Resilienz. Linda Graham

Resilienz - Linda Graham


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wie Wut, Furcht, Traurigkeit zu regulieren; zu lernen, uns selber und unseren Mitmenschen zu vertrauen; zu lernen, wie man das, was gerade geschieht, richtig deutet und wie man dann damit umgeht; zu lernen, umzuschalten; zu lernen, wie man lernt.

      Das Wachstum der für Resilienz nötigen neuronalen Schaltkreise kann in Abwehrhaltung und Rigidität stecken bleiben oder keine Form annehmen und chaotisch bleiben: Zustände, die meine Kollegin Bonnie Badenoch »neuronalen Beton« oder »neuronalen Morast« nennt.10 Stattdessen entwickeln wir Bewältigungsstrategien, die nicht besonders kompetent sind. Entweder sind sie nicht flexibel oder nicht stabil genug. (Man beachte bitte: Das ist eine völlig normale menschliche Erfahrung.)

      3. Negative Kindheitserfahrungen und -traumata

      Zu viele negative Kindheitserfahrungen, wie Übergriffe, Suchterkrankungen oder Gewalt zu Hause oder im näheren Umfeld, erschweren es für ein Kind, Situationen überhaupt zu bewältigen, weil diese Erfahrungen die organische Entwicklung des Gehirns kompromittieren.11 Für ein Kind, das mit einem alkoholkranken Elternteil und einem schikanierenden älteren Bruder und dem anderen Elternteil aufwächst, das bei all dem wegschaut, kann das Trauma zu Hause überwältigend sein und sogar das sich entwickelnde Gehirn traumatisieren. Derartige Störungen behindern die normale Entwicklung des Gehirns, was wiederum seine Fähigkeit beeinträchtigt, Bewältigungsstrategien zu lernen. Denken und Gedächtnisfunktion können gestört werden und die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren und Beziehungen zu anderen aufzubauen, kann extrem gehemmt sein. Ein Kind lernt dann, durch Dissoziation Situationen zu bewältigen: »auszuchecken«, statt gegenwärtig zu sein. In diesem Zustand können auch das Gefühl des Lebendigseins, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und das Bewusstsein des Selbst verschwinden.

      4. Akutes Trauma

      Die Folgen akuter Traumata wie schwere Krankheiten, der Tod eines geliebten Menschen oder der Verlust des Hauses durch eine Naturkatastrophe können die Funktionsweise des präfrontalen Kortex jederzeit, zumindest vorübergehend, offline schalten. Ohne die umfassenderen Optionen des höheren Gehirns müssen wir auf die begrenzte Reaktivität des auf das Überleben ausgerichteten tieferen Gehirns und die bereits in unseren neuronalen Schaltkreisen konditionierten automatischen Muster zurückgreifen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass 75 % aller US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner mindestens ein traumatisches Ereignis im Leben erfahren, das heißt, bei den meisten von uns wird die Resilienz irgendwann im Leben auf eine harte Probe gestellt.12 Wissenschaftlerinnen haben ebenfalls entdeckt, was Peter Levine, der Begründer der Somatic-Experiencing (SE)®-Traumatherapie, so treffend beschreibt: »Trauma ist eine Tatsache des Lebens. Es muss aber nicht lebenslänglich sein.«13

      Hier ist die gute Nachricht. Selbst wenn sich Ihre Reaktionsflexibilität in Ihrer Kindheit nicht vollständig ausgebildet hat oder durch störende Ereignisse im Leben aus der Bahn geworfen wurde, können Sie immer noch die Entscheidungen treffen, die Ihnen dabei helfen werden, Ihre Fähigkeit zur Resilienz vollständig zu entwickeln und wiederzuerlangen.

      Sehen wir uns jetzt die Prozesse der Gehirnveränderung an, die Sie lernen können, um genau das zu tun.

       Konditionierung und drei Optionen, Ihre Konditionierung zu ändern

      Diese Prozesse der Gehirnveränderung sind alle umfänglich durch die Entdeckungen der modernen Neurowissenschaft bestätigt. Ich beschreibe alle zur besseren Verständlichkeit und Anwendung hier in vereinfachter Form.

      1. Konditionierung

      Das Gehirn lernt durch Erfahrung. Am Ende dieses Kapitels werden Sie diesen Satz auswendig können. Jede Erfahrung, wirklich jede Erfahrung, ob positiv oder negativ, verursacht das Feuern von Neuronen im Gehirn: Informationen werden durch elektrische und chemische Signale ausgetauscht. Werden diese Erfahrungen wiederholt, wird dieses neuronale Feuern im Gehirn wiederholt, wodurch wiederum Reaktionsmuster, ob positiv oder negativ, wiederholt werden. Das nennt man Konditionierung. Dieser bekannte Grundsatz in der modernen Neurowissenschaft stammt von dem kanadischen Neurowissenschaftler Donald Hebb: »Neuronen, die zusammen schießen, schließen sich zusammen.« (»Neurons, that fire together, wire together.«)

      Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Regen an einem Hang. Zuerst fallen die Regentropfen in mehr oder weniger zufälligem Muster den Hang herunter. Dann aber schneidet der Wasserfluss Furchen und Spuren und schließlich größere Rinnen in den Hang hinein. Haben sich diese erst einmal gebildet, fließt der Regen nur noch in diesen Furchen und Rinnen den Hang hinunter. Und auf die gleiche Weise entwickelt unser Gehirn Leitungsbahnen und Reaktionsmuster, die – es sei denn, wir greifen ein – uns automatisch auf die Stressoren auf dieselbe Weise reagieren lassen, wie wir vorher schon reagiert haben. Konditionierung ist das, was all unser frühes Lernen von Bewältigungsstrategien codiert.

      Das Gehirn lernt und codiert von selber auf diese Weise immer dann, wenn wir es nicht anweisen, etwas anderes zu tun. Wenn wir es nicht anweisen, neue Bewältigungsmuster zu installieren oder alte Muster neu zu verdrahten, lernt das Gehirn alleine und codiert automatisch alle Reaktionen in seine neuronalen Schaltkreise. Wir müssen dem Gehirn nicht beibringen, wie es lernt, und wir können es nicht vom Lernen abhalten. Wir können dieses Lernen jedoch dann steuern, wenn wir das, was das Gehirn bereits gelernt hat, neu verdrahten wollen.

      Das Gehirn ist mit zahlreichen Mustern ausgestattet, die sich im Laufe der menschlichen Evolution fest verdrahtet haben. Die Reaktionen von Kampf-Flucht-Erstarren-Zusammenbruch sind automatische Überlebensmuster unseres Nervensystems, das uns ohne bewusstes Verarbeiten vor einer Spinne zurückschrecken, einem rasenden Auto ausweichen oder hilflos zusammenbrechen lässt.14 Negativitätstendenz ist die (unbewusste) Neigung, Erinnerungen an negative Ereignisse eher zu speichern als positive Erinnerungen.15 Diese Tendenz, die uns schnell auf Gefahren aufmerksam macht, ist für das menschliche Überleben unerlässlich, aber sie ist nicht immer für unser individuelles Wohlbefinden gut. Unser Gehirn filtert unbewusst unsere Wahrnehmung anderer in die Kategorien »So wie ich« und »Nicht so wie ich« auf der Basis von Geschlecht, Ethnie, Sprache und Kultur.16 Diese Tendenz der automatischen Wahrnehmung eines Wir gegenüber eines Sie ist ein weiteres Merkmal, das für das Überleben wichtig, aber im Alltagsleben potenziell problematisch ist.

      Wir können bewusst neue Gewohnheiten auf diese automatischen Reaktionen schaffen. In den nächsten Kapiteln werden wir untersuchen, wie wir Gewohnheiten oder Regeln zu von Familie oder Kultur erlernten Reaktionen verdrahten können, die uns nicht mehr dienlich sind, wie der Rückzug in passiver Wut, statt dem Gegenüber aufrichtig zu sagen, sie mögen netter sein, oder die Zurückweisung eines Mitmenschen und seines Potenzials, weil er nicht in unser Vorverständnis von »gut« oder »fähig« passt.

      Wann immer wir neue Schaltkreise kreieren oder alte konditionierte Bewältigungsmuster neu verdrahten wollen, können wir die im Nachfolgenden beschriebenen drei Prozesse der Gehirnveränderung anwenden.

      2. Neukonditionierung

      Neukonditionierung ist mein Begriff für den Prozess, sich bewusst und absichtsvoll für eine neue Aktivität oder Erfahrung zu entscheiden, die die Funktionsweise und die Gewohnheiten des Gehirns in eine bestimmte Richtung lenkt. Jedes Mal, wenn Sie eine Dankbarkeitsübung machen, Ihr Zuhören vertiefen, daran arbeiten, den Fokus Ihrer Aufmerksamkeit zu verstärken, mehr Selbstmitgefühl oder Selbstakzeptanz kultivieren und diese Praktiken wiederholen, dann praktizieren Sie Neukonditionierung. Sie schafft neues Lernen, neue Schaltkreise und neue Gewohnheiten, auf Ereignisse zu reagieren, sogar potenziell oder auf zuvor traumatisierende Situationen. Sie verdrahten Ihr Gehirn neu, sie schaffen neue Erinnerungen und neue Wege des Seins, aus denen dauerhafte positive Gewohnheiten werden können.

      Neukonditionierung heißt nicht, alte Konditionierung ungeschehen machen. Wenn Sie gestresst oder müde sind, wird Ihr Gehirn, seine alten Gewohnheiten als Standardeinstellung übernehmen. Es ist einfacher und effektiver für das Gehirn, das zu tun, was es bereits kann. Sie können jedoch mit ausreichender Wiederholung einen Entscheidungspunkt in der Funktionsweise des Gehirns aufbauen und mit dem nächsten Prozess, Rekonditionierung, können Sie tatsächlich alte Schaltkreise neu verdrahten.17

      3. Rekonditionierung


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