Resilienz. Linda Graham
neue Konditionierung, Rekonditionierung und Dekonditionierung: Den Prozess der Gehirnveränderung in dieser Reihenfolge zu lernen wohnt eine besondere Weisheit inne.
Konditionierung bildet neuronale Schaltkreise während des gesamten Lebens in Ihrem Gehirn. Es ist gut, wenn Sie sich Ihrer zuvor konditionierten Reaktionsmuster bewusst werden, denn diese nun im impliziten Gedächtnis gespeicherten Muster, also außerhalb Ihres Bewusstseins befindlich, können durch ein gegenwärtiges Ereignis ausgelöst werden und Sie so, wie Sie immer schon darauf reagierten, reagieren lassen, ehe Sie überhaupt die Möglichkeit haben, sich zu entscheiden, ob Sie so reagieren möchten.
Manchmal sind Ihre konditionierten Reaktionen genau richtig, manchmal sind sie nicht mehr hilfreich. Kompliziert ist, dass implizite Erinnerungen keinen Zeitstempel haben. Kommen sie »wie aus dem Nichts« an die Oberfläche, fühlen sie sich jetzt so real an wie damals und Sie reagieren vielleicht so, als ob die erinnerten Ereignisse jetzt gerade stattfänden, ohne zu merken, dass sie nur eine Erinnerung sind. Wenn Sie sich dieser Muster gewahr werden (und Sie werden dies das ganze Buch hindurch üben), können Sie sich entscheiden, sie neu zu verdrahten oder ganz neue Reaktionsgewohnheiten aufzubauen.
Neue Konditionierung erzeugt neue neuronale Schaltkreise und neue, effektivere und resilientere Reaktionsmuster. Diese neuen Schaltkreise verlaufen neben den alten Schaltkreisen oder überlagern sie und geben Ihnen damit weit mehr Möglichkeiten, mit neuen oder wiederkehrenden Herausforderungen fertig zu werden.
Mit zusätzlichen neuen Möglichkeiten und mit einer größeren Stabilität innerhalb des Gehirns können Sie nun entscheiden, Rekonditionierung bewusst einzusetzen, um alte Muster neu zu verdrahten, wenn Sie sich ihrer bewusst werden. Dieser Prozess ist höchst effektiv. Bewusst und sorgfältig angewendet, können Sie mithilfe von Rekonditionierung Ihre Aufmerksamkeit fokussieren und nicht nur alte Muster neu verdrahten, sondern bewusst Veränderungen in der Gehirnstruktur bewirken.
Sind Sie in der Lage, die Aufmerksamkeit Ihres Gehirns zu fokussieren, dann können Sie auch lernen, Ihre Aufmerksamkeit zu defokussieren und das Gehirn ohne die Vormundschaft des präfrontalen Kortex spielen zu lassen, ganz im Wissen, dass Sie jederzeit, wenn nötig, zu einer fokussierten Aufmerksamkeit zurückkehren können. Im Ruhezustandsnetzwerk kreiert das Gehirn seine eigenen Assoziationen und Verbindungen und stellt Bezüge auf neue und manchmal sehr einfallsreiche Weise her. Dieser Prozess der Dekonditionierung erzeugt unsere tiefe intuitive Weisheit. Mithilfe der Übungen in diesem Buch können Sie auf diese Weisheit zugreifen.
Während Sie diese Prozesse kompetent einsetzen, um eine größere Resilienz in Ihren Wahrnehmungen von Ereignissen und Ihren Reaktionen darauf aufzubauen, werden Sie anfangen, sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der diese Prozesse effektiv zur Veränderung des Gehirns benutzen kann. Sie werden sich selbst als jemanden sehen, der Werkzeuge gekonnt einsetzt, um mit Schwierigkeiten, Enttäuschung und sogar Katastrophen umzugehen. Sie werden verstehen, dass Sie mehr Resilienz und ein größeres Wohlbefinden entwickeln können.
Die fünf Arten von Intelligenz
Kapitel 2 bis 7 beschreiben viele Werkzeuge, die diese drei Prozesse der Gehirnveränderung benutzen, um Ihnen zu helfen, Ihre fünf Arten von Intelligenz zu stärken.
1. Somatische Intelligenz
Um auf die somatische Intelligenz, die dem Körper innewohnende Intelligenz, zurückzugreifen, bedarf es körperbasierter Werkzeuge wie Atem, Berührung, Bewegung, soziale Kontakte und Visualisierung, um den Stress und die Überlebensreaktionen des Nervensystems handzuhaben, um die umfassendere Funktionsweise des höheren Gehirns einzuschalten und die Körper-Gehirn-Einheit wieder in ihr natürliches physiologisches Gleichgewicht zurückzubringen. Die Entwicklung dieser Intelligenz fördert Ihr Gefühl von Sicherheit und Vertrauen und bereitet die Neuroplastizität Ihres Gehirns auf neues Lernen vor. Ihre »Resilienzbandbreite« dehnt sich aus, Sie sind willens und bereit, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und neue Risiken einzugehen.
2. Emotionale Intelligenz
Mithilfe von emotionaler Intelligenz können Sie intensive Momente wie Wut, Furcht, Trauer, Scham und Schuld besser bewältigen; positive Emotionen kultivieren, die Ihr Gehirn aus Kontraktion, Reaktivität und Negativität heraus- und in mehr Offenheit, Empfänglichkeit und Reaktionsflexibilität hineinbringen; und die Praxis des Mitgefühls, der achtsamen Empathie und eines bewussten Arbeitsmodells des Geistes (Theory of Mind) kultivieren. Sie erlauben Ihnen, auch die Wellen der Emotionen anderer zu reiten und auf sie einzugehen.
3. Beziehungsintelligenz in uns selber
Wenn Sie auf die Beziehungsintelligenz in Bezug auf die eigene Selbstwahrnehmung zugreifen, lernen Sie, die Resilienz, die Sie bereits besitzen, und die Weisheit Ihres klügeren Selbst zurückzufordern; den inneren Kritiker außer Dienst zu stellen, der Ihr Gefühl von Kompetenz, Mut und gesunden Verbindungen zu anderen gefährdet; und all die verschiedenen inneren Stimmen und Teile, die Ihr Selbst ausmachen, zu akzeptieren und, ja, auch willkommen zu heißen. Sie werden den »Ausgangspunkt« eines sicheren, vertrauenswürdigen und mutigen Selbst, die Grundlage Ihrer Resilienz und der Person, die Sie sein wollen, wiederfinden und fördern.
4. Beziehungsintelligenz in Bezug auf andere
Beziehungsintelligenz beinhaltet, zu lernen, mit anderen Menschen Beziehungen einzugehen, sowohl intimer als auch sozialer Art, auf eine Weise, die es möglich macht, diesen Menschen als Zufluchtsort und Ressourcen der Resilienz zu vertrauen und eine Verbindung zu ihnen herzustellen. Sie lernen, zu Ihren Mitmenschen eine Verbindung herzustellen, ohne sich darin zu verstricken, und sich von ihnen zu unterscheiden, ohne sich zurückzuziehen oder zu isolieren; Sie entwickeln eine gesunde Wechselbeziehung mit der gemeinsamen Menschlichkeit der anderen und initiieren und vertiefen Beziehungen, die gesund, resonant, produktiv und erfüllend sind.
5. Reflexive Intelligenz
Wenn Sie reflexive Intelligenz benutzen, dann üben Sie sich in achtsamem Gewahrsein, um klarzusehen, was gerade geschieht und welche Reaktionen Sie darauf haben, um Ihre gewohnten Denkprozesse absichtsvoll zu verlagern und neu zu verdrahten, die ansonsten Ihre Reaktionsflexibilität blockieren, und um geistigen Gleichmut zu kultivieren, der Sie Optionen erkennen und kluge Entscheidungen treffen lässt.
Die drei Ebenen von Unterbrüchen
Die Stärkung dieser fünf Arten von Intelligenz hilf Ihnen dabei, jegliche Ebene von Unterbrechungen Ihrer Resilienz zu umschiffen. In diesem Buch ordne ich Unterbrechungen in drei Ebenen ein:
Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht
Ein wenig aus der Balance geraten ist das, was von Moment zu Moment geschieht, wobei Ihr inneres Resilienzfundament dennoch ziemlich stabil ist. Die Reaktionsflexibilität in Ihrem präfrontalen Kortex ermöglicht es Ihnen, jeder neuen Situation, jedem Unbekannten und jeder Ungewissheit mit ruhiger Zuversicht zu begegnen. Was auch passiert, Sie geraten nur ein wenig aus dem Gleichgewicht. Dieses Buch bietet Ihnen viele Werkzeuge, dieses innere sichere Fundament zu entwickeln und zu stabilisieren. Was auch passiert, Sie können schnell und sicher zu der gefühlten Wahrnehmung dieses Ausgangspunkts zurückkehren.
Ebene 2: Pannen und Kummer, Unruhen und Stürme
Dumm gelaufen. Sie verlieren für kurze – oder manchmal längere – Zeit das Gleichgewicht und Ihre Resilienz entgleist. Es kann aber auch gut laufen. Sie benutzen viele Werkzeuge und Techniken, mit deren Hilfe Sie sich wieder erholen und kompetent reagieren. Sie entscheiden sich, trotzdem zu erscheinen und Ihre Fertigkeiten einzusetzen, um sich wieder aufzurichten und schnell und sicher Fuß zu fassen.
Ebene 3: Zu viel
Menschen werden nur selten mit Schwierigkeiten oder gar Katastrophen konfrontiert, die sie sich selber aussuchen, eine nach der anderen, schön der Reihe nach, ohne vorangegangene Schwierigkeiten. Manchmal hält das Leben mehr parat, als wir handhaben können. Vielleicht passiert eine Katastrophe, vielleicht passieren viele Katastrophen auf einmal. Vielleicht gab es zu viele Katastrophen oder zu viele Traumata zu früh im Leben. Die defensiven Bewältigungsstrategien, die wir womöglich früh gelernt haben, gefährden nun die natürliche