Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
Gesetzgebungsarbeit im technischen Sinne geleistet wurde. In diesem Zusammenhang ist vor allem Johannes Bugenhagen (1485–1558) zu nennen, der das Kirchenwesen nicht nur einer Anzahl norddeutschen Territorien, sondern auch Dänemarks maßgeblich gestaltet hat.
Im Ergebnis gehen auf Luther zwar nicht Einzelheiten, aber tragende Grundsätze des kirchlichen Verfassungsrechts zurück. Zu diesen Grundsätzen gehört insbesondere auch, dass kirchliches Recht in seiner dienenden Funktion gegenüber dem Verkündigungsauftrag, als „Recht der Liebe“ („res publica ecclesiastica unica lege caritatis instituta est“) nicht von Macht, sondern vom Gebot der Liebe und dem Gedanken des Dienstes getragen sein soll.14
Als Dienst versteht Luther vor allem den Dienst des Landesherrn, dessen Autorität er nach dem Wegfall der kirchlichen Obrigkeit für die Durchführung der Visitation in Anspruch nimmt, als Notbischof, welchen dieser nicht kraft seiner weltlichen Herrschaftsgewalt, sondern – übrigens nach dem Rat der Theologen – als hervorgehobenes Mitglied der Kirche ausüben soll. Nur in diesem Sinne war ein landesherrliches Kirchenregiment für Luther akzeptabel. Spätere Begründungen des landesherrlichen Kirchenregiments, insbesondere das Territorialsystem, wonach der Landesherr schon aufgrund seiner Territorialgewalt die Herrschaft auch über die Kirche oder gar ein ius papale für sich in Anspruch nahm, hätte er nicht gebilligt. Wie auch immer: Dadurch, dass Luther die praktische Durchführung der Reformation auch angesichts der damals weitgehenden Identität von Bürger- und Christengemeinde der weltlichen Obrigkeit überließ, wurden die Organisationsstrukturen des lutherischen Kirchenwesens zum Gegenstand des staatlichen Rechts.
Eine intensivere Beschäftigung des Luthertums mit dem Kirchenrecht und der Kirchenverfassung setzte erst ein, als die konfessionelle Geschlossenheit der deutschen Territorien infolge der Napoleonischen Kriege aufgebrochen wurde und sich – wie z. B. in Bayern – lutherische Kirchengemeinschaften in fremdkonfessionell regierten Staaten wiederfanden. Ein bleibendes Verdienst von ausgesprochenen Vertretern des lutherischen Konfessionalismus, allen voran von Wilhelm Löhe, ist es, dass sie in besonderem Maße Fragen der Kirchenverfassung thematisierten und lange vor dem Ende der Monarchie die Ablösung des landesherrlichen Kirchenregimentes forderten.15
4.Der Rechtsbegriff Rudolph Sohms
In ähnlicher Weise zu relativieren ist die Berufung auf Rudolph Sohm, wenn kirchliche Ordnungen in Frage gestellt werden. Sohm geht von einem spiritualistischen Kirchen- und einem rein positivistischen Rechtsbegriff aus. Sohm sieht die Kirche allein als unsichtbare Größe, als ecclesia invisibilis, das Recht dagegen allein als von der staatlichen Gemeinschaft gesetztes, mit Zwangscharakter ausgestattetes Recht. Ein derart formaler und positivistischer Rechtsbegriff ist in der Tat mit dem Wesen der Kirche nicht vereinbar, zumal wenn diese nur als geistliche Gemeinschaft verstanden wird, deren irdische Schauseite aber völlig ausgeblendet beziehungsweise sogar geleugnet wird.16 Sowohl der Rechts- als auch der Kirchenbegriff, wie Sohm sie verstanden hat, gelten heute als überwunden.17 Gleichwohl bleibt Sohms These eine ständige Anfrage und Mahnung an das evangelische Kirchenrecht.
5.Neubesinnung auf das Wesen des evangelischen Kirchenrechts
a) Zu einer Neubesinnung auf das Wesen des evangelischen Rechts kam es nach 1918, als sich die evangelischen Landeskirchen nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments eigenständig zu organisieren und rechtlich zu ordnen hatten, vor allem aber während des „Dritten Reiches“ in der Auseinandersetzung der „Bekennenden Kirche“ mit den „Deutschen Christen“, die eine Übernahme nationalsozialistischer Prinzipien, wie z. B. des Führerprinzips, in der Kirche forderten.
Bei der Barmer Bekenntnissynode von 1934 wurde demgegenüber in der 3. These ihrer Theologischen Erklärung bekannt, dass
–die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen nicht von der äußerlich organisierten, rechtlich geordneten Kirche zu trennen ist, und
–die äußere Ordnung und Gestalt der Kirche keine gleichgültigen Dinge sind, mit denen man beliebig verfahren und die man unbesehen am weltlichen Recht, wie es Vereine oder politische Körperschaften auch haben, ausrichten könnte, sondern die in erster Linie an Selbstverständnis und Auftrag der Kirche gebunden sind.
In der korrespondierenden These 3 der Barmer Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom 31. Mai 193418 wird dies dahingehend zugespitzt:
„In der Kirche ist eine Scheidung der äußeren Ordnung vom Bekenntnis nicht möglich.“
b) Kirchenrecht folgt daher nicht einfach aus dem Umstand, dass die Kirche als (auch) menschliche Gemeinschaft gewisser Regeln des Zusammenlebens bedarf. Es ist somit kein „allgemeines soziologisches Ordnungsmodell“ wie das Recht anderer soziologischer Institutionen19, sondern auftrags- und damit bekenntnisgebunden. Grund und Grenze für alle menschliche Ordnung in der Kirche ist das Bekenntnis zum Herrn dieser Kirche20. Evangelisches Kirchenrecht ist daher auf das evangelische Bekenntnis verpflichtet: „Die Kirche bekennt sich zu ihrem Herrn auch darin, wie sie ihr äußeres Leben gestaltet“.21
Letztlich ist dieser Bezug von Bekenntnis und Ordnung auch eine Rückbesinnung auf Art. 28 CA.
Dabei kann kirchliches Recht durchaus verschiedene Grade von Bekenntnisrelevanz aufweisen22. Das Sakramentsrecht, das Recht des Predigtamts und das Pfarrerdienstrecht, Lehrordnungen und das Recht der Kirchenmitgliedschaft stehen dem Bekenntnis wesentlich näher als andere Rechtsmaterien, wie zum Beispiel das kirchliche Finanz-, Haushalts- und Vermögensrecht, wobei aber auch bei Letzteren die dienende Funktion für den geistlichen Auftrag der Kirche besteht23. So kann die Kirche bei der rechtlichen Gestaltung einzelner Materien auch durchaus auf bewährte Rechtsinstitute weltlichen Rechts zurückgreifen oder diese modifizieren, wenn dies mit ihrem geistlichen Auftrag vereinbar ist. Zum einen lebt sie in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld, „in der Welt“24, und kann daher entsprechende staatliche Regelungen übernehmen. Zum anderen ist die Übernahme staatlichen Rechts auch eine Frage der Zweckmäßigkeit, „ein Mittel zum Zweck, mehr Zeit und Raum für ihr Wirken als Kirche für andere zu haben“25.
Eine unkritische und undifferenzierte Übernahme weltlicher Gestaltungsformen kommt indes nicht in Betracht.
c) Die Erfahrungen des Kirchenkampfes während des „Dritten Reiches“ führten nach 1945 zu einer verstärkten Beschäftigung mit den theologischen Grundlagen evangelischen Kirchenrechts. Damals entstanden vor allem drei Grundlagenentwürfe, die mit den Namen Johannes Heckel, Erik Wolf und Hans Dombois verbunden sind. Diese können hier nur erwähnt, nicht aber näher vorgestellt werden26.
Die Überwindung des doppelten Kirchenbegriffs (Geistkirche und Rechtskirche, ecclesia invisibilis – ecclesia visibilis) und die Wiederentdeckung des ganzheitlichen Kirchenbegriffs in der Barmer Theologischen Erklärung und in diesen Grundlagenentwürfen führten zum Teil zu einem doppelten Rechtsbegriff