Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

Die Siegel von Tench'alin - Klaus D. Biedermann


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er etwas gefunden hatte. Effel war losgerannt und als Erster bei ihm gewesen. Dort war er wie angewurzelt stehen geblieben. Wenig später hatte Nikita neben ihm gestanden und war nicht weniger über das erstaunt, was sich ihren Blicken bot. Effel hatte nur fassungslos seinen rechten Arm ausgestreckt und auf das große Segelschiff gedeutet.

      »Kneif mich, ich glaube, ich träume.« Er hatte sich die Augen gerieben, aber das Bild war geblieben. Nikita hatte mit großen Augen auf die Brigg geschaut, die mit drei leicht im lauen Wind flatternden, trapezförmigen, strahlend weißen Rahsegeln an beiden Masten und einem zusätzlichen rot-weiß gestreiften Briggsegel am Hauptmast auf mächtigen hölzernen Pfosten stand. So konnte weder Kiel noch Schwert durch die Last beschädigt werden. Sie hatte schnell das Schiff auf gut neunzig Fuß Länge und dreißig Fuß Breite geschätzt.

      Über dem Oberbramsegel hatte eine hellblaue Fahne am Ende des sicherlich hundertzwanzig Fuß hohen Großmastes geflattert. Auf ihr waren drei fliegende Albatrosse abgebildet gewesen, ein roter, ein schwarzer und ein grüner. Knapp darunter hatte sich der Bootsmannstuhl leise knarrend träge im Wind gedreht. Der große Anker hatte auf dem Boden gelegen und die eiserne Ankerkette hatte matt in der Sonne geglänzt. Die Schäkel waren vorbildlich poliert gewesen und ihr Anblick hätte sicher dem strengsten Kapitän Freude bereitet. Fender aus Kork hatten über der Reling gehangen und die Fenderleinen waren locker darüber geworfen. Nikita hatte von unten durch die Klüsenöffnungen sogar zwei Poller aus Messing erkennen können.

      Das Paar hatte langsam das Schiff umkreist, um es von allen Seiten betrachten zu können, und war sich neben der Brigg ziemlich klein vorgekommen. An beiden Bordseiten, auf denen in goldenen Lettern der Name ›Wandoo Ii‹ zu lesen war, hatten jeweils drei große Rettungsboote gehangen, deren Dollen ebenfalls matt schimmerten. Die Gangway war heruntergelassen, zwei dicke Taue hatten als Handläufe gedient. Aber es war nirgends eine Menschenseele zu sehen gewesen, die an Bord hätte gehen können. Den geschwungenen Steven hatte eine kunstvoll geschnitzte und bemalte Galionsfigur geziert. Sie hatte einen aus dem Wasser springenden Merlin dargestellt, der von einem fremdartigen Wesen harpuniert wurde.

      »Schau«, hatte Nikita gesagt und dabei auf die Figur gedeutet, »ein Mensch ist das jedenfalls nicht.«

      »Nein, dann müsste sich der Künstler schon sehr viele Freiheiten genommen haben«, hatte Effel geantwortet, »was ich aber nicht glaube, denn der Schwertfisch ist sehr naturgetreu nachgebildet.«

      »Was glaubst du, was das ist? Eine Sagengestalt?«

      »Ich weiß es nicht. Vielleicht treffen wir ja den Künstler hier irgendwo, dann können wir ihn fragen. Ich bin mir sicher, dass es Perchafta weiß.« Sie waren langsam weitergegangen.

      Die gesamte Reling hatte ebenfalls von der Kunst der Holzschnitzer gezeugt, die hier am Werk gewesen sein mussten. Das mächtige eichene Ruderblatt war an seinen Rändern mit Metall beschlagen gewesen. Das ganze Schiff war auf Hochglanz gewienert und hätte an einem geeigneteren Ort sicher sofort in See stechen können. Gerade hatte der Wind ein wenig kräftiger geblasen und sofort hatten sich Brigg- und Rahsegel für einen Moment leicht aufgebläht. Die Fenderleinen waren langsam hin- und hergeschwungen und irgendwo an Deck hatte eine Glocke leise angeschlagen.

      »Die Schiffsglocke«, hatte Effel geflüstert.

      »Ja, der Wind muss sie bewegt haben«, hatte Nikita zurückgeflüstert, »denn ich sehe niemanden an Bord.«

      »Ich glaube nicht, dass wir flüstern müssen«, hatte Effel grinsend gesagt, »denn wenn jemand hier wäre, hätte er uns längst entdeckt.«

      Ein lautes, knarrendes Geräusch war plötzlich an ihre Ohren gedrungen, die Segel hatten sich in einem Windstoß gebläht und man hätte fast meinen können, das Schiff wolle sich aus seinem hölzernen Gerüst befreien. Aber es war offensichtlich gut befestigt gewesen.

      »Ein Geisterschiff«, hatte Nikita gesagt, es aber nicht wirklich ernst gemeint. Sie hatte Effel zugezwinkert, auf dessen Gesicht sofort ein noch breiteres Grinsen erschienen war.

      »Ja, gewiss, und wenn der Wind noch zunimmt, wird es einfach lossegeln«, hatte er ergänzt, »und schau ... gleich daneben ist das Geisterhaus.«

      Ein niedriges, sicherlich fünfzig Fuß langes und dreißig Fuß breites Gebäude, halb aus Stein, halb aus Holz, hatte in einer Entfernung von vielleicht siebzig Schritten vor der Felswand gestanden. Zwischen dem Haus und dem Schiff hatte sich eine ebene, gepflegte Rasenfläche befunden, die so gar nicht zum Rest des wilden Tals passen wollte. Es musste viel Arbeit gewesen sein, diese Fläche so perfekt einzuebnen.

      Von dem mit Holzschindeln gedeckten Dach des Hauses herab hatte die Fahne mit den Albatrossen geweht. Nur eines der vier mit schweren Holzläden gesicherten Fenster an der Vorderfront des Gebäudes war geöffnet gewesen. Jeder Holzladen war mit einem geschnitzten Anker verziert. Wenn sich jemand im Inneren des Hauses aufgehalten hatte, so war er wohl nicht erpicht darauf gewesen, die Bekanntschaft des Paares zu machen. Es war auch hier niemand zu sehen gewesen. Die einzigen Geräusche waren vom Schiff hergekommen, wenn die Segel sich an der übrigen Takelage rieben.

      »Hallo?«, hatte Nikita in Richtung des Hauses gerufen. Das leise Schließen des offenen Fensters – und das war nicht der Wind – war die Antwort gewesen. Der Holzladen war von innen verriegelt worden. Sam hatte leise geknurrt.

      »Das war deutlich«, hatte Effel gemeint.

      »Vielleicht ist nicht aufgeräumt«, hatte Nikita gescherzt, »aber seltsam, seltsam. Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein.« Dann, mit dem Kopf in Richtung des Schiffes deutend, hatte sie stirnrunzelnd ergänzt: »Meinst du nicht, dass es selbst für ein Trockendock ein wenig weit weg vom Meer ist? Verstehst du den Sinn des Ganzen? Irgendwie ähnelt es dem Schiff, auf dem wir damals fliehen mussten. Unseres hatte aber drei Masten und es war irgendwie ... breiter«, hatte sie nach einer kleinen Pause hinzugefügt.

      »Ja«, hatte Effel genickt und Nikitas Hand genommen, »das habe ich auch gesehen, aber findest du das hier nicht einfach alles sehr merkwürdig? Wer mag wohl dort in dem Haus sein?«

      »Das ist in der Tat merkwürdig«, war eine vertraute Stimme hinter ihnen zu hören gewesen und sie hätten sich nicht umdrehen müssen, um zu wissen, dass es Perchaftas war. Er hatte neben Effel gestanden und auf das Schiff gedeutet.

      »Das haben die Emurks gebaut, bald nach ihrer Ankunft in Angkar-Wat vor mehr als dreihundert Jahren. Und es ist ihr ganzer Stolz. Sie haben immer daran geglaubt, eines Tages wieder in ihre Heimat zurück kehren zu können. Hier in der Schule für Nautik haben sie ihre Nachkommen mit der Seefahrt vertraut gemacht. Hinter der nächsten Biegung haben sie ihre Hütten gebaut, sicherlich tausend Fuß lang an beiden Seiten des Tales. Bitte geht dort nicht hin, sie würden das sicherlich als aufdringlich empfinden und ich glaube, sie würden sich wegen der schäbigen Bauweise schämen. Sie sind ein stolzes Volk und haben das Tal stets nur als vorübergehende Bleibe betrachtet.«

      Sowohl Effel als auch Nikita wussten, wer die Emurks waren, wenn sie auch selber noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten.

      »Nachdem klar war, dass ihre Verbannung ein Ende gefunden hatte – du weißt warum, Nikita«, hatte der Krull gelächelt und die Frau freundschaftlich in die Seite geknufft, »dachte ich eigentlich, sie hätten nichts Besseres zu tun, als ihre Sachen zu packen. Ich wähnte sie schon weit weg, als sie mir berichteten, sie wollten sich gebührend von uns und dem Tal verabschieden. Wie geprügelte Hunde seien sie hier angekommen, meinten sie, und mit Pauken und Trompeten würden sie uns verlassen. Sie werden ein großes Fest feiern und haben alle Krulls eingeladen. Es wird etwas dauern, bis meine große Familie hier eingetroffen ist, und ich glaube, wir werden über die Mengen an Essen staunen. Die Getränke werden wir beisteuern, das haben wir ihnen versprochen. Ihr solltet sehen, was ein Emurk verdrücken kann – über das Wie kann man sich sicherlich streiten «, hatte er amüsiert hinzugefügt.

      »Aber wo sind sie?«, hatten die beiden wie aus einem Munde gefragt.

      »Ich zog es vor«, hatte Perchafta geantwortet, »sie darum zu bitten, diskret im Hintergrund zu bleiben.«

      »Wir können sie uns jetzt ungefähr vorstellen«, hatte Effel gemeint und auf


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