Schwarzer Kokon. Matthias Kluger

Schwarzer Kokon - Matthias Kluger


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als auch Wasser zu suchen. Sie fühlte sich einsam und dachte mit geschlossenen Augen abermals an ihre Mutter. Leise weinend schlief sie ein.

      Nachts erwachte sie kurz aus ihrem Schlaf. Neben ihr ein warmer, leise atmender Körper. Der Leitwolf lag an sie geschmiegt und schlief.

      Als sie morgens zu sich kam, lag sie auf taufeuchtem Moos. Es roch nach den nächtlichen Aromen des Waldes. Der Wolf war verschwunden. Zola lauschte und konnte das Rauschen des Flusses hören. Sie dehnte ihre müden Glieder, rieb sich den Schlaf aus den Augen und machte sich auf den Weg.

      Keine zwanzig Minuten später kam sie an eine Lichtung, von der aus der Fluss zu sehen war. Zu ihrer Verwunderung erstreckte er sich einige Meter unterhalb des Waldes. So musste eine geeignete Stelle gefunden werden, um über einen steilen Abhang nach unten zum Ufer zu gelangen. Dort angekommen, fand sie eine ruhige Stelle, die ihr die Möglichkeit bot, zu trinken und ihre Flasche aufzufüllen. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog sie sich aus und ihre Füße gingen vorsichtig ins kalte, klare Nass. Erfrischendes Kühl umspülte ihren zarten Leib und sie schrubbte mit beiden Händen jeden Zentimeter ihres Körpers. Als wolle sie allen Dreck, jede Berührung der vergangenen Tage und Nächte von sich waschen. Brennender Schmerz erinnerte sie an die Stelle ihres linken Unterarms. Die Wunde zeigte neben einer dunklen Blutkruste einen Rand aus Eiter. Sie entfernte ihn vorsichtig mit Wasser, dann zog sie ihr Baumwollkleid über den nassen Körper.

      Auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, gelangte Zola zurück in den schützenden Wald. Erfrischt, gleichwohl ihr Magen knurrte. „Geh nicht an den Proviant“, mahnte sich Zola abermals und setzte ihren Weg fort.

      Gegen Mittag säumten niedrige Sträucher, welche dunkelblaue, fette Beeren trugen, ihren Weg. Nicht wissend, ob gut oder giftig, steckte sie hungrig vorsichtig eine in den Mund. Langsam kaute sie. Der Geschmack besaß eine sonderbare Süße. Sie führte eine zweite in ihren Mund und entschloss sich, für eine Pause auf einem Baumstumpf Platz zu nehmen. Wartend, welche Wirkung die Beeren zeigten. Würde ihr übel, so hoffte sie, wenig des Giftes in sich zu haben. Insgeheim wünschte sie natürlich, dass nichts passierte, denn der Geschmack der Beeren war wunderbar.

      Nach einer Stunde, ohne dass sie Übelkeit überfiel, entschied sie, die Beeren zu essen und einen Vorrat zu sammeln. Während sie vornübergebeugt Beeren in ihren Beutel füllte, überfiel sie erneut der Schmerz ihrer Wunde am Unterarm. Gelblicher, schmieriger Eiter trat aus der Wunde.

      »Du solltest dich um die Wunde kümmern.«

      Zola fuhr erschrocken herum. Da saß er, der Sperling, und sprach zu ihr, als ob es das Natürlichste der Welt wäre.

      »Sie schmerzt. Ich habe sie vorhin schon mit Wasser gereinigt.«

      »Ich sagte dir, du wirst viel lernen müssen. Was glaubst du, hätte deine Mutter gemacht?«

      Zola sah traurig zum Sperling. »Kannst du mir sagen, wie es ihr geht?«

      »Es geht ihr gut. Sie und ich sind eins. Du und ich sind eins. Komm mit!«

      Schon flog der Spatz und Zola musste eilen, ihm zu folgen. Sie rannte über den Waldboden, übersprang Wurzeln und Gestrüpp, bis sich der Sperling auf einem Ast in Zolas Augenhöhe niederließ.

      »Siehst du die Pflanze dort? Pflücke, zermalme und vermische sie mit Wasser. Nimm ein großes Blatt, dann streiche es ein. Lege es auf deine Wunde.«

      Zola sah die lilafarbenen Blüten des Eisenkrauts, ohne diese zu kennen. Schon nach Tagen, die Anweisung wiederholend, trat Besserung ein. Zola hatte ihre ersten Lektionen gelernt. Der Wald war ihr neues Zuhause!

      Chief Willson hatte einen Mordskater. Bis tief in die Nacht hatten er und einige seines Departments die Nachricht gefeiert, dass der zuständige Bundesrichter die Todesstrafe im Fall Sanders in Erwägung zog. Das Schwein Jeff Sanders sollte erledigt werden! Hatte er doch einen von ihnen gekillt.

      So traf ihn heute Morgen die Schlagzeile der Washington Post wie ein Hammer, der mit viel Schwung direkt auf sein Gesicht einschlug:

      »OBERSTER GERICHTSHOF ENTSCHEIDET GEGEN TODESSTRAFE. Der Oberste Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Samuel Rudolph hat sich im Fall Jeff Sanders gegen die Anwendung der Todesstrafe ausgesprochen. Ein endgültiges Urteil steht noch aus. Wie bereits berichtet, hat der angeklagte Farbige Jeff Sanders in der Nacht vom …«

      Wie konnte es so weit kommen? Fassungslos las er nochmals die Schlagzeile, ohne sich den weiteren Ausführungen zu widmen. In welchem Land leben wir, wenn solche Schweine ihrer gerechten Strafe entgehen? Der Nigger hatte einen seiner Kollegen hingerichtet. Wie ein Schwein abgestochen und jetzt sollte er auf Staatskosten ein friedliches Dasein bei kostenloser Verpflegung und nachmittäglichen Basketballspielen fristen. Zwar für immer hinter Gittern, aber – lebend!

      Ich werde etwas unternehmen! Das bin ich meinem Kollegen, allen Weißen und mir schuldig. Und wenn es das Letzte ist, dachte Willson.

      Er entnahm seinem Portemonnaie einen zusammengefalteten Zettel und wählte die darauf notierte Nummer.

      »Haskins.«

      »Hallo, Senator, Deputy Chief Willson. Ich habe wenig Zeit und komme gleich zur Sache. Haben Sie die Washington Post gelesen?«

      »Sie meinen die heutige Ausgabe?«

      »Natürlich die heutige Ausgabe, Senator!« Willson war merklich aufgebracht. »Senator, können Sie sich vorstellen, wie sich ein Cop der USCP nach diesem Schlag ins Gesicht fühlt?«

      »Willson, die Entscheidung wurde vom Bundesgericht getroffen, nicht von mir.«

      »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass diese Entscheidung nicht mit Vertretern des Senats diskutiert wurde. Wie konnte es so weit kommen?«

      »Chief Willson, ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind, aber …«

      »Kein aber, Senator. Das Schwein hat einen Weißen abgestochen. Unser Kollege trug die gleiche Dienstmarke wie ich und Tausende andere. Es kann nur eine Strafe geben, die Spritze, die diesen Nigger fertigmacht.«

      »Noch mal, Willson, Sie sprechen mit dem Falschen.«

      »Nein, Senator, bei allem Respekt, Sie sind mir was schuldig. Mir und meinen Kollegen.«

      »Wie meinen Sie das?«, fragte Haskins, wissend, wie er es zu interpretieren hatte.

      »Sie haben es mir zu verdanken, dass Ihr Sohn und damit auch Sie nicht auf Seite 1 der Washington Post standen. Schon vergessen?«

      »Sicher nicht, aber wollen Sie mich jetzt damit erpressen?«

      »So etwas würde ich nicht mal denken, Senator. Aber ist es nicht schon immer in der Politik so: Eine Hand wäscht die andere? Reden Sie mit dem Richter, machen Sie irgendwas. Es sollten andere Schlagzeilen über diesen Nigger in der Zeitung stehen. Meinen Sie nicht auch?«

      Und damit legte er auf.

      Zola war nicht alleine unterwegs. Tagsüber begleitete sie ein Sperling, auch wenn dieser nicht ständig zu sehen war. Des Nachts lag stets ein Freund an ihrer Seite. Der Leitwolf. Dennoch fehlten Zola die Menschen, die sie früher um sich hatte. Tumelo, Sam, Mrs. Baine und natürlich ihre Mutter Aba. Der Sperling aber verlieh ihr das sonderbare Gefühl, ihre Mutter wäre bei ihr. Auch deutete dies der kleine Spatz immer wieder an. Dass sie mit einem Vogel sprach, wunderte sie nicht mehr.

      Zola lief tagelang, ohne daran zu denken, sich in einer Höhle oder gar selbst gebauten Hütte niederzulassen. Nahrung fand sie reichlich. Beeren, Pilze, selbst Fische zu fangen, hatte sie gelernt. Stundenlang stand sie bewegungslos im Wasser des Flusses, um im Bruchteil einer Sekunde mit bloßen Händen nach dem Fisch zu greifen. Sie aß den Fisch stets roh, da sie es vermied, ein Feuer zu entzünden. Die Technik, kleine Holzspäne durch Reiben zweier Feuersteine


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