Behindert? - Was soll’s!. Mario Ganß

Behindert? - Was soll’s! - Mario Ganß


Скачать книгу
Klassenräume der ersten Klasse sowie unserer S1 befanden sich in der oberen Etage. Unsere Eltern wurden gebeten, mit uns die entsprechenden Klassenzimmer aufzusuchen. Dies ergab erst einmal ein mächtiges Gedränge auf den beiden hölzernen Treppen, die nach oben führten. Etliche Kinder mussten die Stufen hinaufgetragen werden, so auch ich. Mein Vater trug mich, gefolgt von meiner Mutti.

      Die beiden Klassenzimmer lagen gegenüber. Das der S1 war das rechte am Ende des Flures. Dieses kannte ich schon, hatten wir in ihm doch am Ende der Vorschulzeit die kleine Prüfung, in der entschieden wurde, ob wir schultauglich waren und welche der beiden Klassen für uns geeignet war.

      Herr Reimert nahm uns freundlich in Empfang und zeigte jedem seinen Platz. Es gab nur drei Schulbänke, die in der Mitte des Raumes hintereinander standen. Rechts hinter der Tür stand der Lehrertisch. Mittig an der dahinter grenzenden Wand sahen wir die große Tafel. Es war keine gewöhnliche, an der Wand befestigte, sondern eine auf Rädern fahrbare. Sie besaß auch keine ausklappbaren Flügel. Zwei normal große Tafeln waren durch ein Seil so miteinander verbunden, dass wenn man die vordere nach oben schob, die hintere runter fuhr. Links neben der Tür stand ein größerer Schrank, der mit Fächern unterteilt war. Hier bekam jedes Kind ein kleines Fach für seine persönlichen Sachen. Zur Tafel blickend befand sich links noch ein kleines Schränkchen, so eines wie es in vielen Kinderzimmern zu finden war und das Herrn Reimert einigen Platz für die im Unterricht benötigte Gegenstände bot.

      Ich durfte mich ganz vorn in die erste Reihe auf die rechte Seite setzen. Unbemerkt hatte Herr Reimert mein Stühlchen nach der Feierstunde schnell nach oben getragen und so stand es schon für mich bereit.

      In unserem Klassenzimmer lernten wir nun erstmals unsere neue Erzieherin, Frau Griebel kennen, eine kleine, zierliche Frau mit kurzen, blonden Locken und einer bräunlichen Brille. Von nun an war Frau Griebel für uns nachmittags zuständig.

      Relativ schnell wurden wir Kinder ruhig. Stand für uns an diesem Tag ja noch das wichtigste bevor, nämlich die Vergabe der Zuckertüten. Alle diese bunten und heißbegehrten Tüten lagen vorn auf dem Lehrertisch. Wie meine dort hingekommen ist, konnte ich mir kaum vorstellen. Eigentlich hätte ich sie ja im Auto sehen müssen?

      Herr Reimert bat jeden von uns, seinen Namen zu nennen und zu sagen, wo er wohnt. »Das ist ja schon ein bisschen wie Schule«, ging es mir durch den Kopf. Jeder gab sich richtig viel Mühe, diese kleine Aufgabe zu lösen. Ich dachte mir, umso deutlicher ich meinen Namen sprechen würde, desto größer sei meine Zuckertüte. Ich strengte mich wirklich sehr an. Doch meine Aufregung ließ kaum ein Wort aus mir heraus. Dennoch bekam ich, nachdem ich die Worte nur rausquetschen konnte, meine Zuckertüte. Frau Griebel legte sie mir auf die Schulbank. Richtig schön groß und purpurrot strahlte mich die Tüte an, prall gefüllt mit den köstlichsten Leckereien. Mir bekannte Märchenfiguren verzierten sie außerdem.

      Die komplette Aufregung des Tages wich erkennbar aus mir. Freude stieg stattdessen in mir auf. Ich strahlte über das ganze Gesicht. Nun hatte ich es wirklich geschafft. Ich war ein richtiges Schulkind!

      Obwohl der Trubel um die Einschulung vorüber war, stellte sich in mir eine neue Unruhe ein. Meine größte Besorgnis war, wo ich schlafen würde und vor allem was ich für ein Bett bekäme. Unten in der Vorschule lag ich noch in einem Gitterbett. In diesem fühlte ich mich geborgen. Aber nun?

      Die ganze Umgebung auf der oberen Etage war für uns alle fremd. Das Jahr in der Vorschule verbrachten wir ja im Erdgeschoss. So mussten wir erst einmal unser neues Zuhause kennenlernen. Die Schlafräume befanden sich am anderen Ende des Flures. Mein Vater trug mich in den Schlafraum, in dem insgesamt fünf Betten standen. Dieser schien recht hell, da er – wie unser Klassenzimmer – über Eck lag und daher zwei Fenster hatte. Ihn sollte ich unter anderem mit Frank und Ingo teilen. Als ich auf dem Arm meines Vaters den Raum betrat, sagte er: »Na, rate mal, welches Bett ich für dich ausgesucht habe.« Drei schmale Betten reihten sich an der rechten Seite nebeneinander auf. Auf der anderen Seite standen die zwei Betten läng hintereinander, von dem das eine sofort auffiel. War es doch breiter. Ich freute mich schon auf dieses breitere Bett. Würde ich mich in ihm am sichersten fühlen. Sofort zeigte ich darauf, um somit die Frage meines Vaters zu beantworten. Meine Hoffnung auf dieses Bett trübte sich jedoch schnell. Mein Vater sagte: »Nein, dieses dort.« Er deutete in die gegenüberliegende Ecke auf eines der schmalen Betten. Ich sagte nichts, enttäuscht, dass ich nicht mein »Traumbett« bekam, war ich insgeheim aber schon. Das große breite Bett war natürlich Ingo, dem großen Lulatsch, vorbehalten.

      Die Zeit verstrich. Es ging dem späten Nachmittag entgegen. Über die wichtigsten Dinge wussten wir nun Bescheid. Wir kannten unser Klassenzimmer sowie unseren Schlafraum. Um die vielen neuen Eindrücke erst einmal zu verdauen, nahmen uns unsere Eltern ein bisschen mit in den Garten. Die Sonne meinte es noch recht gut. Hier draußen trafen wir Fräulein Kleinert, meine Erzieherin aus der Vorschule. Groß war die Wiedersehensfreude. Eine mir vertraute Person anzutreffen, empfand ich in diesem Moment als sehr erleichternd. Fräulein Kleinert gratulierte mir natürlich zur Einschulung und ich erzählte ihr meine Erlebnisse in den Ferien.

      Dann kam wieder der Augenblick, den ich so verdammte; das Abschiednehmen von meinen Eltern. Doch an diesem Tag fiel es mir fast leicht. Nur kleine Tränen kullerten aus meinen Augen. Zu sehr beschäftigten mich die Eindrücke des Tages und ich freute mich auf den nächsten Morgen, meinen ersten Schultag.

       Der Schulalltag begann

      In der Nacht schlief ich wie ein Stein. Zu erschöpft war ich von den Ereignissen des Vortages.

      Um 7.00 Uhr wurden wir in der Woche geweckt. Zu meiner Schulzeit hatte die Woche noch sechs Schultage. Es blieb also nur der Sonntag, um etwas länger schlafen zu können.

      Beim Waschen und Anziehen bekamen wir Hilfe, meist vom pflegerischen Personal, denn unsere Erzieherinnen und Erzieher waren für uns in der Regel am Nachmittag da. Der Morgen gestaltete sich schon ziemlich aufregend, denn alles war so ungewohnt. Doch eine Schwester kümmerte sich liebevoll um mich, wusch mich und half mir beim Anziehen.

      Unser Klassenzimmer und das der ersten Klasse waren gleichzeitig auch unsere Gruppenräume. Hier nahmen wir die Mahlzeiten ein und nachmittags dienten sie uns unter anderem als Spielzimmer. Einen Vorteil hatte dies. Wir mussten nicht ständig hin und her getragen werden. Jedoch drängte nach jedem Frühstück die Zeit, die Schulbänke, an denen wir aßen, für den Unterricht zu säubern.

      Kaum war das letzte Häppchen meiner Marmeladenschnitte heruntergeschluckt, läutete eine Klingel dreimal kurz hintereinander. Wir erschraken erst einmal gemeinschaftlich. Wussten wir doch nicht, was dies bedeutete. Unsere Pflegerin, die noch die Tische abwischte, sagte uns mit einem Lächeln, dieses Läuten sei das Zeichen, dass der Unterricht in wenigen Minuten beginnen werde. Sie hatte diese Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da betrat schon Herr Reimert ziemlich hastig unseren Klassenraum. Schnell sagte er, dass die Klassenlehrerin der benachbarten ersten Klasse krank sei und beide Klassen zunächst ein paar Tage gemeinsam Unterricht haben werden.

      Ein kleines Durcheinander kam auf. Wir Schüler der S1 mussten rüber in den Raum der ersten Klasse. Die Bänke reichten für uns alle aus. Nur ein paar Stühle wurden hinüber getragen. Schließlich fanden wir alle einen Platz und unsere erste richtige Schulstunde begann.

      Einfühlsam führte uns Herr Reimert in die Kunst des Lesens ein. Schon aus den ersten zwei gelernten Buchstaben konnten wir ein Wort bilden, welches uns sehr geläufig war: »MAMA«. Das war schon einmal ein Erfolg!

      Im Gegensatz zur ersten Stunde empfand ich die zweite als spielend leicht; Mathematik. Rechnen im Kopf kannte ich schon aus der Vorschule und bereitete mir so keine Mühe.

      Nach der großen Pause lernten wir einen neuen Lehrer kennen, Herrn Vasek, unseren zukünftigen Musiklehrer. Er war ein stattlich hochgewachsener und dynamisch junger Mann mit einem schwarzen Vollbart. Über seiner Schulter hing ein Akkordeon. Das erweckte in uns erst mal einen Eindruck von Gelassenheit. Obwohl auch er gefühlvoll mit uns redete und uns auf lustige Art und Weise erzählte, was in so einer Musikstunde alles gelernt werde, wirkte er auf mich doch ziemlich streng. Gleich in der ersten Musikstunde


Скачать книгу