Resilienz. Linda Graham

Resilienz - Linda Graham


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für Neuroplastizität und damit für Lernen und Wachstum herrschen. Wir werden uns anschauen, wo es möglich ist, solche Momente der Beziehungsresonanz oder neuronalen Synchronie zu kreieren – mit Eltern oder Elternfiguren, Geschwistern, Freunden, Lehrerinnen, Coaches, Therapeutinnen, Lebensgefährten, Ehepartnerinnen, Selbsthilfe- oder Therapiegruppen –, damit Resilienz in Ihrer Psyche und in Ihrem Gehirn Wurzeln schlägt.

      5. Bewusste Reflexion hilft uns, klarzusehen und kluge Entscheidungen zu treffen

      Das Gehirn verarbeitet Erfahrungen ohne die Beteiligung des bewussten Gewahrseins. Traumatisierende Erfahrungen sind sehr häufig als implizite somatische Erinnerungen in die neuronalen Schaltkreise der betroffenen Person codiert. Sie stammen aus einer Zeit, in der die Person zu jung war, um bewusste Erinnerungen an bestimmte Situationen und Ereignisse zu formen. Aber die gleiche unbewusste Verarbeitung kann mit positiven oder neutralen Erfahrungen stattfinden. Das Gehirn tut das die ganze Zeit über. Ihre tägliche Pendelstrecke kann so tief in Ihrem Gehirn codiert sein, dass Sie im Autopilot zur Arbeit fahren können und nur dann »aufwachen«, wenn Sie falsch abbiegen und alles plötzlich anders aussieht. Das Gehirn registriert eine Schwingung von einem Partygast, noch bevor Sie sich daran erinnern, wo Sie diesen Menschen zum ersten Mal getroffen haben.

      Wollen Sie neue Muster der Wahrnehmung und des Verhaltens in Ihrem Gehirn aufbauen, müssen Sie sich in bewusster Reflexion üben, damit die Resilienzressourcen, die Sie herstellen, auch abrufbar und anwendbar sind. Bewusste Reflexion ist nicht dasselbe wie Denken. Es ist mehr das Wissen, was Sie erleben, während Sie es erleben. Sie werden sich Ihrer Wahrnehmungen von der Erfahrung und von Ihrer Reaktion darauf bewusst, um die gesamte Bandbreite des Schaltens Ihrer neuronalen Schaltkreise zu erleben. Und so verdrahten Sie Muster hinsichtlich Ansicht, Einstellung, Identität oder Verhalten neu, die Ihre Resilienz blockieren.

      Das Kultivieren einer Achtsamkeitspraxis ist eine zuverlässige Methode, Ihre bewusste Reflexion zu erweitern. Achtsamkeit bündelt nicht nur Ihre Aufmerksamkeit und lässt Sie das Bewusstsein erleben, welches jeden Inhalt halten und darüber reflektieren kann, sondern sie stärkt die Gehirnstrukturen, die Sie benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, über Erlebtes zu reflektieren, Ihre Perspektive zu wechseln, Alternativen zu erkennen und sich für kluge Handlungen zu entscheiden. Ich stelle Ihnen diese unbezahlbare, selbststärkende Übung in Kapitel 6 vor.

      Es mag weit hergeholt klingen, dass diese Werkzeuge, die diese Prozesse, die Arten von Intelligenz und die Praktiken fördern, Ihnen tatsächlich ermöglichen, mit wirklich allem umzugehen. Aber genau das werden Sie in Kapitel 7 üben: Sie integrieren diese Übungen für ein neu verdrahtetes Gehirn und vorbehaltlose Resilienz.

      Das zugrunde liegende Thema dieses Buchs ist, dass Sie sich entscheiden können, sich zu entscheiden – von Moment zu Moment, für Erfahrungen, die Ihre neuronalen Schaltkreise ausbilden und Ihre Resilienz vertiefen. Sie können lernen, »Ihr Gehirn zu verändern, um Ihr Leben zu verbessern«,27 und das oft sofort und dauerhaft. Zu lernen, wie das Gehirn funktioniert, um jene Momente der Entscheidung und der Veränderung zu schaffen, gibt Ihnen das authentische Gefühl von Können und Kompetenz.

       Fang den Moment ein; entscheide dich.

      JANET FRIEDMAN

       Jeder Moment enthält eine Wahl und jede Wahl enthält eine Wirkung.

      JULIA BUTTERFLY HILL

      Das Ziel dieses Buches ist es, Ihnen genau diese Werkzeuge und Entscheidungen mit auf den Weg zu geben.

      Gehen wir’s an.

      

KAPITEL 2

      Übungen zur somatischen Intelligenz

      Atem, Berührung, Bewegung,

      Visualisierung, soziale Kontakte

       Du kannst die Wellen nicht aufhalten,aber du kannst lernen, auf ihnen zu reiten.

      SWAMI SATCHIDANANDA

      Wir haben uns angesehen, welche Möglichkeiten es gibt, mit Situationen kompetent umzugehen, wenn alles drunter und drüber läuft. Unsere Grundreaktionen auf alle Herausforderungen und Widrigkeiten des Lebens haben ihren Anfang in unserem Körper. Um unsere Resilienz zu stärken, fangen wir mit körperbasierten Werkzeugen, sprich unseren Übungen zur somatischen Intelligenz, an.

      Denken Sie zurück an Ihren Biologieunterricht und das Thema vegetatives Nervensystem oder VNS. Ihr vegetatives Nervensystem scannt dauernd die Umgebung mitsamt Ihrem sozialen Umfeld ab und sucht nach Signalen der Sicherheit, Gefahr oder Bedrohung Ihres körperlichen Überlebens oder Ihres psychologischen Wohlbefindens.28 Dieses Scannen entspringt tief im Hirnstamm und Rückenmark. Es findet rund um die Uhr statt, sogar im Schlaf, und immer außerhalb Ihres Bewusstseins. Ihr höheres Gehirn kann sich jedoch dieses Absuchens der Umgebung nach Signalen bewusst werden. Die Kontrolle Ihres höheren Gehirns ist sogar notwendig für die Deutung der Signale aufgrund Ihrer Erfahrung und Konditionierung. Aber während Ihr höheres Gehirn komplexer und umfassender in seiner Analyse von dem ist, was passiert und was Sie diesbezüglich tun sollten, so erledigt es diese Aufgabe auch langsamer. Das körperbasierte VNS reagiert innerhalb von Millisekunden auf ein Signal, Ihr präfrontaler Kortex benötigt dagegen weitaus mehr Zeit dafür: von einigen Sekunden bis zu mehreren Minuten.

      Sie haben vermutlich auch gelernt, dass das vegetative Nervensystem zwei Zweige hat: das sympathische Nervensystem (Sympathikus) und das parasympathische Nervensystem (Parasympathikus). Das sympathische Nervensystem regt Sie an, sofort zu handeln, wenn etwas nicht stimmt oder Sie Gefahr wittern: Das ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Diese schnelle, schützende Reaktivität bringt Ihren Körper jetzt in Bewegung, um sich einer Gefahr zu stellen oder vor ihr zu fliehen, eine unsichere oder toxische Person zu konfrontieren oder vor ihr wegzulaufen.

      Ihr tieferes Gehirn teilt Ihrem Körper mit, sich zu bewegen, noch bevor Ihr höheres Gehirn sich überhaupt bewusst ist, dass gerade etwas passiert ist. Ihr Nervensystem reagiert, um Sie am Leben zu erhalten, noch bevor Ihr bewusstes Gehirn überhaupt weiß, dass Sie sich in Lebensgefahr befinden.

      Nach dem gleichen Prinzip ermöglicht das parasympathische Nervensystem Ihnen, sich selber zu beruhigen, um zu »ruhen und zu verdauen«, wenn die Gefahr vorüber ist. Diese beiden Zweige fungieren wie Gas- und Bremspedal im Auto: Die Aktivierung des Sympathikus kommt dem Betätigen des Gaspedals gleich, die Aktivierung des Parasympathikus dem des Bremspedals.

      Es gibt viele Vorteile, den Sympathikus auch ohne eine Gefahrensituation zu aktivieren. Er schafft es, dass wir morgens aufstehen, dass wir aufstehen wollen, und er motiviert uns, auf unsere Mitmenschen zuzugehen, die Welt zu erkunden, zu spielen, kreativ und produktiv zu sein. Weil es den Sympathikus gibt, bilden wir Regierungen, komponieren Sinfonien, entwerfen und bauen Gebäude und arbeiten daran, das Problem Klimawandel zu lösen. Die positive Aktivierung des vom präfrontalen Kortex regulierten Sympathikus ist die Basis menschlicher Zivilisation, so wie wir sie kennen.

      Und auf ganz ähnliche Weise erlaubt das Einschalten des Parasympathikus außerhalb einer Gefahrensituation es uns, uns sicher und geerdet zu fühlen, im Reinen und zufrieden. Die positive Aktivierung des vom präfrontalen Kortex regulierten Parasympathikus ist die Basis unseres menschlichen Wohlbefindens. Es ist das Gefühl, am Strand ein Nickerchen zu machen, sich in kontemplativer Stille zu entspannen oder nach dem Liebesakt einzuschlafen.

      Es wird jedoch kompliziert, wenn entweder der Sympathikus oder der Parasympathikus als Reaktion auf eine vermeintliche Gefahr oder Lebensbedrohung überaktiviert werden. Eine plötzliche Überaktivierung des Sympathikus kann Sie zu Wut oder Angst, Furcht und Panik anstacheln. Eine plötzliche Überaktivierung des Parasympathikus kann dazu führen, dass Sie sich innerlich taub fühlen, abschalten, sich zurückziehen oder dissoziieren. Ein solch übermäßiges Anstacheln oder Abschalten kann die Funktionsweise des höheren Gehirns komplett, zumindest zeitweise, aus der Bahn werfen. In dem Moment reagieren Sie nur noch aus Ihren automatischen Überlebensreaktionen und aus dem konditionierten Lernen heraus, das im frühen Kindesalter in die neuronalen Schaltkreise Ihres Gehirns codiert wurde.


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