Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
zu erkennen ist.«
Kopfschüttelnd formte Anna seine Haare zu einem Hahnenkamm, wie zuweilen Punks ihn tragen, und gab zu bedenken: »Woher willst du wissen, dass Männer die Bilder gezeichnet haben?«
Er blieb die Antwort schuldig. Schlimmer noch, er musste sich in Gedanken eingestehen, dass er eine andere Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen hatte.
»Wenn der Mann ständig durch den Wald rennt, um Mammuts zu jagen, entwickeln sich zwangsläufig Ängste. Hinter jedem Baum lauert die Gefahr, gefressen zu werden. Der Weg in die heimische Höhle wird aus unerklärlichen Gründen nicht mehr gefunden. Altersbedingt lassen einen die Mammutjägerkollegen als überdrüssige Last zurück. Zweifelsfrei hat das über Tausende von Jahren zu einem evolutionären Trauma geführt. Mit Intuition, gar männlicher, hat das nichts zu tun. Wenn deine Altvorderen nach Wochen nach Hause kamen, verspürten sie garantiert nicht das Bedürfnis, Wände zu bemalen.«
»Du bist gemein!«, hatte er schmollend geantwortet und behauptet, dass er bei derart negativen Äußerungen eine gewisse Verkümmerung verspüren würde.
Morgenstern stellte Annas Bild schmunzelnd zurück auf seinen Schreibtisch und nahm sich vor, ihr abends zu sagen, wie sehr er sie liebte.
Tatsächlich hatten sie es danach am Strand getrieben, wie Anna es zu nennen pflegte. Er hatte Bedenken geäußert und auf seine Position als Kriminalhauptkommissar hingewiesen. Erfolglos. Anna beherrschte seine Bedienungsanleitung perfekt.
Nein, Morgenstern machte sich im Moment Sorgen, weil eine innere Stimme ihm riet, den Tod der jungen Frau aus der Spree mit gebührender Vorsicht zu behandeln. Biondis Informationen über den Investor Walter Rogatz und die Vorliebe seiner Rechtsanwälte, unliebsame Zeitgenossen mit einem Stakkato von Klagen mundtot zu machen, waren legendär.
Verkompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass Herting darauf bestand, die schreckliche Nachricht vom Tod der Tochter persönlich zu überbringen. »Das schulde ich einem alten Freund«, hatte er mit pathetischer Stimme in der Dienstberatung verkündet und, ohne zu überlegen, behauptet: »Walter würde das Gleiche für mich tun!«
Morgensterns Gesicht musste wie ein offenes Buch zu lesen gewesen sein. Angesichts seiner unverholenen Ungläubigkeit hatte sein Chef verärgert gemeint, dass ein wichtiger Termin seine Anwesenheit fordere. Anschließend hatte er die Beratung missmutig und mit erhobenem Zeigefinger verlassen. »Ich bin durchaus in der Lage, persönliche Empfindungen und kriminalistische Anforderungen unter einen Hut zu bringen.«
Keiner hatte Hertings Predigt kommentiert.
Jeder von Morgensterns Kollegen wusste, auf welches Puzzleteil er sich bei dem Mordfall Sina Rogatz zu konzentrieren hatte. Nur die Vorstellung, Herting weitere zwei Jahre als Chef zu ertragen, sorgte für spürbare Resignation.
Morgensterns spätere Nachfrage, wie Walter Rogatz auf den Tod seiner Adoptivtochter reagiert habe, beantwortete Herting knapp mit den Worten: »Wie erwartet – beherrscht.«
° ° °
Linda Mörike versuchte zwar, ihren Status als Zugezogene zu kaschieren, aber da die Kriminalkommissarin ständig Formulierungen verwendete, die keinem Berliner über die Lippen kamen, verriet sie sich regelmäßig. Fragte ein Kollege danach, wann ihr Dienst begann, lautete ihre Antwort »Viertel vor neun« und nicht, wie in Berlin üblich, »Drei viertel neun«. Sie sagte »an Weihnachten« und nicht »zu Weihnachten«. Beim Bäcker verlangte sie Schrippen erst nach kurzem Zögern, als suche sie die passende Vokabel. Versuche, die Berliner Mundart zu verinnerlichen, scheiterten kläglich. Mit der verabreichten Muttermilch war ihr auch der rheinische Dialekt eigen geworden. Wenn es überhaupt jemanden gegeben hatte, der angenommen hatte, Linda habe Berliner Wurzeln, war er spätestens eines Besseren belehrt worden, als sie zum Nachmittagskaffee eine Spezialität kredenzt hatte, die es wahrscheinlich nur in ihrem Heimatort Niederkrüchten gab: Vollkornbrot dick mit Butter bestrichen und mit Spekulatius belegt. Zu ihrem einjährigen Jubiläum bei der Mordkommission brachte sie eine Platte mit den beliebten Leckerbissen mit. Hans Morgenstern verspürte augenblicklich das Gefühl spitzer Zähne. Paul Brenecke umschrieb die eigenwillige Komposition mit »Geschmacksfasching«. Max Herting, der einen Riecher zu haben schien, wann es in seinem Verantwortungsbereich Kulinarisches umsonst gab, nannte die Zusammenstellung »interessant«. Morgenstern probierte aus Höflichkeit und murmelte etwas von »Gewürznelkenallergie«. Einzig Bruno Biondi hatte die Komposition »spannend« gefunden und beherzt zugegriffen.
Niemand von ihnen wusste, wie es Linda Mörike gelungen war, ohne berufliche Erfahrung und direkt nach dem Studium einen Posten in der Mordkommission zu erhalten. Fragen beantwortete sie lapidar mit dem Hinweis »Glück gehabt!«. Dass dieses Glück dem männlichen Bedürfnis des amtierenden Polizeipräsidenten zu verdanken war, den sie bei der Verbesserung seiner Lebensqualität mit der Pressesprecherin des LKA erwischt hatte, behielt sie für sich. Auch über den wahren Grund, warum sie unbedingt in der Abteilung Mord arbeiten wollte, schwieg sie. Einer ihrer Kollegen war jener Mann, der sie mit Gewalt gezeugt hatte. Sie hatte sich geschworen, ihn zu finden.
Als Linda am Nachmittag Morgensterns Büro betrat, um ihm die Tatortfotos vom Märkischen Ufer zu bringen, stellte sie ihm eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch, nahm seine Aktentasche vom einzigen Stuhl und setzte sich. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies zu tun pflegte, hatte Morgenstern anfänglich irritiert. Dennoch sah er keinen Anlass, die Vertrautheit zu unterbinden. Das heiße Gebräu kam stets zum richtigen Zeitpunkt, und sein Duft ließ ihn schwach werden. Menschen mit dem Hang zum Genießen besaßen keinen Standesdünkel. Die anfänglichen Differenzen zwischen dem Hauptkommissar und der Kommissarin hatten sich verflüchtigt. Linda gehörte zu Morgensterns Team, und er war froh darüber.
Anna hatte ihn als bestechlich verurteilt, als er von Lindas Kaffeekünsten und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn regelmäßig überfiel, berichtet hatte. Ihre Begründung: Es bedurfte lediglich eines meisterhaft zubereiteten Genussmittels, um ihn all seine hehren Grundsätze vergessen zu lassen.
Neugierig schaute Morgenstern die Tatortfotos durch. Sie waren tadellos, auf das Wesentliche fokussiert, sie bewahrten Distanz. Zwar zeigten sie das Schreckliche in allen Facetten, aber Hannes Gärtner schien über einen emotionalen Filter zu verfügen, der eine Tragödie in etwas Sachliches verwandelte. Ihm gelang es, einen verwesten Körper wie ein Biotop erscheinen zu lassen. Ein zerschmettertes Gesicht sah auf seinen Bildern wie das Ergebnis einer Laborprobe aus, an der die mechanische Einwirkung eines schweren Gegenstands überprüft worden war. Schusswunden wirkten wie die Krater ferner Gestirne, die eine hochgerüstete Sonde detailliert aufgenommen hatte. Niemand beherrschte das Spiel mit Licht und Fokus so perfekt wie Gärtner. Es gab Kollegen, die derartige Abzüge als kalt bezeichneten. Linda war spontan der Begriff »entmenschlicht« eingefallen. »Den Aufnahmen fehlt jegliche Nähe«, hatte sie noch hinzugefügt.
Morgenstern verspürte Dankbarkeit dafür, dass ihn Gärtners Fotos nicht in seinen Träumen verfolgten.
Eines der Bilder, die nun auf seinem Tisch lagen, zeigte eine Tätowierung. Sie befand sich unterhalb der rechten Schulter der Toten. Gärtner hatte sie mit einem Textmarker eingekreist. Eine Vergrößerung des Ausschnitts zeigte ein stilisiertes Chamäleon.
»Hatte das Opfer noch andere Tätowierungen?«
»Nein, es ist die einzige. Ein eher selten gewähltes Motiv«, antwortete Linda und nippte an ihrem Kaffee. Dann ergänzte sie: »Erfahrungsgemäß wird ein Tattoo bewusst ausgewählt, und meist symbolisiert es eine Überzeugung. Das Chamäleon steht womöglich für Wandelbarkeit.«
»Möglicherweise hat Sina ja nur eine Wette verloren. Oder sie mag diese Viecher.«
»Glaube ich nicht. Vielleicht, wenn es ein Häschen wäre. Von mir aus auch ein Schmetterling. Aber ein Chamäleon? Zu speziell!«
Nachdenklich betrachtete Morgenstern die Vergrößerung. »Was meinst du mit Wandelbarkeit?«, erkundigte er sich und sinnierte gleichzeitig darüber, welche Gründe es geben mochte, dass Menschen sich Endgültiges in die Haut tätowieren ließen.
»Die Wissenschaft bezeichnet das Verhalten dieser Tiere als Mimese, gemeint