Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
Wie oft hatten sie sich wegen der Erziehung ihres einzigen Sohnes gestritten! Jared hatte seiner Frau mehr als einmal vorgeworfen, Vincent zu verhätscheln, wenn sie sich wieder schützend vor ihren Sohn gestellt hatte, und sie dann Gegenvorwürfe an ihn gerichtet, dass er den Jungen zu hart anpacke und viel zu viel von ihm verlange. Ihre Gespräche über Vincent waren immer ähnlich verlaufen.
»Zu hart?«, hatte er dann zum Beispiel erwidert. »Glaubst du, diese Farm kann er einmal führen, wenn er nicht früh genug mit den Realitäten dieses Betriebes vertraut gemacht wird? Ich lasse ihm doch wirklich alle Freiheiten, er kann sich nicht beklagen. Lesen wir ihm nicht jeden Wunsch von den Augen ab? Dafür könnte er sich wirklich hin und wieder erkenntlich zeigen. Sogar seinen Freund Scotty kann man im elterlichen Betrieb öfter antreffen als unseren Sohn hier auf der Farm.«
»Du und deine sogenannten Realitäten, es gibt auch noch anderes im Leben, was er erfahren soll und worauf es eben auch ankommt. Es gibt mehr als immer nur die Arbeit.«
»Ach ja? Aber wir leben doch ganz gut von dieser Arbeit – oder etwa nicht? Man bekommt im Leben nichts geschenkt«, konterte er dann gereizt. Und so gab ein Wort das andere.
Innerlich verfluchte er sich jedes Mal dafür, denn er liebte seine Frau sehr. Dass man im Leben nichts geschenkt bekam, wusste sie genauso gut wie er. Elisabeth, er nannte seine Frau zärtlich Liz, war schließlich die Tochter des reichen Getreidefarmers Wayne Goddard, der mit Jareds Vater die gleiche Leidenschaft teilte, nämlich die Pferdezucht, und mit ihm auch in geschäftlicher Verbindung stand. Auf den Hengstparaden waren sie bei den Versteigerungen manches Mal auch schon Konkurrenten gewesen. Jared hatte seine Frau auf einem Heubodenfest in Onden kennengelernt, als er dreiundzwanzig Jahre alt war, und sich gleich in sie verliebt. Da dies auf Gegenseitigkeit beruhte und auch die Eltern die Verbindung befürwortet hatten, heiratete das junge Paar bereits nach einem halben Jahr. Der ersehnte Nachwuchs war allerdings lange ausgeblieben und erst, als die beiden sich schon schmerzlich damit abgefunden hatten, ohne Erben zu bleiben, war Vincent doch noch geboren und sogar von einem der Großväter als Geschenk Gottes bezeichnet worden.
Die ersten Jahre in Vincents Leben waren problemlos verlaufen und die Großeltern Swensson und Goddard schienen eine Art Wettkampf im Verwöhnen auszutragen, der manchmal merkwürdige Blüten trieb. Im Alter von zwei Jahren besaß Vincent bereits zwei Ponys, ein braun-weiß geschecktes von den Swenssons und ein schwarzes mit einer weißen Blesse auf der Stirn von den Goddards. Immerhin war aus Vincent ein guter Reiter geworden und in den Regalen seines Zimmers standen zahlreiche Pokale, die er auf Turnieren gewonnen hatte. Da Vincent auf Raitjenland aufwuchs, war es selbstverständlich, dass er alle Feiertage und später auch seine Schulferien auf der Goddardschen Farm verbrachte. Jared hatte seinen eigenen Vater nicht wiedererkannt, denn er selbst war von diesem nie verwöhnt worden. So betrachtete er das Ganze eher skeptisch, weil er befürchtete, dass sein Sohn, den er liebte, zu sehr verweichlichen würde.
In der Pubertät dann hatte der Spross von Raitjenland Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die erst selten, dann immer öfter zu Beschwerden der Lehrer oder anderer Leute führten, und auch seine Besuche auf der Goddardschen Farm nahmen ab. Vincent hing lieber mit seinen Freunden ab, das war wesentlich lustiger, als bei Großeltern den braven Enkel zu spielen.
Immer hatten sich Elisabeth und Jared nur wegen Vincent gestritten, wobei es beide ja nur gut meinten. Jared wäre seiner Frau am liebsten nachgeeilt, hätte sie in den Arm genommen und mit ihr gemeinsam geweint. Aber sein Trotz oder sein Stolz – er wusste es selber nicht – oder vielleicht beides, hatten ihn am Küchentisch festgehalten.
Zehn Minuten später war er mit einem festen Entschluss aufgestanden, wobei er fast den Stuhl umgeworfen hätte. Dann hatte er die Sachen zusammengepackt, die er sonst für einen längeren Jagdausflug mitnahm, hatte draußen seinen besten Jagdhund zu sich gerufen und die Farm verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Rest der Hundemeute hatte beleidigt hinter ihnen her geheult.
Auf dem Küchentisch würde seine Frau später einen Zettel vorfinden und lesen: »Ich werde unseren Jungen suchen und zurückbringen. Vorher komme ich nicht zurück. Es tut mir so leid. Ich liebe dich. Jared«
Wie ein Lauffeuer war die Nachricht von Vincents vermeintlicher Tat bis in den letzten Winkel von Winsget gedrungen. Manch einer, dem Scotty begegnete, schaute ihn an, als hätte er selber den Anschlag auf die Seherin verübt. Jeder wusste natürlich, dass Vincent sein bester Freund war, und aus den Augen einiger Mitbürger sprach unverhohlene Schadenfreude. Endlich hatten die reichen Jungs auch mal ein Problem, konnte ja auf die Dauer nicht gut gehen, mochte manch einer von ihnen denken.
Am liebsten hätte er den Leuten zugerufen: Hey, ich bin zwar mit Vincent befreundet, aber deswegen bin ich noch lange nicht für das verantwortlich, was er vielleicht getan hat, oder habt ihr etwa schon Beweise?
Ihn kotzte das Spießertum in seinem Heimatort an und er hatte auch aus diesem Grund schon oft seinem Vater vorgeschlagen, in eine der größeren Städte im Süden zu ziehen, in denen sie ebenfalls Geschäfte hatten. Aber der Vater hatte von einem Ortswechsel nie etwas wissen wollen.
»Hier sind unsere Wurzeln, Scotty, und hier bleiben wir. Winsget ist der Stammsitz unseres Unternehmens. Du wirst eines Tages deiner Reiselust frönen können, wenn du deinen Antrittsbesuch bei unseren Filialen machst, und die Reise wird länger dauern, als dir vielleicht lieb ist. Deine Freunde kannst du nämlich nicht mitnehmen«, hatte er ihm dann mit einem Augenzwinkern geantwortet. Dieses Augenzwinkern und die Art, wie sein Vater ihm das gesagt hatte, hatten ihm gezeigt, dass er ihn liebte und es gut meinte.
Scotty hatte es längst gedämmert, dass an dem Gerücht, das in Winsget die Runde machte, sehr viel dran war. Er hatte Vincent vor dessen sehr hastigem Aufbruch die halbe Speisekammer seines Elternhauses in den Rucksack gestopft und ihm versprochen nachzukommen, wenn der erste Sturm sich gelegt haben würde. Vincent war überhaupt nicht gelassen gewesen.
Vielmehr hatte im Blick des Freundes etwas gelegen, was er dort noch nie vorher gesehen hatte und deshalb auch nicht hatte einordnen können. Jetzt konnte er es. Es war Panik gewesen, reine Panik.
Sie hatten sich noch hastig an ihrem alten Platz an den oberen Wasserfällen der Agillen verabredet, bevor sich Vincent dann mit seinem Rucksack durch die Hintergärten davongeschlichen hatte. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr waren sie fast jeden Sommer für ein bis zwei Wochen mit ihren Freunden zum Baden und Jagen in das Gebirge gegangen, das von Gorg, einem majestätischen, aber erloschenen Vulkan, beherrscht wurde. In der wilden Berglandschaft hatten sie sich austoben können. Fernab von der Kontrolle durch Eltern oder Nachbarn.
Nicht, dass sie etwas Verbotenes getan hätten, das war dort gar nicht möglich, aber es tat einfach gut, wenigstens einmal im Jahr nur so in den Tag hineinzuleben und in zahlreichen Abenteuern seine erwachende Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Außerdem bestand dort nie die Gefahr, von einem der Väter, die in ihrer Jugend das Gleiche getan hatten, zur Arbeit gerufen zu werden. Das galt für ihn ebenso wie für Vincent.
Die Familie Valeren betrieb seit vielen Generationen in Winsget eine Tuchweberei mit einem großen angeschlossenen Verkaufsgeschäft und dieser Betrieb gehörte zu dem Ort wie die Mühle zum Bach. Es gab in jeder Winsgeter Familie mindestens eine Person, die in der Weberei oder dem Geschäft arbeitete. Die Produkte der Firma wurden weit über die Grenzen des Landes hinaus verkauft. Der Ort hatte den Valerens sehr viel zu verdanken. Scotty hatte das Glück gehabt, mit drei älteren Schwestern und vielen Angestellten die Arbeit teilen zu können, wenn man von Arbeitsteilung überhaupt sprechen konnte. Er war der jüngste Spross der Familie und vor allem sein Vater setzte all seine Hoffnungen in ihn. An einem weinseligen Stammtischabend war diesem einmal die Bemerkung herausgerutscht, dass er auch noch öfter geübt hätte, aber es wären nur vier Versuche nötig gewesen. Irgendjemand, vielleicht die Bedienung, hatte Scottys Mutter dies zugetragen und das hatte zu einem mehrwöchigen eisigen Schweigen zwischen seinen Eltern geführt. Unter Zuhilfenahme eines großen Straußes roter Rosen und eines ehrlich gemeinten reumütigen Blickes hatte es schließlich beendet werden können.
Nach dem Willen seines Vaters sollte Scotty einmal das Familienunternehmen leiten, eine tüchtige Frau aus gutem Hause heiraten, Kinder bekommen – möglichst Söhne