Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
habe, und die Quelle versorgt das Haus mit Wasser ... mit dem Wasser, das dir so gut schmeckt. Fast alles andere, was du hier siehst, ist aus der Werkstatt meines Bruders. Mein Vater und viele Freunde haben beim Hausbau geholfen. Im Garten ist allerdings noch Arbeit, denn jetzt ist Pflanzzeit ... obwohl Saskia schon viel getan hat.
Sie hat wirklich einen grünen Daumen. Auch im Keller sollte ich bald für Ordnung sorgen, einige Kisten sind noch immer nicht ausgepackt. Ich werde mich wohl in den nächsten Tagen an die Arbeit machen müssen.«
Während er das sagte, stand er auf und ging wieder zum Fenster.
»Im Garten helfe ich dir gerne«, sagte Nikita hinter ihm, »ich wollte schon immer mal in der Erde wühlen ... ich meine, außerhalb eines Golfplatzes«, kicherte sie. »Ich freue mich jedenfalls darauf.« Sie bemerkte gerade, dass sie ihren Lieblingssport, dem sie zu Hause in jeder freien Minute begeistert nachgegangen war, überhaupt nicht vermisste.
Sie war erleichtert gewesen, dass Saskia hier noch nicht gewohnt hatte, denn sie hätte sich schlecht dabei gefühlt, wenn Effels Freundin wegen ihr hätte ausziehen müssen.
»Was denkst du, wie lange der Rat der Welten für seine Entscheidung brauchen wird? Werde ich die Pläne bekommen?« Nikita setzte sich im Bett auf, sie hatte sich inzwischen das Kopfkissen hinter den Rücken gestopft und schaute ernst aus ihren blauen Augen. Ihr war durchaus bewusst, welche Gedanken sie bei Effel mit ihrer Frage anstoßen würde. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, was geschehen würde, wenn sie die Pläne wirklich erhielte. In Angkar-Wat hatten sie vereinbart, immer den jeweiligen Moment zu leben und auszukosten. Beiden war durchaus bewusst, dass die Zukunft Entscheidungen von ihnen verlangen würde.
»Ich weiß es nicht, Perchafta hat sich dazu nicht geäußert. Er hat aber gesagt, wir seien die Ersten, die etwas erfahren werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr allzu lange brauchen werden. Sie müssten jetzt gerade zusammen sein. Ich wäre dort nur allzu gerne Mäuschen. Alleine die Vorstellung, dass dort mehr als zweitausend Teilnehmer zusammenkommen ... da wird es für die Krulls eine Menge Arbeit geben.«
»Ich wäre auch gerne dabei«, gab Nikita zur Antwort. »Ich habe dem Professor versprochen, mich heute zu melden. Er ist sicherlich ungeduldig. Wie ich ihn kenne, übernachtet er seit Tagen im Büro.«
»Was wird der Professor sagen, wenn er erfährt, dass du die Pläne gefunden hast?«, fragte Effel.
»Was er sagen wird? Er wird vollkommen aus dem Häuschen sein und alles daransetzen, dass sie möglichst schnell in seine Hände gelangen. Dabei wird er mir jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen wollen ... wenn er wüsste, wie es hier ist ... ob er sich das vorstellen kann?«, Nikita lächelte. »Ich glaube nicht, dazu denkt er viel zu rational und wissenschaftlich. Das Myon-Neutrino-Projekt ist für unsere Firma außerordentlich wichtig, deswegen werden sie ihm auch alle Mittel zur Verfügung stellen. Mithilfe der Pläne könnten wir wahrscheinlich Maschinen bauen, mit denen wir die Energieprobleme unserer Welt endgültig lösen würden. BOSST würde damit eine Menge Geld verdienen. Davon ganz abgesehen brächte es dem alten Professor Rhin großen wissenschaftlichen Ruhm ein – na ja, und mir natürlich auch«, fügte sie leiser hinzu und Effel glaubte, so etwas wie Sehnsucht aus ihrer Stimme herauszuhören.
»Haben sie bei euch denn keine Angst vor den Konsequenzen ihres ... Vertragsbruches?«, erwiderte er und war inzwischen zu einem Stuhl gegangen, um sich Hose und Hemd überzuziehen, die er in der letzten Nacht dorthin geworfen hatte; ein Hosenbein war auf links gedreht. »Schließlich handelt es sich nicht um eine Bagatelle.«
»Ich glaube, Mal Fisher, mein oberster Boss, hat vor gar nichts Angst«, meinte Nikita trocken. »Wir werden sehen, was der Rat der Welten beschließt, und dann können wir immer noch darüber nachdenken ... Was wohl gerade in unserem Tal geschieht?«
Nikita und Effel hatten in Angkar-Wat die großartige Gastfreundschaft der Krulls genossen. Diese hatten dem Paar ein Zelt aufgebaut, das mit seinen weichen Teppichen ein ideales Liebesnest gewesen war. Sie hatten sich um nichts kümmern müssen, denn auch für ihr leibliches Wohl war bestens gesorgt worden. Wenn sie nicht ineinander verschlungen waren oder sich aus ihrem Leben erzählt hatten, hatten sie die Reste der stark verfallenen Burganlage Gisor erkundet. Hier hatte vor so langer Zeit ihre verschworene Gemeinschaft eine neue Heimat gefunden.
Sam hatte die Gelegenheit zu kleinen Jagdausflügen genutzt und hin und wieder war aus der Ferne sein aufgeregtes Bellen zu hören gewesen, wenn er wieder etwas Interessantes aufgestöbert hatte. Die Krulls hatten auch ihn verwöhnt, denn er schlief nachts zufrieden unter einem kleinen Busch vor dem Zelt, so als hätte er die Liebenden nicht stören wollen.
Während ihrer gemeinsamen Streifzüge durch das Tal waren ihnen immer wieder alte Erinnerungen gekommen. Sie hatten sich dann unter einen Baum gesetzt, die Augen geschlossen und waren gemeinsam in ihre Vergangenheit eingetaucht.
Mal waren vor Effels geistigem Auge Szenen des früheren Lebens entstanden, ein anderes Mal hatte Nikita einfach zu erzählen begonnen. Die Worte waren dann regelrecht aus ihr herausgesprudelt. Oft hatten sie vor der Ruine ihres einstigen gemeinsamen Hauses gestanden und geweint. Ab und zu hatte ihnen Perchafta Gesellschaft geleistet, soweit es ihm seine Zeit erlaubt hatte, denn die Krulls waren mit den Vorbereitungen für das Treffen des Rates der Welten beschäftigt gewesen.
Die Gespräche mit ihm waren stets von Weisheit und Humor geprägt. Einmal hatte er sie in die Eingangshalle der Höhlen von Tench´alin mitgenommen, in der er die beiden einige Tage zuvor erwartet hatte, nachdem Nikita die Pläne gefunden hatte.
»Weiter darf ich euch nicht hineinlassen«, hatte er gesagt. »Schon dass ihr bis hierher gekommen seid, ist ein besonderes Privileg. Keines Menschen Fuß hat diese Hallen je betreten.«
»Befinden sich die Siegel in der Nähe?«, hatte Nikita ganz unschuldig gefragt.
Perchafta hatte sie aus großen Augen überrascht angeschaut: »Woher weißt du von den Siegeln, Nikita?«
»Keine Ahnung, ich weiß es nicht, Perchafta, die Frage kam von irgendwo tief aus meinem Inneren – ich musste sie einfach stellen. Ich dachte an euer Buch Balgamon und die geheimen Schriftzeichen, an den Code mit dem man sie entschlüsseln kann und diesen Rat der Weisen ... von all dem hast du uns erzählt ... vor ein paar Tagen im Höhleneingang.«
Perchafta hatte sich schnell gefasst und war fast wieder die Ruhe selbst. »Lass uns von etwas anderem reden«, hatte er dann gesagt. »Ihr dürft niemandem, wirklich niemandem den Zugang zu diesem Tal verraten, hört ihr? Ich könnte euch dann nicht mehr schützen. Ich könnte niemanden schützen, der sich Zugang zu den Höhlen verschaffen wollte ... und wenn dadurch die Siegel erwachen würden ... da endet meine Macht«, Perchaftas Stimme war jetzt leise, aber umso eindringlicher. »Versprecht mir das!«
»Wir versprechen es«, hatten beide wie aus einem Munde geantwortet und Effel hatte gefragt: »Was sollen wir denn den Leuten sagen? Jeder wird den Weg hierher wissen wollen. Sie werden fragen, wie und wo wir uns getroffen haben. Ich muss dem Ältestenrat Bericht erstatten. Sie haben mich ausgesandt, unseren Feind aufzuhalten«, dabei deutete er lächelnd auf Nikita. »Ich kann und will weder Mindevol noch den Ältestenrat belügen ... Mindevol würde es sowieso gleich bemerken.«
»Niemand«, hatte Perchafta wieder ernst das Wort ergriffen, »niemand darf je erfahren, wo der Eingang zu diesem Tal und den Höhlen ist. Alles andere dürft ihr erzählen.«
Die Art, wie Perchafta das sagte, ließ die beiden nach ihrem Versprechen gleich das Thema wechseln und sie hatten den Eindruck, als wenn der kleine Krull an diesem Tag nicht mehr zu seiner gewohnten Lockerheit zurückfand.
An anderen Abenden hatten sie dann, meist Hand in Hand, vor dem Zelt gesessen, einen schweren, süßen Wein aus großen kristallenen Gläsern genossen und den Zikaden und dem Nachtvogel gelauscht, der klagend seine eintönigen Weisen durch das Tal schickte. Sie waren stets von den Emurks bewacht worden, die auf Bitten der Krulls unsichtbar geblieben waren und nebenbei mit ihrer eigenen Abreise und dem bevorstehenden Fest ihre Arbeit gehabt hatten.
Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in Angkar-Wat hatten sie bei einem ihrer kleinen Ausflüge ein Seitental entdeckt,