Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
Nicht zuletzt blieb gerade in Deutschland in den Zeiten des landesherrlichen Kirchenregiments die Sorge für die äußere Organisation der Kirche dem Staate überlassen, zumal Luther – im Unterschied etwa zu dem gelernten Juristen Johannes Calvin – ein eigenes System einer Kirchenordnung oder -verfassung nicht entwickelt hatte.
b) Wer Luther und auch die übrigen Reformatoren als Beleg für eine Voreingenommenheit gegenüber dem kirchlichen Recht zitiert, muss allerdings die historische und kirchliche Situation bedenken, in der sie standen und gegen die sie angingen: Nicht das Recht schlechthin stand in ihrer Kritik, sondern dessen Funktion und Bedeutung bei der Vermittlung und Erlangung des Heils, wie sie ihnen in der römisch-katholischen Kirche beigemessen wurden.
Exkurs:
Nach katholischer Auffassung ist die Kirche kraft göttlicher Stiftung nicht nur die Gemeinschaft der Gläubigen, die sich allein auf Gottes Wort gründet und aus dessen Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung lebt (Art. 7 CA). Auf göttlicher Stiftung beruht vielmehr auch die Kirche als Institution, weil, wie es das Konzil von Trient (1546) formuliert hat, Christus nicht nur als Heilbringer, sondern auch als Gesetzgeber der christlichen Gemeinschaft (Christus redemptor et legislator) verstanden wird. Nach katholischem Verständnis entspringt das Kirchenrecht deshalb in seinen wesentlichen Grundlagen unmittelbar der Stiftung Christi. Freilich ist nicht alles Kirchenrecht als göttliches Recht zu verstehen; es ist vielmehr wie folgt zu unterscheiden:
Naturrecht ist der Inbegriff der von Gott in die Menschen gelegten Grundsätze, die, durch bloße Vernunft erkennbar, überall und immer als Richtschnur menschlichen Handelns gelten und damit die Grundlage allen menschlichen Rechts bilden.
Quellen des Offenbarungsrechts sind die Hl. Schrift und die Tradition, wie sie durch die Apostel überliefert oder aus der Lehre der Kirchenväter der ersten Jahrhunderte und der als Kirchenlehrer erklärten Theologen erkannt wurden.
Das Offenbarungsrecht umfasst vor allem das unveränderliche Grundgesetz der hierarchischen Verfassung der Kirche: Christus hat als göttlicher Stifter die Apostel, an ihrer Spitze Petrus als vicarius Christi, mit der Führung und Leitung der Gläubigen und mit Ordnungsgewalt beauftragt. Ihre Nachfolger sind für die gesamte Kirche der Papst und in Unterordnung unter ihn die Bischöfe in den Diözesen.
Zum ius divinum gehören also neben dem Dekalog das Apostolat, der Primat des Papstes und die apostolische Sukzession sowie die hierarchische Über- und Unterordnung, außerdem die Unterscheidung zwischen den beiden Ständen des Klerus und der Laien und das Eherecht.
3.Reformatorisches Verständnis von Kirche und Recht
Für Luthers Kirchenbegriff ist die Unterscheidung zwischen der ecclesia spiritualis und der ecclesia universalis, die sich in die verschiedenen Kirchtümer der ecclesiae particulares gliedert, bestimmend. Die ecclesia spiritualis ist als die Gemeinschaft der wahren Gläubigen Kirche im eigentlichen Sinne. Sie beruht allein auf der Verkündigung des Evangeliums, der Reichung der Sakramente und der Handhabung der Schlüsselgewalt.
Kirche ist aber nicht nur als ecclesia spiritualis zu begreifen, die -obwohl auf Erden wirklich und am Werk – unsichtbar ist, weil Gott allein weiß, wer zu ihr gehört (ecclesia abscondita). Diese bedarf vielmehr einer „irdischen Schauseite“. Die „leibliche Gestalt“ der ecclesia spiritualis ist die ecclesia universalis, die alle Getauften, Gläubige wie Ungläubige, umfasst. Da diese beiden Gestalten der Kirche eine untrennbare Einheit bilden, bestimmt und prägt vorrangig das geistliche Wesen der ecclesia spiritualis auch die äußere Kirchenorganisation der Universal- und der Partikularkirchen. Die Ordnung der ecclesia universalis muss deshalb dem Geist und den Prinzipien der ecclesia spiritualis entsprechen. So ist das Kirchenrecht aus der Verkündigung heraus und zum Dienst am Wort hin zu ordnen und darf die christliche Freiheit der Gläubigen nicht in „Gesetzlichkeit“, die Gleichheit der Glieder Christi nicht in hierarchische Stufungen (wie zwischen Klerus und Laien) verkehren.
Ganz im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche betonte Luther in Konsequenz der evangeliumsgemäßen Konzentration auf Wort und Sakrament einschließlich der Schlüsselgewalt, dass sämtliche Ordnungen des äußeren Kirchenwesens keinen geistlichen Selbstwert beanspruchen können und nicht heilsnotwendig sind. Sie sind vielmehr menschlicher Vernunft und Gestaltungsfreiheit anheim gegeben und erforderlichenfalls auch änderbar. Göttlichen Rechts ist allein der Auftrag zur Evangeliumsverkündigung, zur Reichung der Sakramente und zur Handhabung der Schlüsselgewalt und daraus resultierend die Einsetzung des Predigtamtes.7
Besonders anschaulich wird Luthers Auffassung von Stellenwert und Notwendigkeit rechtlicher Ordnungen in der Kirche in seiner Vorrede zur deutschen Messe von 1526. Dort stellt er fest:
„Summa, dieser und aller Ordnung ist also zu gebrauchen, dass wo ein Missbrauch draus wird, dass man sie flugs abtue, und eine andere mache – denn die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen, und nicht zum Nachteil des Glaubens. Wenn sie nun das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und abgetan, und gelten nichts mehr, gleich als wenn eine gute Münze verfälscht, um des Missbrauchs willen aufgehoben und geändert wird, oder als wenn die neuen Schuh alt werden und drücken, nicht mehr getragen, sondern weggeworfen und andere gekauft werden. Ordnung ist ein äußerlich Ding, sei sie so gut sie will, so kann sie zum Missbrauch geraten, dann aber ist's nicht mehr ein Ordnung, sondern ein Unordnung, darum steht und gilt keine Ordnung von ihr selbst etwas, wie bisher die päpstlichen Ordnungen gerichtet sind gewesen, sondern aller Ordnung Leben, Würde, Kraft und Tugenden ist der rechte Gebrauch, sonst gilt sie und taugt gar nichts.“8
Die Rechtsordnung wird also durch Luther in keiner Weise missachtet oder gering geschätzt, sondern vielmehr in die Reihe notwendiger Gebrauchsgegenstände eingeordnet, die allerdings niemals zum Selbstzweck werden dürfen.9 Nicht zuletzt ist Luther die friedensstiftende Funktion des Rechts bewusst, wie sie insbesondere in Art. 15 und 28 CA angesprochen wird. Danach bedarf es rechtlicher Ordnungen, die „dem Frieden und der guten Ordnung in der Kirche dienen“, schon deshalb, „damit in der Kirche keine Unordnung und kein wüstes Treiben sei“ – aber eben nicht, um damit Gottes Gnade zu erlangen. Sie sind „um der Liebe und des Friedens willen“ zu halten.
So sind bereits zu Lebzeiten des Reformators, teilweise unter seiner Mitwirkung, zahlreiche Kirchenordnungen entstanden, die in Form einer Agende Zeit, Verlauf und Inhalt des Gottesdienstes sowie die Besetzung kirchlicher Ämter regelten, aber auch Bestimmungen u.a. über die Besetzung kirchlicher Ämter, den Schulunterricht, die Armenfürsorge oder Ehesachen enthielten.10
Luther hat selbst immerhin acht solcher Kirchenordnungen verfasst, die allerdings ausschließlich jus liturgicum, aber keinerlei organisationsrechtliche Bestimmungen enthalten: Es handelt sich dabei um drei Gottesdienstordnungen, zwei Taufordnungen, zwei Ordinationsordnungen und eine Trauordnung.11 Kirchenordnungen mit juristischem Inhalt hat er nicht hinterlassen. Dass er aber durchaus Regelungsbedarf für äußere Dinge gesehen hat, zeigt sich an der von ihm inspirierten und mit einem Vorwort versehenen Leisniger Kastenordnung (1523)12, deren Anliegen es war, die zwecklos gewordenen Stiftungen des altkirchlichen Kultus – insbesondere die Stiftungen für Seelenmessen – einer neuen sinnvollen Bestimmung zuzuführen und in einem „Gemeinen Kasten“ zu zentralisieren.13
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