Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
Leben wie eine Sturzflut über sie gekommen und sie hatte den Eingang zu dem geheimnisvollen Tal Angkar-Wat und auch zu den Höhlen von Tench´alin gefunden.
Professor Rhin war damals mehr als erstaunt gewesen, als sein Chef, Mal Fisher, ihm eröffnet hatte, man habe sein jüngstes Teammitglied, Nikita Ferrer, dazu ausersehen, die Pläne des Myon-Neutrino-Projektes aus der Alten Welt zu beschaffen. Vor allem, als er den Grund hierfür erfahren hatte. Seine junge, aufstrebende Mitarbeiterin war eine Walk In, die angeblich in einem früheren Leben die Pläne, die für seine Welt so sehr viel bedeuteten, schon in Händen gehabt haben sollte. Woher man das wusste, darüber hatte der Professor noch gar nicht nachgedacht. Viel zu aufregend war die Aussicht gewesen, solche Pläne bald besitzen zu können. Er hatte damit begonnen sich auszumalen, was das für seine wissenschaftliche Reputation bedeuten würde. Sein hohes Ansehen, das er bereits genoss, würde ins Unermessliche steigen. Es wäre die Krönung all dessen, wofür er lebte. Alles, was er seiner Karriere je geopfert hatte, würde einen Sinn bekommen. Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen. Er würde Tag und Nacht wach bleiben und seine junge Mitarbeiterin mithilfe der MFB, der von ihm entwickelten Multifunktionsbrille, begleiten. Er hatte gleich geahnt, dass die junge Nikita Ferrer die Richtige war. Als sie ihm beim Einstellungsgespräch gegenüber gesessen hatte, hätte er ihre ausgezeichneten Zeugnisse nicht mehr zu sehen brauchen. Er hatte sogar für einen kurzen Moment geglaubt, ihre Aura sehen zu können. Gemessen hatte er diese schon bei vielen Menschen, die Geräte dazu hatte er selbst bis zur Perfektion weiterentwickelt.
Der Plan Mal Fishers war aufgegangen, Nikita hatte sich wirklich erinnert. Was er nicht hatte einplanen können, war, dass Nikita vielleicht gar keine Lust mehr haben könnte, wieder heimzukehren.
In Effels Heimat waren inzwischen merkwürdige Dinge geschehen. Vincent, der Sohn des reichen Farmers Jared, war nach einem missglückten Mordversuch an der Seherin Brigit in die Berge geflohen und hatte dort ebenfalls zufällig den Zugang zum Tal Angkar-Wat entdeckt. Er war aber von einem der Wächter getötet worden.
Nikita und Effel hatten schließlich eine für sie schicksalhafte Begegnung in dem Tal und waren bald darauf als Paar nach Seringat zurückgekehrt. Über die Pläne und den Vertragsbruch aber sollte vom Rat der Welten demnächst entschieden werden. Die Versammlung sollte im Tal Angkar-Wat stattfinden.
* * *
Kapitel 1
Zärtlich berührte er im Halbdunkel ihr Gesicht. Er wollte sich vergewissern, dass diese Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht das letzte, für immer unvergesslich bleibende Bild eines soeben verblassten, wunderschönen Traumes war. Erleichtert reckte er sich und atmete tief. Er lächelte, denn damit stand für ihn fest, dass auch die letzten erlebnisreichen Tage Wirklichkeit gewesen waren.
Gott sei Dank, dachte er noch. Nikita war aus Fleisch und Blut und sah überirdisch schön aus. Wie aus einer anderen Welt kommend, nicht wahr?, flüsterte es in ihm. Und dann dachte er, dass das ja auch stimmte. Er kannte durchaus intensive, sehr lebendige Träume, aus denen er manchmal schweißgebadet aufwachte und dann quälende Minuten brauchte, um herauszufinden, was von all dem zuvor Durchlebten Realität war.
HEUTE NACHT TRÄUMTE ICH, ICH SEI EIN SCHMETTERLING. UND NUN WEISS ICH NICHT, BIN ICH EIN SCHMETTERLING, DER TRÄUMT, ER SEI CHUANG TSE, ODER BIN ICH CHUANG TSE, DER TRÄUMT, ER SEI EIN SCHMETTERLING.
Dieser, in Großbuchstaben auf goldfarbenem Büttenpapier gedruckte Spruch eines chinesischen Weisen, der angeblich vor mehr als zweitausend Jahren lebte, stand noch in dunklem Holz gerahmt an einer Wand des Schlafzimmers gelehnt. Er würde ihn, so beschloss er in diesem Moment, noch vor allen anderen Bildern, die er in seinem neuen Haus noch aufzuhängen hatte, gleich neben der Tür zum Badezimmer anbringen. Vom Fußboden neben seiner Seite des Bettes hörte er Sams tiefe gleichmäßigen Atemzüge. Der große Wolfshund durfte seit der Rückkehr auch die Nacht in seiner Nähe verbringen, wie er es auf der abenteuerlichen Reise immer getan hatte. Vorher war das Schlafzimmer, genauso wie das Bad, seine Tabuzone gewesen. Nun aber war der von Sendo liebevoll geflochtene Weidenschlafkorb mit dem Lammfell, der im Hauseingang gleich hinter der Tür stand und ein sehr komfortables Hundebett abgab, verwaist.
Auf Effels Nachttisch lag die Alraunenwurzel, die ihm Perchafta geschenkt hatte und die ihrer Form nach beinahe etwas Menschliches hatte. Er wusste, dass diese Pflanze äußerst selten war, und selbst wenn man sie gefunden hatte, war man ihrer noch lange nicht habhaft. Ihr wurden magische und heilende Kräfte zugesprochen und es sollten schon merkwürdige Dinge geschehen sein, wenn man bei ihrer Ernte nicht ganz bestimmte Rituale sehr genau eingehalten hatte. Doch von dem Krull hatte er noch mehr erfahren: Irgendwann würde sie ihm einmal von großem Nutzen sein. Seitdem trug er sie tagsüber immer bei sich und auch nachts bewahrte er sie sorgsam in seiner Nähe auf.
Effel schlug die Bettdecke zurück, stand auf, trat mit drei Schritten an das Fenster und öffnete es leise. Sam erwachte, fand alles in Ordnung, legte seinen Kopf wieder auf eine Vorderpfote, tat einen zufrieden klingenden Seufzer und schlief weiter.
Die Nacht, in der es geregnet hatte, wich allmählich dem Tag. Am Horizont ging die Sonne auf. Ganz sanft erfüllte sie den Himmel in feurigen Tönen. Wolken ritten auf dem kühlen Herbstwind und erste Vogelstimmen waren zu hören. Der nahe Wald, jetzt noch in dunklem Grau, aus dem langsam weißer Nebel stieg, bildete einen starken Kontrast zum Rest des Himmels. Es würde nur noch wenig Zeit verstreichen, bis er im vollen Licht der Sonne seine ganze Farbenpracht zeigen würde.
Der frühe Morgen war seine liebste Tageszeit. Er hatte es sich schon vor Jahren zur Gewohnheit gemacht, noch vor dem Frühstück zusammen mit Sam eine halbe Stunde oder länger durch den Wald zu laufen. Heute tat er das nicht, denn er wollte jeden Moment mit Nikita genießen. Gerade erinnerte er sich daran, was Perchafta während ihrer gemeinsamen Reise an einem Abend gesagt hatte: »Wenn etwas zur Gewohnheit wird, egal was es ist, sei es noch so gesund oder meditativ, kann es schädlich sein. Unterbrich ab und zu den Rhythmus, dann bleibst du wach. Gewohnheiten verleiten zum Schlafen ... und auch von gesunden Dingen kann man abhängig werden.« Dabei hatte er wieder sein verschmitztes Schmunzeln gezeigt.
Das war nicht das einzige Mal, dass er Effel dazu gebracht hatte, eine Überzeugung in Frage zu stellen. Die Begegnung mit Perchafta gehörte, und da war er sich vollkommen sicher, zu den wichtigsten seines Lebens. Bis vor Kurzem hatte er zwar hin und wieder von der Existenz dieser seltsamen Wesen gehört, aber noch nie eines von ihnen gesehen. Ihm war schnell klar gewesen, dass Perchafta damals, am ersten Tag seiner Reise, von ihm erkannt werden wollte. Nachdem der weise Gnom dann sein Begleiter geworden war, hatte Effel auch andere Krulls sehen können und deren warmherzige Gastfreundschaft genossen. Er hatte viele ihrer erstaunlichen Fähigkeiten selbst erfahren. Dass das längst noch nicht alle waren, sollte die Zukunft ihm noch zeigen.
Mindevol, der Dorfälteste, hatte nach seiner Rückkehr mit einem wissenden Augenzwinkern zu ihm gesagt: »Na, mein Lieber, die gemeinsame Zeit mit Perchafta hat dich verändert, nicht wahr? Im Außen war deine Reise zwar kurz, im Innen war sie dagegen um einiges länger ... und tiefer gehend. Die Begegnung mit Nikita hat sicherlich dazu beigetragen, aber das ist eine andere Geschichte.« Die noch längst nicht zu Ende ist und in der du noch eine Menge dazulernen wirst, sagte er ihm nicht.
»Du hast völlig recht, Mindevol. Perchafta ist ein Geschenk. Er verbindet Lernen mit unmittelbaren Erfahrungen, mit tief gehenden und manchmal auch recht heftigen Erfahrungen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als wüsste er immer, was passieren wird ... so als ob er die Situationen erschaffen würde. Ich habe mich immer sicher gefühlt ... auch wenn ich während meiner Innenreisen an weit entfernten Orten und in anderen Zeiten gewesen war, habe ich immer gespürt, dass er bei mir ist. Er zeigt eine große Präsenz bei allem, was er tut oder sagt.
Das größte Geschenk aber ist die Begegnung mit Nikita und ich hoffe sehr, dass dieses Erlebnis noch lange andauert. Dass du mich für diese Mission ausgewählt hast, werde ich dir mein Leben lang danken, egal was noch geschieht.«
»Danke nicht mir, danke dir selbst, Effel. Wenn du dich nicht auf alles eingelassen hättest, wäre nichts geschehen. Ich wusste ja, dass du wissbegierig bist ... und mutig«, fügte er lächelnd hinzu, »immerhin kenne