.«
»Na, das nenne ich Fortschritt. Wenigstens etwas. Hast du Hunger?«
Langsam wich die Angst. Hätte er sie töten wollen, so würde sie bestimmt nicht in dieser Hütte liegen. Zola nickte.
Der Hüne stand auf und füllte eine breiige Masse aus dem Kessel in eine Holzschale. Er reichte Zola die Schale mit einem Holzlöffel. Vorsichtig begann sie den heißen Brei zu essen. Es war seit Langem ihr erstes gekochtes Gericht.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen. Der Wumms, den ich dir verpasst habe, war heftig, oder?« Sein Lachen hatte einen dröhnenden, doch angenehmen Klang. »Natürlich war es heftig, ha, ha, du hast richtig tief geschlafen. Was hat so ein zierliches Ding wie du im Wald verloren? Und dann noch Wölfe retten. Hab so was ja noch nicht erlebt.« Er schüttelte seinen großen Kopf hin und her und sein kinnlanges, zotteliges Haar schwang mit.
»Wo ist er?«, fragte Zola vorsichtig.
»Du meinst den Wolf? Hab so was ja noch nicht erlebt.« Wieder schüttelte er sein Haupt und Zola war außerstande, selbst wenn er sprach, seine Lippen zu erkennen. Einzig der Bart bewegte sich. »Du wirst es nicht glauben. Dieser Köter ist mir den ganzen Weg hierher humpelnd gefolgt und sitzt jetzt in einiger Entfernung vor der Hütte. Sobald ich auf ihn zugehe, verschwindet er, um kurze Zeit danach wieder da zu sitzen, wo er vorher war. Das nenn ich Freundschaft. Er ist doch dein Freund, oder?«
»Wo bin ich?«
»Na, hier in meiner Hütte, nicht unweit davon entfernt, wo sich dein Freund in meiner Falle verfangen hat. Du musst doch vorsichtig sein, Kindchen, hier draußen wimmelt es vor Gefahren. Sei nur mal froh, dass du mir begegnet bist. Besser als den Cherokee oder deren Erzfeinden, den Chickasaw. Na, da hättest du nichts zu essen bekommen, das sag ich dir. Von wo bist du denn abgehauen? Sklavin, oder?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na, wie kommt der alte Hugh da drauf? Da hier die Schwarzen nicht an den Bäumen wachsen vielleicht? Und dann hast du noch die Narbe am Unterarm. Ist mir gleich aufgefallen. Wer hat dir denn das Brandmal entfernt?«
»Ich selbst«, antwortete Zola stolz.
Hughs Blick verriet Erstaunen und Bewunderung. »Dich sollte man nicht unterschätzen! Das sag ich dir. Sei froh, dass du keinen Brand bekommen hast. Hab’s schon gesehen. Erst wird die Wunde schwarz, dann der Arm und dann, ja, dann bist du Futter für die Wölfe. Hab’s schon gesehen.« Wieder musste er lachen und dieses Mal entlockte er auch Zola ein Lächeln. »Ich bin übrigens Hugh, lebe schon länger hier draußen. Und du, wie soll ich dich nennen?«
»Zola.«
»Zola? So einen Namen hab ich ja noch nie gehört. Gefällt mir. Wenn du