Die Stille in mir. Thomas Schmelzer

Die Stille in mir - Thomas Schmelzer


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      Man fuhr mich in ein Einzelzimmer, in dem ich nur für mich sein konnte. Auch dies war wie ein Geschenk. Das erste, was mir einfiel, war, meinen engsten Freunden zu schreiben – jenen Freunden, die vielleicht verstehen konnten, in welchem Zustand ich mich befand. So bat ich darum, mir Papier und Stift zu geben, und ich schrieb drei Briefe.

      Zwei oder drei Tage später war der erste Zyklus der Chemotherapie vorbei. Gerade hatte eine Schwester die Nadel entfernt, als die Türe auf ging und ein betroffen dreinblickender Jakob, ein Herzensfreund, herein kam. Er hatte meinen Brief erhalten und war sofort von Lanzarote hierher geflogen. Wir sahen uns in die Augen und ich spürte die Erleichterung: Endlich war da ein Mensch, dem ich erzählen konnte, was in mir geschah. Er würde mich in den nächsten zwei Wochen jeden Tag besuchen und mit mir einige intensive Prozesse und Erlebnisse teilen.

      Und er hatte einige Geschenke mitgebracht: Bücher von Osho, Bücher über die Kraft der Gedanken, ein esoterisches Kartenset. Ich zog daraus eine Karte mit der Aufschrift »Erwarte ein Wunder«.

      Das Coolste aber war eine gelb-orange Brille. In der alternativen Farbtherapie weiß man um die Wirkung von Farbbrillen, die beruhigend, kräftigend oder ermutigend auf das Bewusstsein wirken können. Aus drei Farben wählte ich die gelbe.

      Die nächsten Tage lebte ich in zwei Welten: Schmerz des Körpers – Freude der Seele. Die Glückseligkeit, das Licht, die Geborgenheit verließen mich nicht. Jeden Tag konnte ich dies erneut hervorholen, indem ich in mein Herz blickte, in mich zurücksank. Bald schon erkannte ich, dass es das sein müsste, was man Meditieren nennt. Für mich war es mehr als das: Es war wie ein Lebenselixier, wie ein Ernähren des Körpers mit Liebe und Licht.

      Die lustige gelbe Brille half mir nun, dies auch mit offenen Augen zu zelebrieren. Das war mein Glück: Im Krankenhaus gab es wenig Ablenkung und so verweilte ich immer wieder Stunden in diesem Sein, wobei hie und da erste Gedanken entstanden, was ich alles tun könnte, wenn ich wieder gesund sein würde.

      Ich badete täglich in dieser fulminant neuen Erfahrung puren Seins. Und ich erforschte zaghaft, wie schnell dieser Zustand verschwand – wenn sorgende Gedanken, Schmerzen oder alte Gefühle von Angst, Traurigkeit oder Wut sich meldeten. Immer aber, wenn ich sie nur beobachtete und vorüberziehen ließ, tauchte die Sonne wieder auf, die innere Sonne, die von den Wolken höchstens verdeckt werden konnte.

      Die bewusste Klarheit war immer wieder am erstaunlichsten – ein gedankenloser, vollwacher Seinszustand, in dem ich mich viel größer und weiter fühlte.

      Hätte ich einen spirituellen Lehrer zur Seite gehabt, hätte er mir zeigen können, wie wertvoll dieser Zustand tatsächlich war, wie man diese Form des puren Seins kultivieren und ins Leben integrieren kann. Das sollte aber noch Jahrzehnte dauern und niemand weiß, ob sich diese Zeitspanne überhaupt hätte verkürzen lassen können.

      Für meine Eltern und die meisten Ärzte wurde ich allmählich zum Alien und ich bot wohl auch einen schrägen Anblick: Kaum noch Haare auf dem Kopf – sie waren der Chemo zum Opfer gefallen –, bewaffnet mit gelber Brille, abgemagert, um mich herum esoterische Bücher und ein entrückt-glückseliges Lächeln auf dem Gesicht.

      War ich verrückt geworden?

      War ich in eine Sekte eingetreten?

      Und war mein Freund Jakob der getarnte Sektenführer?

      Aber ich fand keine Worte für meinen neuen Bewusstseinszustand und brauchte sie auch nicht.

      Das war die eine Welt. Die andere war mein schmerzender Körper. Wochenlang konnte ich nur auf der Seite liegen und musste von Neuem laufen lernen, da das Gefühl und die Beweglichkeit meiner Beine erst allmählich wiederkehrten. Auch die Blase funktionierte noch wochenlang nicht, sodass man lange nach der Operation nicht wusste, ob ich den Rest meines Lebens mit einer Urinflasche am Rollstuhl würde herumfahren müssen.

      Jakob war der Lieferant allerlei verrückter Dinge und Ideen, aber er war nicht der einzige. Ein junger Mann irrte sich im Zimmer und begann mit mir ein Gespräch. Es stellte sich heraus, dass er Edelsteine verkaufen wollte, und am Ende schenkte er mir einen Bergkristall und einige andere Steine. Heute hat dieser Kristall viele Brüche und eine dunkle Farbe angenommen, was laut mancher Experten dafür spricht, dass er eine energetisch reinigende Funktion hat und mir ungute Energie entzogen hat.

      Eine Dame ›irrte‹ sich ebenfalls im Zimmer, sie war eigentlich eine psychologische Begleiterin für krebskranke junge Frauen. Auch wir kamen ins Gespräch und eine Woche später brachte sie mir einen riesigen Stapel der damals gängigsten spirituellen Magazine wie Magazin 2001 und natürlich Esotera. Eine neu Welt tat sich auf ...

      In diesen beiden Welten lebend erkannte ich mich oft selbst nicht wieder. Viele alte Muster, Ängste, Grübeleien – sie waren einfach verschwunden. Ich hatte schlicht keine Lust mehr, mir leidzutun oder Gefühle von Resignation zuzulassen. Das hatte ich bereits alles ausgelebt.

      Nein, es war wie ein freudiges Experiment. Während meine Eltern und die Ärzte weiterhin um mich bangten, war ich meist in einem recht fröhlichen, unbekümmerten Zustand.

      Eine liebe Tante hatte es besonders schwer. Pflichtgemäß kam sie zu Besuch, brachte einen großen Strauß Blumen mit und murmelte etwas von: »Ja mei, des is scho schwer. Des wird scho. Mei, es ist scho hart ...« Ich musste mich regelrecht zurückhalten mit meiner Freude, die einfach da war, um sie nicht zu verunsichern. Es war ihre eigene Angst, die sie zu beschwichtigen suchte.

      Lustig war auch der Besuch eines weiteren Freundes. Ich, entrückt und froh, erzählte von meinem Zustand, von Glückseligkeit und Gott – das war wohl zu viel für den atheistisch eingestellten kreativen Kopf. Fluchtartig verließ er das Krankenhaus – er sollte erst später zu seiner Spiritualität finden.

      Welche Welt war wirklicher für mich? Ganz klar war ich im Herzen zu Hause. Aber ich nahm wahr, dass auch die ›äußere Welt‹ immer deutlicher rief. In sie galt es zurückzukehren und mit ihr Frieden zu schließen. Das tat ich, soweit es möglich war. Ich blickte mir traurige Vergangenheiten an, sprach mit meinem lieben Körper und lobte ihn für seine Durchhaltekraft. Ich stellte mir vor, wie ich freudig hüpfend auf einer Wiese herumtollen würde.

      Immer wieder gab es Schmerzschübe. Manchmal jedoch konnte ich mein Bewusstsein verlagern, indem ich erkannte: Ich war nicht der Schmerz – es gab mich und den Schmerz. Eher zufällig, da ich ja keine Übung im Meditieren hatte, gab es Momente, die bis zu 30 Minuten währen konnten, in denen ich mich wie außerhalb des Körpers befand. In diesen Momenten war der Schmerz komplett verschwunden. Ich übte dies, indem ich mich mit meinem Bewusstsein in schöne Themen oder Bilderwelten verlor und indem ich ... in die Stille schaute.

      Der Körper wurde langsam stabiler. Wochen waren vergangen, nach wie vor lag ich die meiste Zeit im Krankenbett. Aus hygienischen Gründen (Virengefahr, Anfälligkeit für Ansteckung) wurde ich noch eine ganze Zeit lang im antiseptischen Einzelzimmer gehalten. Mir half es, bei mir zu bleiben. Die Momente und Phasen der Innerlichkeit wurden seltener, aber es gab sie weiterhin.

      Ich aber war ein anderer geworden. Ich wusste wie nie zuvor, was ich wollte und was ich nicht wollte. Und wie nie zuvor konnte ich dies auch ausdrücken. So reifte schon recht früh in mir die Überzeugung, dass ich in diesem Krankenhaus nie gesund werden würde. Mir war nicht entgangen, dass mit einer Ausnahme alle anderen Mitstreiter verstorben waren.

      Ich verurteilte dies nicht und beschuldigte auch nicht das Krankenhaus dafür. Aber ich bekam großen Respekt vor dem Willen eines jeden Menschen. Und so fühlte ich bei dem einen einfach nur große Traurigkeit und den fehlenden Willen, noch irgendeine Art von Kampf auszutragen. Ein zweiter Bettgenosse durchlebte mehrere Phasen. Zuerst kam die Phase großer Verzweiflung und der Fragen. Später wirkte er friedvoll und mit seinem Schicksal einverstanden. Er wusste um seinen Abschied.

      Ich aber wollte raus. Hatte ich doch mittlerweile viele Bücher und Artikel über alternative Heilmethoden gelesen und selbst eine Heilerin erlebt. Überhaupt hatte ich in


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