Resilienz. Linda Graham

Resilienz - Linda Graham


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ich Ihnen Übungen zum Atem, zur Berührung, zur Bewegung und zur Visualisierung vor. Sie dienen der Stärkung Ihrer somatischen Intelligenz und sollen Ihnen helfen, die vom Nervensystem an Ihr Gehirn gesendeten Signale zu erkennen, zu interpretieren und zu verwalten. Sie kehren wieder zu Ihrem physiologischen Grundzustand des Wohlbefindens zurück – zu Ihrer Resilienzbandbreite, Ihrem Toleranzfenster, Ihrem Gleichmut. Sie sind wieder ruhig und entspannt, beteiligt und wachsam, Sie meistern die Situation, Sie reiten die Wellen. In diesem Gleichgewichtszustand verfügen Sie über die Reaktionsflexibilität, die Sie benötigen, um die Signale zu interpretieren, die die Stressoren in Ihrem Umfeld aussenden (oder auch Ihre eigenen inneren Botschaften über diese Stressoren oder über Sie selbst in Bezug zu ihnen). So machen Sie Alternativen aus und reagieren danach mit Resilienz und Klugheit.

      Anders als unsere Vorfahren, die sich mit akuten Gefahren ihrer physischen körperlichen Sicherheit beschäftigen mussten, ist der moderne Mensch eher einer chronischen Gefährdung seiner psychischen Sicherheit und seines psychischen Wohlbefindens ausgesetzt. Mithilfe dieser Übungen lernen Sie auch, Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System (Social Engagement System) im Gehirn (ebenfalls unbewusst) zu stärken und Ihr Nervensystem besonders als Reaktion auf diese Gefährdung zu regulieren.

       Im »Ein« oder »Aus« feststecken

      Eine Reihe von Stressoren sorgt dafür, dass das sympathische Nervensystem im »Ein« stecken bleibt. Dazu gehören unermüdlicher Arbeitsdruck; ständige Beschwerden und Kritik von Menschen, an denen Sie einen Teil Ihres Selbstwerts ausmachen wie Ihr Partner oder Ihre Partnerin oder Ihre Kinder; das Nichterreichen gesteckter Ziele im Vergleich zu anderen oder zu Ihren eigenen Erwartungen. Die Erregung ist zu groß, Sie halten nicht inne, man lässt Sie einfach nicht; Sie sind ständig unruhig, auf der Hut und gestresst und nicht in der Lage, das Gefühl der Sicherheit und Ruhe wiederzuerlangen, das unerlässlich für Ihr Wohlbefinden ist.

      Andere Umstände lassen das parasympathische Nervensystem im »Aus« feststecken. Dazu zählen unermüdliche Langeweile auf der Arbeit, zu viele Verluste oder Verbindungsabbrüche in zu kurzer Zeit, zu viel Scham und Schuld, Kritik und Zurückweisung – oder Erfahrungen, die Sie als solche wahrnehmen. Statt sich der Situation zu stellen und sie anzugehen, kollabieren Sie in einem Zustand der erlernten Hilfslosigkeit oder Depression, Sie sind nicht mehr in der Lage, die Energie oder Motivation aufzubringen, es zu versuchen und wieder zu versuchen. Eine derartige Reaktion gehört zu unserem neurobiologischen Erbe aus Millionen von Jahren, in denen unsere Vorfahren sich tot stellten, um nicht von Löwen aufgefressen zu werden, und aus Hunderttausenden von Jahren der Evolution in sozialen Gruppen, in denen man Konflikten aus dem Weg ging oder andere beschwichtigte, damit man nicht aus dem Stamm verbannt wurde.

      Vor nur zwanzig Jahren entdeckte der Neurophysiologe Stephen Porges einen dritten Zweig des vegetativen Nervensystems: die Bauch-Vagus-Leitungsbahn, die er als sozialen Vagus bezeichnet.29 Der soziale Vagus ist eine neuronale Leitungsbahn, die Körper und Hirnstamm miteinander und danach mit den Nerven im Nacken, im Hals, in den Augen und Ohren verbindet. Diese Leitungsbahn der Kommunikation zwischen Gesicht und Herz erzeugt eine unbewusste Neurozeption von Sicherheit dann, wenn Sie sich inmitten anderer sicher fühlen. Menschen sind soziale Wesen. Sie werden in Familien hineingeboren und wachsen in Großfamilien, unter Verwandten und in Gemeinschaften auf. Das Gehirn hat sich so entwickelt, dass es automatisch nach Kontakt und Verbindung zu anderen zur Beruhigung sucht, wenn sein eigenes Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens unterbrochen wird. Das auf soziale Kontakte ausgerichtete System kann, selbst unbewusst, Signale wahrnehmen wie »Es ist in Ordnung«, »falscher Alarm«, »Dir geht es gut« oder »Du bist sicher«. Das ist die neurobiologische Grundlage sicherer Bindung und eines inneren Gefühls der Sicherheit und Ruhe. Es ist ebenfalls das neuronale Fundament, das es uns ermöglicht, dann Risiken einzugehen, wenn sie nötig sind.

      Deb Dana, die Kollegin von Stephen Porges, sagt in A Beginner s Guide to Polyvagal Theory:

      »In diesem [ventralen Vagus-] Zustand ist der Herzschlag reguliert, unser Atem voll, wir nehmen die Gesichter unserer Freunde wahr, wir können uns in Gespräche einstimmen und ablenkende Geräusche abschalten. Wir sehen das »große Ganze« und stellen eine Verbindung zur Welt und den Menschen in ihr her. [Sie können sich selbst erleben] als glücklich, aktiv, interessiert und die Welt als sicher, voller Freude und friedlich. Dieser Zustand beinhaltet, dass Sie Pläne machen und diese ausführen, dass Sie auf sich selber achten und sich Zeit fürs Spielen und für Aktivitäten mit anderen nehmen, dass Sie sich produktiv auf der Arbeit fühlen und das generelle Gefühl von Regulierung und Kontrolle haben. Wir haben die Fähigkeit, Störungen anzuerkennen und Alternativen zu erkunden, um Hilfe zu bitten und geordnete Reaktionen zu haben.«30

      Auf Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System zurückzugreifen, um ein inneres Gefühl von Sicherheit zu erzeugen, bedeutet nicht unbedingt, dass die Umstände selber sicher sind. Das Risiko, dass Ihr Haus zwangsversteigert wird, oder dass Sie sich einen Hexenschuss beim Schuhe-Zubinden holen, gibt es immer noch, und Sie müssen Resilienz beweisen, um mit solchen Gefährdungen fertigzuwerden, trotzdem gibt es die innere Neurozeption von Ruhe und Gleichgewicht.

      Ist die Bauch-Vagus-Leitungsbahn vollständig ausgereift und funktioniert zuverlässig, dann fungiert sie als »Bremse« und reguliert die Aktivierung des sympathischen und des parasympathischen Nervensystems und verhindert so, dass Sie sich hoch in eine Panik schrauben oder hinab in den Treibsand von Rückzug geraten. Ihr Körper reagiert zwar, aber Ihr Gehirn kann das Gefühl von Ausgeglichenheit aufrechterhalten und sich recht schnell von diesem Ungleichgewicht erholen. Sie vertrauen sich selber genug, um sich zu sagen: »Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Ich kann lernen, jetzt damit umzugehen.« Sie vertrauen darauf, dass Ihre Mitmenschen Ihre Ressourcen sind: Sie kehren in einen Ruhezustand zurück, weil Ihre Mitmenschen ruhig sind. Sie vertrauen darauf, die Situation zu meistern, weil diese auf Ihre Fähigkeiten vertrauen, die Situation zu meistern.

      Die Übungen in diesem Kapitel sind so angelegt, dass Sie die vielen Werkzeuge Ihrer körperbasierten somatischen Intelligenz, die Atem, Berührung, Bewegung, Visualisierung und soziale Kontakte beinhalten, anwenden lernen, um zu Ihrem natürlichen physiologischen Gleichgewicht zurückzukehren. Selbst angesichts vieler Herausforderungen, Turbulenzen, Verluste und Traumata, wenn es unmöglich scheint, auch nur einen kurzen Augenblick des Gleichmuts zu finden, können diese Werkzeuge Ihnen helfen, zu Ihrem Resilienzbereich zurückzukehren und die Neuroplastizität Ihres Gehirns auf Lernen und Bewältigen vorzubereiten. Hier ist ein Beispiel einer solchen Rückkehr zum inneren Gleichgewicht:

      An einem Freitagnachmittag holte ich mein fünfjähriges Patenkind Emma von der Schule ab. Ich trug sie auf dem Arm zum Auto, stolperte dabei aber über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig. Ich fing mich wieder und fiel nicht hin. Weder Emma noch ich nahmen Schaden. Weiter ging’s, wie immer. Am nächsten Tag erzählte ich meiner Yogalehrerin Ada davon und sie meinte: »Siehst du, Yoga ist nicht nur für die Fitness. Yoga ist für’s Leben.«

      Und genau das ist der Punkt aller dieser Übungen. Resilienztraining bedeutet nicht ein Satz an Fertigkeiten, sondern es schafft Gewohnheiten für das ganze Leben. Sie mögen stolpern, aber sich selber vor dem Hinfallen bewahren. Und sollten Sie doch hinfallen, dann können Sie wieder aufstehen. Und sollten Sie hinfallen und sich etwas brechen und deswegen eine Zeit lang – oder überhaupt nicht mehr – wieder aufstehen können, dann können Sie die Energie, die Fertigkeiten und die Ressourcen aufbringen, um Ihr Wohlbefinden wieder zu erlangen.

       Neue Konditionierung

      Diese Übungen unterstützen Sie darin, Herausforderungen mit mehr Resilienz und Flexibilität zu begegnen. Auch dann, wenn alles aus den Fugen gerät, werden Sie in der Lage sein, bewusst neue Entscheidungspunkte im Gehirn zu schaffen, mit deren Hilfe Sie Ihre Reaktionen flexibler gestalten.

      Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht

      Diese Werkzeuge stärken die bestehenden neuronalen Leitungsbahnen, welche einen stabilen Resilienzbereich aufrechterhalten, in dem Sie nicht allzu sehr aus der Balance geraten. Sie können es vermeiden, durch eine unerwartete oder unliebsame Situation Ihr Gleichgewicht zu verlieren, oder aber Ihr Gleichgewicht schnell wiedererlangen und zu Ihrer natürlichen Basis des Gleichmuts zurückkehren.


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