Behindert? - Was soll’s!. Mario Ganß

Behindert? - Was soll’s! - Mario Ganß


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regnete, das waren bald 24 Stunden, waren die Waldwege, die zum Zeltplatz führten, so gut wie überflutet. Auch der beste Sandweg ist einmal mit Wasser voll gesogen. Wir konnten nur erahnen, wo in etwa der befahrbare Weg entlangführte. Mein Vater ahnte diesen Umstand schon im Vorfeld und packte sich seine Gummistiefel vorsorglich und griffbereit ins Auto. Wie Recht er damit hatte! Jetzt zog er sie an.

      Da der Weg nicht eben war, bildeten sich unterschiedlich große und tiefe Pfützen, die schon eher kleinen Seen glichen. Zwischen diesen lugte immer mal ein winziger Erdhügel heraus. Diese dienten uns sozusagen als Rettungsinseln. Immer wenn wir so eine Insel erreicht hatten, stieg mein Vater aus und schritt mit seinen Stiefeln die nächste Pfütze ab. Er prüfte wo das Wasser in dieser Senke am niedrigsten stand und wo wir am günstigsten durchfahren konnten. Denn Wasser im Vergaser des Autos hätte zum unweigerlichen Ende dieser wahrhaftigen Spritztour geführt. Mein Vater erkundete so jede Pfütze zentimetergenau und fand immer wieder einen Weg, um hindurch fahren zu können. Manche Stellen erwiesen sich dennoch als eine ziemliche Zitterpartie, denn ganz allzeit sicher war sich mein Vater nicht, ob wir durch dieses oder jenes Loch kommen würden. Da half nur ordentlich Gas zu geben und es zu versuchen. Der Motor heulte dann öfters ganz gehörig auf und einige Male fing er auch an zu Stottern. Dann war doch etwas Wasser in den Vergaser gelangt. Wenn wir in so einem Minisee stehen geblieben wären, wäre dies der Gau des Tages schlechthin gewesen! Wir hatten keinen Rollstuhl, ja noch nicht einmal eine Sitzgelegenheit für mich mit. Meine Eltern und mein Bruder hätten aussteigen und zu Fuß gehen können. Doch ich? Ich war außerdem schon zu groß, als dass mich mein Vater drei Kilometer auf seinen Schultern hätte tragen können. Aber glücklicherweise ließ uns unser Trabi an diesem Tag nicht noch einmal im Stich. Mit Bravour meisterte er jedes noch so tiefe Hindernis und brachte uns treu zu unserem Zelt.

      Dort angekommen ließ der Regen schon ein wenig nach. So hatten wir eine wohlverdiente Chance, unsere Sachen trocken ins Zelt zu tragen. Die Stunden unsere Abwesenheit überstand es ohne Schäden. Kein Ast war heruntergekommen und Wasser floss auch nicht hinein.

      Nach dem Abendessen legten wir uns recht bald schlafen. Ein wirklich aufregender Tag ging zu Ende. Nur noch ganz leise tröpfelte es auf die Zeltplane, genau die richtige Geräuschkulisse, um einzuschlafen. In der Nacht hörte es dann endlich ganz auf zu regnen und am nächsten Morgen konnten wir die recht kühle, aber saubere Waldluft genießen.

       Der langersehnte Tag

      So schön meine ersten großen Ferien auch gewesen sein mochten, fieberte ich doch ihrem Ende entgegen. Konnte ich es kaum noch erwarten, ein richtiges Schulkind zu werden. Immer wieder fragte ich meine Eltern die Wochen zuvor, wie oft ich noch schlafen müsse, bis ich in die Schule käme.

      Der lang ersehnte Tag brach endlich an, Sonntag, der 1. September 1974. Ein besonderer Tag im doppelten Sinne. Nach dem Aufstehen gratulierten wir erst einmal meiner Mutti zum Geburtstag. Aber dann konnte es für mich nicht schnell genug gehen. Vor lauter Aufregung gelang es meinen Eltern kaum noch mich zu bändigen. Über die Freude auf meine bevorstehende Einschulung vergaß ich glatt, dass heute nach langen acht Wochen auch wieder ein Tag des Abschiednehmens gekommen war.

      Nach dem Frühstück ging es gleich los. Da mein Bruder für die Feierstunde und das ganze Drumherum noch zu klein war, ließen wir ihn bei meinen Großeltern.

      Ein richtig schöner Spätsommertag stellte sich ein. Als hinter Halberstadt die hügelige Landschaft begann, konnten wir, wie schon vor einem Jahr, die beginnende Laubfärbung sehen. Doch für solche Naturschauspielchen hatte ich heute überhaupt keinen Blick.

      Gegen Mittag trafen wir in Oehrenfeld ein. Die Zeit erlaubte es noch, in der Waldgaststätte etwas zu essen. Meine Gedanken waren jedoch schon längst bei den anderen Kindern. Außerdem stieg die Spannung auf das bevorstehende Ereignis stetig und so bekam ich nur wenige Happen herunter. Danach fuhren meine Eltern mit mir die wenigen Meter bis zum Heim II. Viel mehr Autos als bei normalen Anreisen standen vor dem Haus. So fiel es nicht leicht, noch eine Parkmöglichkeit zu erwischen.

      Mein Vater trug mich auf den Schultern. Für einen kurzen Moment blieb er vor dem ebenerdigen Eingang stehen und machte mich mehr spaßeshalber auf ein Schild neben der Tür aufmerksam. Er bemerkte meine Anspannung und versuchte, sie etwas zu lösen. »Hier, damit du weißt, wie viele Kinder ihr seid.« Mein Vater las vor: »In diesem Haus befinden sich 29 Kinder.« Die Zahl stand auf einer tafelähnlichen Fläche und konnte so ständig mit Kreide aktualisiert werden.

      Genervt von den Erklärungen meines Vaters mahnte meine Mutti zur Eile. Beim Hineingehen in die Villa erblickten wir eine gewaltige Menschenmenge, bestehend aus Kindern und Erwachsenen. Egal wer, sie mussten alle irgendwie zu den Schulanfängern gehören. Ab und zu erblickte ich bekannte Gesichter aus der Vorschule. Doch auch viele neue Kinder waren unter ihnen. Eigentlich viel mehr als ich dachte. Dafür gab es aber zwei Erklärungen. An diesem Tag wurden zwei Klassen eingeschult. Zum einen waren es die Kinder, die in die normale erste Klasse gehen sollten. Die restlichen Kinder, darunter auch ich, kamen in die sogenannten S-Klassen. Etliche der fremden Knirpse reisten direkt von zu Hause an und wurden ohne den Besuch der Vorschule eingeschult. Wer nun in welche Klasse kam war mir zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt und in diesem Moment auch ziemlich egal. Wollte ich doch einfach nur eingeschult werden!

      Langsam löste sich das Knäuel von Menschen auf. Wir betraten den großen, hellen, mir bekannten Raum, welcher das Jahr zuvor für die Vorschule diente. Zum heutigen Anlass wurde an der angrenzenden Wand am Ende der Fensterseite eine große Schultafel aufgestellt. Diese schmückten viele farbige Luftballons. Auf dieser Seite standen auch die Stühle für uns (Fast)Schulkinder. Sogar an mein kleines Stühlchen, das Seitenlehnen hatte und in dem ich richtig sitzen konnte, wurde gedacht. Es stand gleich in der ersten Reihe. Mein Vater trug mich dorthin und setzte mich hinein. Auf der dunkleren, den Fenstern gegenüberliegende Seite, standen in Querrichtung zahlreiche Stühle für unsere Eltern bereit.

      Nachdem das Getuschel langsam verstummte, trat Herr Mertens, unser zukünftiger Schuldirektor, vor uns, begrüßte uns und stellte sich mit freundlichen Worten vor. Die von den Fenstern hereinfallenden Sonnenstrahlen spiegelten sich auf seinem kahl werdenden Kopf. Er war noch ziemlich jung, knapp vierzig.

      Herr Dr. Friedrich sprach anschließend einige Worte zu uns und wünschte viel Glück und vor allem Freude in der Schule. Nun standen die zwei Verantwortlichen der Einrichtung nebeneinander. Einfach ein putziger Anblick! Der Größenunterschied der Beiden hätte nicht deutlicher ausfallen können. Herr Friedrich war bis dato wohl der Größte vom gesamten Personal, schlank und im gesetzten Alter. Gegen ihn erschien Herr Mertens gleich zwei Köpfe kleiner. Ein kleiner Bauchansatz zeigte sich unter seinem Jackett.

      Ich war völlig begeistert bei den Worten dieser Herren. Obwohl diese sehr freundlich klangen, lösten sie in mir eine gewisse Ehrfurcht aus. Mein Körper verkrampfte sich immer mehr. Ich hatte ein weißes Seidenhemd an. Vor lauter Aufregung hielt ich mich mit der rechten Hand am linken Ärmel fest. Dadurch bekam ich meine Spastik besser unter Kontrolle. In solchen Situationen ist es bei mir so (auch noch heute), dass, wenn ich nervlich sehr angespannt bin, ich schnell zu weinen anfange, egal ob vor Freude oder aus Trauer. Dieses Weinen kann ich dann in solchen Momenten kaum kontrollieren und so endet meine Angespanntheit nicht selten in lauterem Seufzen.

      Meine Mutti hatte direkten Blickkontakt zu mir und so kamen in ihr die schlimmsten Befürchtungen auf, dass ich entweder gleich los schreien würde oder dass die Nähte meines Hemdes nachgeben. Doch glücklicherweise trat keine ihrer Sorgen ein!

      Die Feierstunde war in meiner Erinnerung doch recht kurz. Herr Reimert, der Klassenlehrer unserer S-Klasse und die Klassenlehrerin der anderen ersten Klasse stellten sich ebenfalls vor.

      Zum Ende der kleinen Feierstunde zeigte man uns das Märchen »Tischlein deck dich« in Form von Lichtbildern. Dabei löste sich meine Anspannung merklich und die Nähte meines Hemdes wurden entlastet.

      Im Anschluss teilten uns unsere Lehrer auf die zwei Klassen auf. Erst jetzt wusste ich so richtig, wer eigentlich zu meiner Klasse gehört. Zwei bekannte Kinder aus der Vorschule waren darunter, Ingo und Detlef. Drei Gesichter lernte ich neu kennen, Peggy, Frank und Peter. Auch sie


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