Burn-In statt Burn-Out. Klaus D. Biedermann

Burn-In statt Burn-Out - Klaus D. Biedermann


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unbekannt

      Was geschieht hier eigentlich?

       Dinge wahrzunehmen ist der Keim der Intelligenz.

      Laotse

      Finden Sie es nicht auch auffällig, dass in Ländern, wo Menschen allen Grund hätten, unter Stress zu leiden – weil sie nicht wissen, wie sie an Nahrung kommen oder ob sie in der nächsten Nacht ein Dach über dem Kopf haben werden, geschweige denn, ob sie überhaupt am Leben bleiben –, Burn- out wenig oder gar nicht bekannt ist?

      Die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert haben zwei Weltkriege mit unglaublichen Belastungen erlebt und noch früher waren Arbeitstage von mehr als 12 Stunden ohne Jahresurlaub keine Seltenheit. Könnte das Phänomen Burn-out vielleicht etwas mit fehlender Sinnhaftigkeit im Leben der Betroffenen zu tun haben oder gar mit dem Verlust von Werten?

      Mozart komponierte binnen kurzer Zeit drei große Opern und bekam keinen Burn-out. Paul Cézanne schuf unzählige eindrucksvolle Werke und erlitt keinen Burn-out. Jemand, der wirklich tief begeistert ist von dem, was er tut, kann gar nicht ausbrennen, im Gegenteil: Er bekommt Kraft aus seiner Tätigkeit, auch wenn er zwölf Stunden oder mehr darauf verwendet.

      Seit Jahren darf ich beobachten, wie griechische Fischer, die morgens in aller Frühe aufs Meer fahren, vormittags zurück­kommen und bis in den späten Abend in ihrer Taverne arbeiten. Dabei plaudern sie gut gelaunt mit ihren Gästen. Als ich dort von meinem gerade entstehenden Buch über Burn-out erzählte, fragten sie, was das sei – und schüttelten dann nur den Kopf. Sogar der ansässige Arzt, mit dem ich im Zuge meiner Recherchen sprach, kannte Burn-out und dessen Symptome bis vor Kurzem lediglich vom Hörensagen und aus einer Fachzeitschrift. Inzwischen, so sagte er mir, gebe es das Phänomen leider zunehmend auch in den großen Städten auf dem Festland; er bringe das mit dem enormen Druck in Verbindung, der seit der Krise auf dem Land liegt.

      Ungezählte Menschen stecken dort tief im Tal der Depression. Es ist sogar so schlimm, dass viele Griechen keinen anderen Ausweg mehr wissen als den Freitod. Die Angst, als Bettler zu enden, lässt viele zum Strick greifen. Täglich nehmen sich dort zwei bis drei Menschen das Leben, 25–30 versuchen es. Die Psychologen der Athener Pantion Universität untersuchen die psychologischen Auswirkungen der Finanzkrise. Früher waren Suizide in der griechischen Gesellschaft sehr selten, zurzeit liegt die Rate bei 12 Prozent und steigt weiter an. Angesichts der großen Not ist sogar die Kirche von ihrer Regel abgewichen, Selbstmörder nicht zu bestatten.

      Es ist still geworden in Griechenland, weil die Menschen erschöpft sind. Die Zeiten der Massenproteste sind vorbei. 2012 kam es noch zu Straßenschlachten vor dem Parlament. Anlass war der Selbstmord eines 77-jährigen Rentners, der sich aus Protest mitten auf dem Platz erschossen hatte. Laut seines Abschieds­briefes wollte er damit ein Zeichen setzen und die Jugend auffordern, sich zu wehren. Der Kampf ums Überleben nimmt inzwischen den Menschen die Kraft zur Revolte. Das sind typische Merkmale eines Burn-out. Natürlich wird das nicht bekannt gemacht, da es die Erholung der Aktienmärkte stören würde. Die Troika zeigte sich bei ihrem letzten Besuch ›zufrieden‹. Womit? Damit, dass es in Griechenland wieder Malaria-Tote gibt? Oder mit der Verdreifachung der Selbstmordrate, die jahrelang die niedrigste in Europa war?

      Ist die Troika zufrieden mit der Arbeitslosenquote von 27 Prozent? Oder mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 70,6 Prozent in der griechischen Region Dykiti Macedonia? 1,3 Millionen von 3,6 Millionen erwerbsfähigen Griechen sind arbeitslos. Ein Drittel der Bevölkerung ist unter die Armutsgrenze gefallen. Bei 7 Millionen Griechen bestimmt Armut den Alltag.

      Ist die Troika zufrieden damit, dass weit mehr als 300.000 Griechen ihr Auto abgemeldet haben oder dass Eltern ihre Kinder in SOS-Kinderdörfern abgeben, weil sie sie nicht mehr ernähren können? 150.000 Hochschulabsolventen haben in jüngster Zeit das Land verlassen, 120.000 Firmen sind inzwischen bankrottgegangen. Dieser beispiellose Aderlass ist die traurige Situation in Griechenland. Man darf gespannt sein, was die neue Regierung Griechenlands bewirken wird. Die Troika wollen sie jedenfalls schon einmal des Landes verweisen und zeigen damit diesen menschenverachtenden Robotern der Europä­ischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds die kalte Schulter. Wahrscheinlich hat man nun hierzulande Angst vor einer Annäherung Griechenlands an Russland. Diese Wahl war sicher der demokratische Hilfeschrei eines Volkes, das damit gesagt hat: »So können wir nicht mehr weiter machen.«

      Arbeitsüberlastung, Tempodruck, mangelnde Mitsprache bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse, Mobbing, autoritäre Führungsstile und fehlende Wertschätzung sind Faktoren, die auch hierzulande den Menschen ein hohes Maß an Belastbar­keit abverlangen. Vor diesem Hintergrund finden viele nicht mehr genügend Muße und Entspannung, um mit den Anforderungen des Alltags fertig zu werden. Dennoch bekommen auch Menschen einen Burn-out, die den eben genannten Verhältnissen nicht ausgesetzt sind. Andere wiederum, die 60 Stunden in der Woche arbeiten, trifft er nicht.

      Was geschieht hier eigentlich? Stellt Burn-out vielleicht nur eine Metapher dar, und wenn ja, wofür? Ist es möglicherweise in bestimmten Kontexten völlig normal, einen Burn-out zu erleben, und somit im Umkehrschluss eher krank, keinen zu bekommen? Könnte Burn-out bei Erwachsenen vielleicht gar eine Revolte gegen unser selbst geschaffenes System sein, ähnlich wie ADHS bei Kindern? Falls ja, werden jedenfalls enorme Anstrengungen unternommen, diese Revolution zu verhindern. Die Pharmaindustrie wird es uns sicher danken.

      Einerseits sind wir unglaublich stolz auf unsere Freiheit, die wir für das höchste Gut halten, versklaven uns aber selbst immer mehr, indem wir uns von Dingen wie E-Mails, Handys und Smartphones abhängig machen: je mehr wir davon besitzen, desto erfolgreicher meinen wir zu sein. John D. Rockefeller und Enzo Ferrari, um nur zwei erfolgreiche Menschen zu nennen, hatten kein Handy. Wir bilden uns ein, ständig erreichbar sein zu müssen, aber machen uns damit auch in eigenen Prozessen jederzeit unterbrechbar. Sogar während der Unterbrechungen können wir noch unterbrochen werden, wenn zum Beispiel eine neue Nachricht auf dem Display erscheint. Dabei geht es selten um wesentliche Informationen, sondern viel mehr um Ruhestörung. Wir fesseln uns also selbst. Da jedoch nur Dienstboten ständig erreichbar sein müssen, ist derjenige wirklich erfolgreich, der es sich leisten kann, sein Handy auszuschalten.

      Benutzen Sie den öffentlichen Personennahverkehr? Dann beobachten Sie folgendes Phänomen sicher auch (falls Sie nicht selbst zu beschäftigt sind): Die Fahrgäste steigen ein, suchen sich eine freie Sitzgelegenheit, lassen sich nieder – und nehmen sofort ihr Smartphone in die Hand. Dann drücken und wischen sie permanent auf dem Display herum.

      Aber es geht noch schlimmer: Ich habe an diesem Buch an einem der schönsten Orte geschrieben, die man sich dafür vorstellen kann, auf der Terrasse des Gravia zwischen den Orten Arillas und St. Stefanos im Nordwesten der Insel Korfu. Von dort hat man einen traumhaften Blick auf das Meer und die vorgelagerte Insel gleichen Namens. Eine deutsche Familie kam und besetzte einen der Nachbartische. Kaum hatten sie dort Platz genommen, forderte die vielleicht vierjährige Tochter lautstark von der Mutter ihr Handy und begann sofort darauf herumzuspielen. Wohlgemerkt, sie hatte ein eigenes Smart­phone. Von diesem Moment an hörte man von dem Kind kein Wort mehr. Nur als es an das Bestellen des Essens ging, blickte die Kleine kurz auf und sagte: »Pizza«. Über den weiteren Wortschatz des Kindes konnte ich mir keinen Eindruck verschaffen. Da die Eltern ebenfalls nicht miteinander sprachen, befürchte ich da Schlimmes.

      Ich möchte die modernen Errungenschaften keineswegs verteufeln; ohne diese elektronischen Helfer könnte ich nicht das Leben führen, das ich führe. Es muss also – wie bei so vielen Dingen – auch hier um die ausgewogene Balance gehen. Man ist jederzeit mit der ganzen Welt verbunden und daher werden wir mit dem Tausendfachen an Nachrichten und anderen Meldungen dessen überflutet, das unsere Großeltern noch erlebt haben. Dies kann nicht nur ein Segen sein, insbesondere wenn man sich die Frage stellt, ob wir unbedingt wissen müssen, welche Prominente gerade schwanger ist oder wie viele Menschen bei einem Hochhausbrand in China ums Leben gekommen sind.

      »Jeder weiß, wie man ein Smartphone bedient, die politische Frage lautet umgekehrt, wie man verhindert, dass man vom Smartphone bedient wird«, so die kluge Anmerkung von Frank Schirrmacher, dem 2014 verstorbenen Mitherausgeber der Frankfurter


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