Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel

Verschwiegene Wasser - Stephan Hähnel


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potenziellen Bedrohung schützen soll.«

      Morgenstern betrachtete das Tattoo erneut. Es war meisterhaft gestochen. Es musste von jemandem gesetzt worden sein, der sein Handwerk verstand. »Wäre interessant herauszufinden, warum sich Sina ausgerechnet für dieses Motiv entschieden hat. Vielleicht kannst du das Studio ausfindig machen. Thana … Wie hieß das doch gleich?«

      »Thanatose. Benannt nach Thanatos, einem griechischen Totengott. Glaubt man den Überlieferungen, lebt der an einem Ort, wo Nacht und Tag einander begegnen. Angeblich wohnt dort auch der Schlaf.«

      Morgenstern ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Lindas Überlegungen waren interessant. Er würde dem nachgehen, wie jedem Anhaltspunkt, der zur Klärung des Falls verhalf. Besser gesagt, sie würde dem nachgehen.

      Bevor Linda das Büro verließ, betrachtete sie Morgenstern zum wiederholten Male eingehend. Sie scannte jeden Mann im LKA nach verräterischen Gesichtszügen. Ihr Chef hatte den Kopf gedreht und studierte die Daten auf einem Wandkalender. Sein Profil wirkte männlich – markante Züge und ein kräftiges Kinn. Morgenstern war zu jung, um ihr Vater zu sein. Bevor Linda die Bürotür schloss, fragte sie sich, ob sie sich ihm anvertrauen könne. Würde er ihr helfen, ihren Erzeuger zu finden?

      Seit einem Jahr lebte Linda in Berlin. Nach anfänglichen Querelen hatte sie ihren Platz in der Mordkommission gefunden. Dass die meisten Kollegen sie für eine Karrieristin hielten, lag auch daran, dass sie neben ihrer Arbeit für eine Dissertation forschte. Entwicklung der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung in der BRD im Hinblick auf Vergewaltigungsopfer. Die Doktorarbeit diente einzig und allein dazu, unauffällig im Archiv arbeiten zu können. Neugierige Fragen blieben ihr erspart. So erkundigte sich keiner, warum sie in alten Akten recherchierte und sich für Fälle interessierte, die alle aus dem Jahr 1986 stammten, ihrem Geburtsjahr.

      Inzwischen hatte Linda eine Liste aller Mitarbeiter des LKA erstellt, die damals tätig gewesen waren und aufgrund ihres Alters als ihr Erzeuger infrage kamen. Jüngere oder erheblich ältere Kollegen schloss sie aus. Ihre Mutter war damals 29 gewesen. Einige von den Männern auf Lindas Liste arbeiteten im Landeskriminalamt, andere waren die Karriereleiter hinaufgeklettert, wenige hatten, aus welchen Gründen auch immer, den Dienst quittiert. Schließlich war die Gruppe der Verdächtigen auf zwölf Personen geschrumpft. Mit einigen von ihnen arbeitete sie zusammen.

       ° ° °

      Da sich Max Herting freiwillig verpflichtet hatte, die Familie Rogatz zu informieren, beschloss Hans Morgenstern, den Nachmittag damit zu verbringen, die Wohnung der Toten zu besichtigen. Dank Klausens Identifizierung konnte Morgenstern problemlos Sina Rogatz’ Wohnanschrift ermitteln. Sie hatte in einer Wohngemeinschaft in Moabit gelebt.

      Wie befürchtet, befand sich die Wohnung im obersten Stock, und natürlich besaß das Haus keinen Fahrstuhl. Morgenstern klingelte, und statt der Frage, wer Einlass begehre, vernahm er nur die verrauschte Stimme einer Frau. »Vierte Etage!«

      Morgenstern rannte die Treppe im Vorderhaus hinauf, schnell, ambitioniert, den angefutterten Kilos den Kampf ansagend. Außer Atem stand er schließlich vor der Wohnungstür und klingelte erneut.

      Eine junge Frau öffnete und taxierte ihn abfällig. Sie erwartete offensichtlich jemand anderen. »Bringen Sie die Bestellung?«, fragte sie. Die hochgewachsene und sportlich wirkende Frau trug eine zu enge englische Schuluniform. Der karierte Rock war allerdings beträchtlich kürzer, als es an derartigen Lehranstalten üblich war. Er gab den Blick auf grobmaschig bestrumpfte Beine frei, und die gewählte Bluse wurde nur von zwei Knöpfen geschlossen, denen die von einem Korsett gehaltenen Brüste jeden Moment den Garaus zu machen drohten.

      Morgenstern hielt entschuldigend seinen Dienstausweis hoch und musste sich zwingen, keinen Ton der Bewunderung über derart prachtvoll dargebotene Üppigkeit von sich zu geben. »Kriminalhauptkommissar Morgenstern. Wohnt hier Sina Rogatz?« Im selben Augenblick wurde ihm klar, wie absurd die Frage war. »Wohnte«, hätte er fragen müssen.

      »Sie ist nicht hier«, antwortete die Frau verunsichert.

      Morgenstern schaute auf die Namen an der Klingel. »Und Sie sind?«

      »Constanze Kilian.«

      »Kann ich Sie kurz sprechen? Es wäre angebracht, das nicht im Treppenhaus zu tun.«

      Constanze trat einen Schritt zur Seite, und noch bevor die Wohnungstür hinter Morgenstern ins Schloss fiel, fragte sie: »Ist sie tot?«

      Sie stellte die Frage so selbstverständlich, wie sich andere nach der Uhrzeit erkundigten oder danach, ob es notwendig wäre, bei bedecktem Himmel einen Regenschirm mitzunehmen.

      Morgenstern schaute sie erstaunt an. »Warum vermuten Sie das?«

      »Ich zieh mich schnell um. Setzen Sie sich in die Küche. Kaffee ist gerade durchgelaufen. Ich nehme auch einen. Milch, zwei Stück Zucker.«

      Ein paar Minuten später nahm sie die Tasse, rührte kurz um und trank einen Schluck. Sie trug ein ausgewaschenes Sweatshirt und eine Jogginghose, die gemütlich wirkte. Auch wenn ihr jetziges Aussehen die Konzentration auf das Wesentliche förderte, so bedauerte Morgenstern den Kleidungswechsel. Sobald sie am Tisch saß, fragte er: »Warum glauben Sie, dass Sina tot ist?«

      »Sie hat ständig damit gedroht – oder besser gesagt, kokettiert.« Constanze zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Ohne ihn zu fragen, ob er einverstanden sei, zündete sie sich eine an.

      »Wir haben ihre Leiche heute früh aus der Spree geborgen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurde.«

      Die Frau blies den Rauch über ihre Köpfe und bemühte sich, ihre Bestürzung unter Kontrolle zu halten. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Noch bevor sie die ersten Tränen vergoss, zog Morgenstern ein gebügeltes Stofftaschentuch aus seinem Jackett und bot es ihr an. Sie schüttelte den Kopf und legte die Zigarette in den Aschenbecher. Dann stand sie auf, riss ein Blatt Papier von einer Küchenrolle ab und schniefte hinein. Danach setzte sie sich zurück an den Tisch, nahm die Zigarette und wies damit auf das Taschentuch.

      »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt. Alte Schule, oder?«

      Morgenstern antwortete nicht, steckte das Tuch aber wieder ein. »Sind Sie eine Kommilitonin von Sina?«

      »Nein, Sina ist schon seit Jahren mit dem Studium fertig. Wir teilen uns nur die WG.«

      »Wohnt noch jemand hier?«

      »Das dritte Zimmer ist nie vermietet worden. Sina und ich haben zwar darüber nachgedacht, dann aber beschlossen, uns die Kosten für die Wohnung zu teilen.

      »Darf ich fragen, was Sie studieren?«

      »Betriebswirtschaft. Noch zwei Semester, dann habe ich meinen Master.«

      »Das Studium finanzieren Sie, indem Sie sich per Webcam präsentieren?«

      Constanze schaute ihn prüfend an. »Vom Alter her könnten Sie einer meiner Kunden sein.«

      Morgenstern sparte sich einen Kommentar, auch wenn er sich fragte, warum Männer seines Alters virtuelle Frauen realen vorzogen.

      »Männer ab einem bestimmten Alter sind großzügig, wenn sie ihre Fantasien verwirklicht sehen«, beantwortete sie die Frage, obwohl er sie nicht laut gestellt hatte. »Ich habe einen festen Kundenkreis. Zehn Herren insgesamt. Der Älteste ist 78. Sie zahlen für eine Selbsttäuschung. Jeder glaubt, dass ich Gefühle für ihn empfinde.« Sie zog an ihrer Zigarette und bemerkte mit trotziger Stimme, als müsse sie sich entschuldigen: »Das ist anständig verdientes Geld.«

      »Hat Sina auch derartige Dienstleistung angeboten?«

      »Sina?« Constanze zögerte, bevor sie die Frage beantwortete. »Gut zwei Jahre. Anfänglich dachte ich, sie wollte es nur ausprobieren. Macht ausüben und so. Sina war echt talentiert darin. Dabei hatte sie es nicht so mit Männern. Auf Frauen stand sie allerdings auch nicht.«

      »Wie kommen Sie denn zu dieser Einschätzung?«

      Constanze schaute


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