Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
Klicken der Blende war zu hören. Ein bedächtiger Ton, der anzeigte, dass ein einzelnes Foto gemacht wurde, kein automatisches Surren für eine ganze Serie von Bildern, denen allen eines gemeinsam war: Sie verpassten regelmäßig den richtigen Moment.
»Drehen Sie den Körper auf die rechte Seite. Ich brauche Fotos von der Schulterpartie.«
Ein junger Beamter tat, um was er gebeten wurde, und verzog dabei keine Miene. War es Selbstbeherrschung oder jene Art von Abgestumpftheit, zu der seine Arbeit führte? Morgenstern entschied, dem Mann ein hohes Maß an Selbstkontrolle zuzusprechen.
Der Polizeifotograf nahm eine Reihe von Bildern auf. Er wusste, worauf es ankam. »Danke, ich bin fertig.« Sorgsam betrachtete Gärtner noch einmal die Leiche und versicherte sich, dass er nichts übersehen hatte. Bedächtigen Schrittes stieg er die Stufen, die zur Straße führten, nach oben. Er schaute Morgenstern prüfend an. »Soll ich ihn abschießen?«
»Wie bitte?«, erkundigte sich Morgenstern, weil er glaubte, sich verhört zu haben.
Statt eine Antwort zu geben, zielte Gärtner mit der Kamera auf den Paparazzo im ersten Stock. Ein paarmal klickte der Apparat und löste eine Salve von Bildern aus. »Typen wie der sind die voyeuristischen Augen einer sensationshungrigen Gesellschaft. Egal, welch hehrem Anspruch Fotografen zu folgen vorgeben, letztendlich füttern sie die Bedürfnisse der Neugierigen. Sehen Sie es ihm nach! Voyeurismus ist ein Menschenrecht, oder?«
Morgenstern wusste darauf keine Antwort.
»Die Fotos der Leiche haben Sie in einer Stunde auf Ihrem Schreibtisch.«
Wie lange Gärtner schon für das LKA arbeitete, hätte Morgenstern nicht sagen können. Sie kannten einander, hatten aber nie Vertrautheit aufgebaut. Genau genommen, kannte er nur dessen Fotos. Bilder, die menschliche Abgründe in allen Facetten dokumentierten. Vielleicht lag es an der Perfektion der Aufnahmen, dass Morgenstern und Gärtner nie mehr als drei Sätze wechselten.
Klausen hielt sich hilflos am Ende des Stegs auf. Er schien unter Schock zu stehen, riss sich aber zusammen und beantwortete die ihm gestellten Fragen. Er war eine beeindruckende Erscheinung, groß gewachsen, kräftig und von der Sonne braun gebrannt. Kriminalkommissar Bruno Biondi, Computerspezialist und bestangezogener Mitarbeiter der Mordkommission, der unablässig auf der Suche nach einem passenden Partner war und jede Gelegenheit nutzte, um auf sich aufmerksam zu machen, erfasste routiniert die Daten. Aus Erfahrung wusste Morgenstern, wie wichtig es war, Zeugen sofort zu vernehmen, um zu vermeiden, dass unterschwellige Wertungen die Aussagen beeinflussten.
Als Biondi seinen Chef bemerkte, winkte er kurz und machte eine Bewegung, als wischte er hektisch über eine imaginäre Scheibe. Morgenstern stieg die Stufen hinab, ging an das Ende des Stegs und stellte sich zu ihm und Klausen.
»Ich reinige das Deck routinemäßig jeden Morgen«, erklärte Klausen und beobachtete, wie Biondi die Aussage auf seinem Tablet erfasste.
»Ist es üblich, Wasser aus der Spree zu nehmen?«, erkundigte sich Morgenstern. Er deutete auf den Eimer, den die Spurensicherung in einen Plastikbeutel verpackt hatte. Dann ergänzte er: »Hans Morgenstern, Kriminalhauptkommissar. Ich zeichne für die Ermittlungen verantwortlich.«
Ein schneller Blick auf den Ausweis genügte Klausen, bevor er antwortete: »Das ist gang und gäbe. Wasser ist Mangelware auf einem Schiff.«
Biondi, der ein untrügliches Gespür dafür zu haben schien, welcher Tatort welche Garderobe verlangte, notierte auch diese Information. Stilsicher hatte er nach dem Aufstehen eine blaue Hose, die passenden Sneakers sowie ein blau-weiß gestreiftes Hemd gewählt, das, hochgekrempelt, seine sonnengebräunten Arme vorteilhaft präsentierte. Für Morgenstern ein Rätsel, kam doch die Meldung über die entdeckte Leiche im Historischen Hafen, als Biondi im Büro vor dem Computer saß. Schon des Öfteren hatte Morgenstern den Kollegen ehrenhalber in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen, weil der in Kleidung erschienen war, die auf den Mordfall abgestimmt zu sein schien. Den obligatorischen Kommentar verkniff sich Morgenstern. Stattdessen stellte er Klausen die nächste Frage: »Ist Ihnen gestern oder heute früh etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Klausen überlegte kurz und griff dann in seine Hosentasche. Er zog das Freundschaftsband heraus und betrachtete es erneut. »Das habe ich an Bord gefunden. Scheint gestern jemand verloren zu haben. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass einer meiner Passagiere so etwas getragen hat.«
Biondi holte eine Beweismitteltüte aus seiner Tasche und ließ das Band darin verschwinden. Dabei machte er ein Gesicht, als entsorge er einen schweren modischen Fauxpas.
»Können Sie mir sagen, wie Sie gestern Abend Ihre Zeit verbracht haben?«
Klausen schaute Morgenstern mit einem resignierenden Blick an, der eine tiefsitzende Verbitterung nicht zu kaschieren vermochte. Er hatte die Frage erwartet. »Ich war allein in meiner Wohnung. Niemand hat mich gesehen. Keine Anrufe. Keine Zeugen.«
Morgenstern, dem die Anspannung des Kapitäns der Spreeschnuppe nicht entgangen war, fragte instinktiv: »Ist Ihnen die Tote bekannt?«
Klausen rieb sich unsicher die Hände. Während er kräftig ausatmete, nickte er müde und ließ dabei die Schultern hängen.
Morgenstern und Biondi wechselten erstaunte Blicke. Mit dieser Reaktion hatte keiner von beiden gerechnet.
»Ihr Name ist Sina Rogatz. Eine ehemalige Studierende von mir. Wir hatten ein …«, er hielt kurz inne, »… ein Missverständnis miteinander.«
»Sina Rogatz? Die Adoptivtochter von diesem Immobilienhai?«, fragte Biondi unvermittelt. Als seine Annahme mit einem Nicken bestätigt wurde, atmete er besorgt aus und ließ ein leises Pfeifen hören.
Dem Leiter der Mordkommission 1 entging das nicht, wusste er doch aus der bisherigen Zusammenarbeit, dass dies ein Zeichen für bevorstehende Komplikationen war. »Sie hatten miteinander ein Missverständnis?«, erkundigte er sich verwundert über die Formulierung.
»Das übliche Klischee: Professor in den besten Jahren verfällt dem Reiz einer Studierenden.«
Morgenstern zog genervt die rechte Augenbraue hoch. »Können wir uns auf Normaldeutsch unterhalten? Wir sind nicht von der Sprachpolizei.«
Klausen starrte Morgenstern entgeistert an, als sei schon die Bitte, auf das zu verzichten, was in akademischen Kreisen als Political Correctness empfunden wurde, eine Zumutung. Mit den Jahren hatte er den Begriff der Studierenden derart verinnerlicht, dass ihm die Absurdität des zwangseingeführten Wortes nicht mehr bewusst war. Verunsichert antwortete er: »Sina gehörte zu jenen Studenten, denen das Studium leichtfiel. Und ich war einer jener Dozierenden …«, schnell verbesserte er sich, »… Dozenten, die ihr Potenzial erkannten und sie förderten. Bewundernde Worte ihrerseits auf einer Studentenparty, ein paar Gläser Alkohol zu viel, und ich war meiner Vernunft beraubt. Das ist sieben Jahre her.« Klausen hielt inne und beobachtete die Aktivitäten an Bord der Spreeschnuppe. Zwei Männer bemühten sich, die Tote möglichst vorsichtig in einen Leichensack zu legen.
»Können Sie uns sagen, was damals geschehen ist?«
Ohne den Blick von den Beamten auf seinem Schiff zu wenden, antwortete Klausen: »Abgesehen davon, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe? Nichts! Es war ein Missverständnis. Ja, wir haben die Nacht in meinem Büro verbracht, allerdings nicht so, wie die Presse es mutmaßte. Einen intimen Kontakt gab es nicht. Sina hat ihren Rausch auf dem Sofa ausgeschlafen. Ich habe sie zugedeckt. Mehr nicht.«
Morgenstern runzelte die Stirn. Die Erklärung kam ihm wie eingeübt vor. Vielleicht lag es daran, dass Klausen sich ständig hatte verteidigen müssen. Oder er verwendete die Worte mit Bedacht, um Widersprüche in seinen Aussagen auszuschließen. »Sie hatten ein Sofa im Büro?«
»Wenn es zu spät wurde, habe ich dort geschlafen. An jenem Abend feierte die Abteilung. Uns wurden Fördermittel für die Forschung zur Verfügung gestellt. Sina hatte zu viel getrunken, und ich habe ihr in einem Anfall von Nächstenliebe meinen Schlafplatz überlassen.«
»Wo haben Sie die Nacht verbracht?«
»Auf