Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
geil darauf, Karriere zu machen. Ein Master mit Auszeichnung in Vertragsrecht. Zweitstudium Biochemie. Ihren Doktor hat sie auf dem Gebiet des Patentrechts für den biotechnologischen Bereich erworben. Die feilt sich die Zähne, wenn es sein muss. Wir schicken sie nach Hanoi und stellen ihr einen Vorstandsposten in Aussicht. Ganz nebenbei ist das auch noch gut für die beschissene Gleichstellungsquote.«
»Ist sie nicht ein bisschen jung?«
»Wir brauchen jemanden, der unverbraucht, sympathisch und glaubwürdig rüberkommt. Das nimmt man ihr ab. Wichtiger noch, sie ist knallhart. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.«
»Solvig Bormann?«
Rudolf zeigte seine strahlend weißen Zähne.
Sein kleiner Bruder wusste, was das bedeutete. »Hast du sie gebumst?«
Der ehemalige Ringer lachte laut, als hätte er einen guten Witz gehört. »Das war mir nicht vergönnt. Nur ein paar Fotos mit meinem Smartphone, beim täglichen Rapport, unterm Schreibtisch. Kurzer Rock, jeden Tag ein anderer Slip. Manchmal gar keiner. Hat sie dummerweise bemerkt.«
»Rudolf, du bist ein Schwein. Sexuelle Belästigung – genau das brauchen wir jetzt noch!«
Erneut gab Rudolf Peisker ein beherztes Lachen von sich, das Stolz und Verachtung zugleich ausdrückte. »Brüderchen, das läuft unter Konzeptkunst. Wie gesagt, die Süße kann knallhart verhandeln.«
Alfred Peisker dachte nach. Sicherlich, es würde sie einiges kosten. Die Vietnamesen würden sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen. Aber wenn alle vernünftig waren, ließ sich das Ärgernis noch unter den Teppich kehren. Rudolfs Idee klang gut. Solvig Bormann verfügte über die fachliche Kompetenz, war, was Rechtsfragen anging, gut aufgestellt. Und offensichtlich verstand sie etwas davon, heikle Situationen vorteilhaft auszunutzen und nicht gleich in Panik zu verfallen. »Kläre du das! Nichts Offizielles. Du und ich treten nicht in Erscheinung. Ich muss mich um unseren Partner in Asien kümmern. Die Schlitzaugen sind ziemlich clever.«
° ° °
Nach einer ersten Beratung im LKA und der Verteilung der Aufgaben verschwand Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern in seinem Büro. Er setzte sich auf seinen Stuhl und sinnierte über die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher erlangt hatten.
Gegen jede Gewohnheit hatte auch der Leiter des LKA 1, Max Herting, an der Beratung teilgenommen. Seit Tagen geisterte das Gerücht durch die Gänge, dass der Chef der Berliner Mordkommissionen seinen Eintritt in den Ruhestand verschieben wolle. Selbst Atheisten neigten unter diesen Umständen unweigerlich dazu, himmlischen Beistand zu erbitten. Vergeblich! Tatsächlich verkündete Herting stolz, dass er sich bereit erklärt habe, weitere zwei Jahre die Geschicke der Abteilung zu führen. Hoch motiviert drohte er, die an dem Fall arbeitenden Beamten mit seiner jahrelangen Erfahrung zu unterstützen. Bei einigen führte diese Ankündigung fast schon zu Panikattacken.
Alle waren sich darüber einig, dass es keinen Grund gab, Mathias Klausen vorläufig festzunehmen. Vorerst galt der Kapitän der Spreeschnuppe nicht als tatverdächtig. Offiziell wies ihm die Akte den Status eines Zeugen zu. Dem ehemaligen Professor eine Fluchtabsicht zu unterstellen wäre nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen absurd.
Dennoch machte sich Morgenstern Sorgen, die er weder beschreiben noch mit Argumenten stützen konnte. Seine Berufserfahrung oder eine unbestimmte Ahnung, die sich aus den ungewöhnlichen Begleitumständen des Falls nährte, war der Grund dafür. Sina Rogatz war nicht irgendein Opfer. Ihr Vater Walter Rogatz war eine schillernde Persönlichkeit, deren Investmentunternehmen weltweit Niederlassungen besaß – Berlin, New York, London, Barcelona, Istanbul, Neu-Delhi und Kapstadt waren die wichtigsten. Seine Holding war an diversen Unternehmen beteiligt und investierte beträchtliche Summen in lukrative Immobilien.
Dass die Leiche seiner Adoptivtochter unter dem Ausflugsdampfer jenes geschassten Professors gefunden worden war, der Jahre vorher in Verdacht geraten war, sich an ihr vergangen zu haben, schien bedenklich. Die Tote sollte gefunden werden, und selbstverständlich sollte die Kriminalpolizei über diesen Zusammenhang stolpern. Das war offensichtlich, fand Morgenstern. Mit den Jahren hatte er zwei Dinge verinnerlicht. Erstens: An Zufälle konnte man glauben, nur taugten sie in der Realität nicht als Antwort. Zweitens: Alles hing mit allem zusammen, wie bei einem Schachspiel. Alle Figuren verhielten sich auf dem Spielfeld wie Magneten, zogen einander an oder stießen einander ab. Ein neuer Zug konnte schlagartig dazu führen, dass sich die gesamte Konstellation veränderte.
Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Morgenstern das Gefühl, dass jemand versuchte, die Ermittlungen zu manipulieren. Männliche Intuition nannte er das mit einem Schmunzeln und brachte damit regelmäßig Anna Balin, seine Lebensgefährtin, zum Lachen.
Ein gerahmtes Bild, das er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und das auf seinem Schreibtisch stand, riss Morgenstern aus seinen Gedanken. Als ein »Geliebtinnenbild« bezeichnete es Anna. Sie war der Überzeugung, dass es ein Gesetz oder eine Verordnung gab, die Polizisten verpflichtete, das Foto ihrer Herzallerliebsten am Arbeitsplatz angemessen zu platzieren. Ein unverzichtbarer Glücksbringer zur Stärkung des seelischen Gleichgewichts. Und selbst wenn es keine amtliche Bestimmung gab, täte Morgenstern ihr Bild garantiert gut.
Nachdenklich nahm Morgenstern das Porträt in die Hand und strich mit dem Daumen liebvoll über das abgebildete Gesicht. Heute war ihr zweieinhalbjähriges Kennenlernjubiläum. Dass er sich mit seinen vierzig Jahren erneut verliebt hatte, hielt er für ein kleines Wunder. Anna bestand darauf, das Jubiläum angemessen zu feiern. Beide konnten auf eine gescheiterte Ehe zurückblicken und gingen behutsam mit dem neuen Glück um. Noch immer knisterte es zwischen ihnen, auch wenn Routine in ihren Umgang Einzug gehalten hatte. Nichts, was Morgenstern Sorgen bereitete – dennoch, er war auf der Hut. Beziehungen verbrauchten sich, wenn man sie nicht pflegte, hatte ihn das Scheitern seiner Ehe gelehrt.
Anna hatte für den Abend eine kulinarische Überraschung angekündigt, ohne auch nur ein winziges Detail zu verraten. Nachfragen brachte nichts, stattdessen hatte sie an jene männliche Intuition appelliert, die ihm verraten sollte, was sie in ihren Töpfen an Leckerem zubereiten würde.
Seit ihrem ersten gemeinsamen Urlaub an der Ostsee zog sie ihn mit diesem Thema auf. Nach ein paar Plastikbechern Wein am Strand hatte er damals von der maskulinen Form der Eingebung gesprochen. Während beide verliebt den Sonnenuntergang beobachtet hatten, behauptete er: »Meine männliche Intuition sagt mir, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, archaische Veranlagungen in körperliche Aktivitäten umzusetzen. Ich finde, wir sollten das Bett der Ferienwohnung durchwühlen.«
Die umständliche Umschreibung seiner Begierden löste bei Anna einen Lachanfall aus. Schließlich erklärte sie mit ernster Stimme: »Männliche Intuition gibt es nicht!«
»Was macht dich da so sicher?«, erkundigte er sich und tat beleidigt.
»Du magst archaische Bedürfnisse haben, aber diesen Druck, den du verspürst …«, sagte sie und kicherte dabei albern, »… also der Druck, Genmaterial weiterzugeben, hängt ausschließlich mit frühzeitlichen männlichen Urängsten zusammen.«
»Wie bitte?«, erwiderte er mit gespieltem Unverständnis, legte schmollend den Kopf auf ihren Schoß und schaute sie vorwurfsvoll an. »Ich hasse es, als Mann nur auf das eine reduziert zu werden. Männer haben auch Gefühle!«
»Selbstverständlich! Hunger und Durst«, entgegnete sie und strich liebevoll mit den Fingern durch sein graumeliertes Haar.
»Du verkennst Männer im Allgemeinen und mich im Besonderen. Y-Chromosom-Träger sind komplexe Lebensformen!«
»Chaotische Zellkonglomerate und erschreckend simpel strukturiert«, konterte Anna. »Männer haben leicht verständliche Bedienungsanleitungen. Frau muss sie nicht erst studieren, um zu wissen, welche Knöpfe gedrückt werden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Seit Urzeiten hat sich daran nichts geändert. Essen, Trinken, Gene weitergeben.«
Protestierend hob er den Finger. »So siehst du mich?«
Statt eine Antwort zu geben, küsste sie ihn.
»Ich möchte