Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

Die Siegel von Tench'alin - Klaus D. Biedermann


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diejenigen, die ihn und seine Mannschaft zuletzt lebend gesehen haben.«

      »Dann lass los, Paul. Vertraue darauf, dass alles gut geht. Eine Runde Golf würde dir mal wieder guttun«, versuchte Eva ihren Mann aufzuheitern. »Du kannst jetzt sowieso nichts tun, sie ist nun mal weg. Aber wenn sie wieder hier ist, wird sie vielleicht ihren Vater brauchen, was meinst du?«

      »Golf, wie kann ich jetzt ans Golf spielen denken, wo unser Kind vielleicht in Gefahr ist! Und wie kommt es, Eva, dass du so gelassen sein kannst, weißt du irgendetwas? Verheimlichst du mir etwas?«

      »Habe ich dir jemals etwas verheimlicht, Paul? Nein, wie gesagt, ich habe das Gefühl, dass es unserer Tochter gut geht. Halte mich für verrückt, aber ich weiß es einfach. Nenne es von mir aus ›Mutterinstinkt‹.«

      »Eva, bitte! Du weißt es? Na gut ... ich weiß es aber nicht. Morgen werde ich in Nikis Wohnung fahren. Vielleicht entdecke ich doch noch einen Hinweis, irgendeine Botschaft, die sie oder jemand anderes dort gelassen hat und die wir bisher übersehen haben. Ich werde Mike Stunks bitten mitzukommen. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig.«

      »Was soll Mike denn ausrichten?«, Eva Ferrer runzelte die Augenbrauen. »Bringst du ihn damit nicht in eine ... na ja ... missliche Lage?« Sie dachte an den inzwischen etwas fülliger gewordenen Mike, der Leiter einer Spezialabteilung der NSPO war. Ferrers waren ihm im letzten Jahr bei einem offiziellen Anlass im Festsaal des Ministeriums für Sicherheit begegnet.

      Nichts schien den wachsamen Augen dieses Mannes zu entgehen, auch nicht an einem Ort, an dem er eigentlich hätte feiern und sich entspannen können. Eva erinnerte sich, dass es sich um eine Jubiläumsfeier gehandelt hatte. Jemand, der vor lauter Orden schon nicht mehr gerade gehen konnte, hatte noch einen dazubekommen. Eva hasste solche Veranstaltungen wie die Pest, war aber ihrem Mann zuliebe und der Etikette wegen mitgegangen.

      Als Eva das College besucht hatte, vor hundert Jahren wie ihr manchmal schien, war Mike Stunks einer ihrer Verehrer gewesen und sie hatte sogar einmal zugestimmt, ihn auf einen Ball zu begleiten. Er hatte sich als recht hartnäckig erwiesen und sie hatte, eher um ihre Ruhe zu haben, seinem freundlichen Drängen nachgegeben. Es war dann doch noch ein lustiger Abend geworden, an dem sich Mike als charmanter Unterhalter und passabler Tänzer gezeigt hatte. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren, nachdem sie ihm klargemacht hatte – und zwar diesmal unmissverständlich –, dass es bei der einen Verabredung bleiben würde. Er war ein netter Kerl, der obendrein noch das Gespür dafür hatte, wann es eine Frau ernst meinte, aber als potenzieller Ehemann war er für sie von vornherein nicht in Frage gekommen. Sie hatte nämlich damals schon ein Auge auf Paul Ferrer geworfen, der zu dieser Zeit gerade mitten in seinem juristischen Examen stand. Dennoch hatte der sie, und dafür hatte sie gesorgt, in der Mensa schon einige Male bemerkt und ihr sogar ein Lächeln geschenkt, das sie nur noch mehr motiviert hatte.

      »Mike ist einer der Besten«, wurde sie von ihrem Mann aus ihren Erinnerungen gerissen, »und gerade deshalb will ich ihn dabeihaben. Auf sein Konto gehen die meisten Aufklärungen von Verbrechen. Erinnerst du dich an den Entführungsfall der Sisko-Kinder? Das hat er praktisch im Alleingang erledigt, auch wenn, wie man munkelt, Freund Zufall zu Hilfe kam. Aber nur dem Fleißigen winkt auch das Glück. Ich möchte einfach nichts unversucht lassen. Wenn du mit ›misslicher Lage‹ meinst, er müsse das seiner Dienststelle melden, nun, ich werde es ihm erklären, warum es erst einmal besser ist, es nicht zu tun.«

      Der Senator hatte seinen Kaffee ausgetrunken und stellte die Tasse scheppernd auf den Unterteller. Sein neuer Plan schien seine Lebensgeister geweckt zu haben.

      Natürlich erinnerte sich Eva an die Sisko-Kinder, auch wenn es jetzt 15 Jahre her war. Sie erinnerte sich sogar an das Datum, an dem sie zum ersten Mal von der Entführung gehört hatte, weil es am siebzigsten Geburtstag ihrer Mutter gewesen war. Es war der 2.8.2851 gewesen. Mike hatte ihr die ganze Geschichte außerdem an jenem steifsten aller steifen Abende im letzten Jahr ausführlich erzählt, zumindest das, was er für die ganze Geschichte hielt. Sie waren darauf gekommen, weil Kay, der eine der beiden Sisko-Söhne, irgendeine Auszeichnung seiner Universität erhalten hatte, was just an dem Tag in den Medien berichtet wurde.

      Die damals achtjährigen Zwillinge des bekannten Industriellenehepaares Sisko waren entführt und drei Monate lang gefangen gehalten worden. Sie waren offensichtlich wie immer mit dem Wagen von der Schule abgeholt worden. Mr. Doutes, der Hausmeister, und zwei Lehrer hatten dies bestätigt.

      Zu diesem Zeitpunkt war der echte Chauffeur, ein gewisser Claude Robbins, allerdings mit Reifenwechseln beschäftigt gewesen. Als der ehemalige Profiboxer, der damals bereits seit fünf Jahren als Leibwächter und Fahrer bei den Siskos arbeitete, losfahren wollte, um die Kinder abzuholen, hatte er bemerkt, dass beide Hinterreifen der schweren gepanzerten Limousine fehlten. Der Wagen war aufgebockt worden. Ob fehlende Schlussfolgerungen das Ergebnis vieler schwerer Kopftreffer gewesen waren oder einen anderen Grund gehabt hatten, würde für immer im Dunkeln bleiben. Jedenfalls hatte sein Hirn die Überlegungen nicht weitergetrieben als bis zu einem ganz einfachen Reifendiebstahl. Einen Ersatzreifen hatte er vorrätig gehabt, aber für den zweiten hatte er einen Servicewagen aus der Werkstatt kommen lassen müssen. Das hatte ungefähr eine halbe Stunde gedauert, was überhaupt nicht tragisch gewesen war, da es wegen des dichten Verkehrs manchmal hatte vorkommen können, dass er sich verspätete. In einem solchen Fall hatten die Kinder einfach in der Halle der Schule auf ihn gewartet und sich die Zeit mit ihren geliebten Computerspielen vertrieben.

      »Es war exakt der gleiche Wagen«, so hatte es der beflissene Hausmeister unterwürfig der Polizei, die mit großem Aufgebot angerückt gewesen war, versichert.

      »Durch die getönten Scheiben konnte ich doch nicht sehen, wer da am Steuer saß. Ich ging davon aus, dass alles seine Richtigkeit hat. Die Kinder sind ja auch hinten eingestiegen, so wie immer ... sie haben noch gelacht und rumgealbert. Da dachte ich mir doch nichts Schlimmes. Kann ja keiner mit rechnen. Aber ihr könnt sie doch finden, sie haben doch den Chip«, jammerte er, als wenn es sich um seine eigenen Kinder gehandelt hätte. Der Chip hatte aber in diesem Fall nicht helfen können, obwohl Kindesentführungen das Hauptargument bei seiner Einführung gewesen waren. Jeder hatte die Sinnhaftigkeit leicht nachvollziehen können.

      Wie sich in diesem Fall später herausgestellt hatte, war der ICD fachmännisch entfernt und ausgetauscht worden. Die Ironie war, dass die ICDs von der Firma Sisko hergestellt wurden. Hundertschaften der Polizei, die fast das ganze Land auf den Kopf gestellt hatten, hatten unverrichteter Dinge aufgeben müssen. Alle Hinweise aus der Bevölkerung waren ins Leere gelaufen und dann versickert wie Wellen an einem Sandstrand. In der ersten Woche waren über fünfhundert Zeugenmeldungen eingetroffen. Alle hatten die Kinder irgendwo gesehen und viele hatten sogar ihren Kopf darauf verwetten wollen. In der zweiten Woche waren es nur noch dreißig Meldungen gewesen, obwohl die Medien fast stündlich von dem Fall berichteten und dafür gesorgt hatten, dass jeder im Land wusste, wie die Zwillinge aussehen.

      Drei wirklich dummdreiste Trittbrettfahrer, die alle ein hohes Lösegeld gefordert hatten, waren schnell dingfest gemacht worden – zwei von ihnen bei der Lösegeldübergabe, zu der sie pünktlich selbst erschienen waren. Die Dummheit war auch im 29sten Jahrhundert noch nicht ausgestorben. Der Dritte, der auf diese Weise reich werden wollte, hatte seine Gesinnungsbrüder sogar noch übertroffen. Er hatte es irgendwie geschafft, aus dem Gefängnis, in dem er einsaß, anzurufen, um seine Forderungen zu stellen. Das hatte den Gefängnisdirektor seinen Job gekostet und allen Mitgefangenen eine sehr genaue Untersuchung ihrer Zellen eingebracht. Der Anrufer war ja schon gewesen, wo er hingehörte. Von da an noch einmal zehn Jahre länger.

      Die Kinder aber waren wie vom Erdboden verschwunden geblieben und auch die Entführer schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Man hatte das Schlimmste befürchtet.

      Zwei endlos lange Wochen waren weder Forderungen gestellt noch irgendwelche abgeschnittenen Ohren oder Finger geschickt worden – ein sehr beliebtes Druckmittel in ähnlich gelagerten Fällen – und Psychologen hatten die verzweifelten Eltern auf das Schlimmste vorbereitet. Mrs. Sisko hatte ergänzend dazu von ihrem Hausarzt starke Beruhigungsmittel bekommen, was dazu geführt hatte, dass sich die bedauernswerte Frau schlafwandlerisch und wie ein Schatten ihrer selbst durch das große Haus bewegt hatte, sofern sie einmal ihr Zimmer


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