Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

Die Siegel von Tench'alin - Klaus D. Biedermann


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an.

      Wie schön es hier ist, ging es Effel gerade durch den Kopf. Er hatte von Mindevol gelernt, auch Altbekanntes immer mal wieder mit neuen Augen zu betrachten. Und nach einer kleinen Pause, in der er seinen Blick über Seringat schweifen ließ, dachte er: Ich werde alles dafür tun, dass Flaaland so friedlich bleibt, wie es ist ... sofern es in meiner Macht liegt. Er schaute zu dem breiten Doppelbett hinüber, wo Nikita im Schlaf gerade leise stöhnte, als ihn ein anderer Gedanke anflog. Würde ich in deiner Welt leben können und ... wollen, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe? Würde ich für dich das alles hier aufgeben? Er schüttelte diese Vorstellung so schnell wieder ab wie ein lästiges Insekt. Wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte, könnte er immer noch darüber nachdenken, obwohl er eine leise Ahnung davon hatte, wie er sich entscheiden würde. Aber im Moment zählte nur das Hier und Jetzt.

      Unten im Dorf krähte ein Hahn. Zunächst zaghaft und leise, so als wolle er überprüfen, ob seine Stimme noch funktioniert, dann lauter. Unmittelbar darauf antwortete ihm ein zweiter, offenbar noch verschlafen, dann ein dritter. Innerhalb kurzer Zeit war daraus ein Konzert geworden, in das bestimmt jeder Hahn des Dorfes eingestimmt hatte. Und es schien so, als versuchte dabei jeder, alle anderen an Lautstärke zu übertreffen. Manche Stimmen überschlugen sich im Übereifer, worüber Effel innerlich leise lachen musste.

      Fast so, wie manchmal auf unseren Versammlungen, dachte er und erinnerte sich an den letzten April, als beraten worden war, wie man auf die Vertragsverletzung der Anderen reagieren sollte. Nach dem überraschenden Besuch von Schtoll, der mitten im Winter nach langer Reise mit eisigem Bart vor Mindevols Haus gestanden hatte, um Verbündete zu suchen, war der Ältestenrat einberufen worden. Bis auf wenige, die krank oder anderweitig verhindert waren, waren alle gekommen und Effel konnte sich noch gut an die stickige Luft im Saal erinnern, den man trotz der winterlichen Kälte gar nicht hätte zu heizen brauchen.

      Für Effel hatte damit das größte Abenteuer seines Lebens begonnen und er wurde das Gefühl nicht los, dass es noch lange nicht zu Ende war. Er würde Schtoll gerne bald wiedersehen. Nicht nur, um ihm berichten zu können, was aus seiner Mission geworden war, die er ja ausgelöst hatte. Das würde gleich nach den Beratungen des Rates der Welten auf anderem Wege ohnehin sehr viel schneller geschehen. Nein, er wollte mehr wissen. Er wollte mehr über die Lebensweise und die Kultur dieses so weit entfernt lebenden Volkes aus dem Süden erfahren. Schtoll hatte während seines kurzen Besuchs viel zu wenig davon erzählen können und das, was er erzählt hatte, war in mancher Beziehung so völlig anders gewesen als das, was Effel kannte. So wie er den Fürstensohn einschätzte, würde dieser nicht Däumchen drehen und darauf warten, was andere entschieden, ganz egal, wer das war. Leute wie er nahmen die Dinge selbst in die Hand, das hatte er ja schon bewiesen.

      In Seringat waren einige Fenster bereits erleuchtet und aus einem flackerte unruhig rötliches Licht. Soko ist also schon dabei, das Feuer in der Werkstatt anzufachen, dachte Effel. Der Schmied war ebenfalls Frühaufsteher und Effel sah ihn förmlich vor sich, wie er mit nacktem, muskulösem Oberkörper die beiden mächtigen Blasebälge in seiner Werkstatt bediente. Diese lehnte sich mit ihrem weit ausladenden, riedgedeckten Vordach, das zur Wetterseite hin fast bis zum Erdboden reichte, ziemlich windschief an das Wohnhaus aus Backstein an. Dort wohnte Soko mit seiner alten Mutter Susa, die nach einem Treppensturz seit einiger Zeit pflegebedürftig an ihr Bett gefesselt war und um diese Stunde sicher noch schlief.

      Agata, die kinderlose Witwe Berthors, der vor zwei Jahren im Hochgebirge bei der Verfolgung einer verletzten Gämse abgestürzt und ums Leben gekommen war, hatte ihre Pflege übernommen und schaute mehrmals am Tag nach ihr. Sie versorgte die alte Frau liebevoll, aber es gab auch Leute die wissen wollten, dass ihr größeres Interesse Soko galt. Weil sie am anderen Ende des Dorfes wohnte, war es für sie manchmal, wie sie es nannte, ein kleiner Spießrutenlauf, wenn ihr aus einem der Gärten oder einer geöffneten Haustür, an der sie vorübergehen musste, zugegebenermaßen öfter als vielleicht nötig, zugerufen wurde: »Na, Agata wie geht es denn Susa heute, ist Soko auch da?« Oder: »Soko ist aber nicht zu Hause!« Selbst wenn dabei gekichert wurde, war dies durchweg freundlich gemeint, denn jeder im Dorf hätte Agata wieder einen Mann gegönnt ... und Kinder. Und wenn sich die junge Frau dann der Schmiede näherte, kam sie sich wie eine Sechzehnjährige vor, in deren Bauch Schmetterlinge ihre ersten Flugübungen vollführten.

      Bestimmt hatte Soko heute in der Frühe schon die kranken oder verletzten Tiere versorgt, die er hinter dem Haus in einem geräumigen Stall, in unzähligen Käfigen und kleinen Gehegen beherbergte, denn das war stets seine erste Arbeit des Tages. Scherzhaft hatte er einmal gesagt, dass er nicht genau wüsste, ob er nun Schmied und im Nebenberuf Tierarzt sei oder umgekehrt. Er war bekannt für seine heilenden Hände. Besonders durch die meist erfolgreiche Behandlung von Pferden hatte er sich einen Namen gemacht.

      Bei Effels Ankunft in Seringat war er jedenfalls nicht zu Hause gewesen, da er in einem der Nachbardörfer war, um einem Freund beim Beschlagen der Pferde eines großen Gestüts zu helfen. Er würde wohl an einem der nächsten Tage vorbeikommen, vermutete Effel. Jetzt hatte er sicher viel zu tun, wenn er seine unerledigten Aufträge noch fristgerecht fertigstellen wollte. So groß und stark er auch äußerlich war – viele fanden ihn sogar grobschlächtig – so weich war doch sein Herz. Wer ihn nicht näher kannte, hätte in diesem oft lauten und manchmal auch cholerischen Mann, den man besser nicht reizte, niemals eine sanfte Seite vermutet, es sei denn, man hatte ihn schon bei der Behandlung von kranken Tieren erlebt. Wenn er mit seinen großen Händen behutsam die Wirbelsäulen seiner vierbeinigen Patienten abtastete, verschobene Wirbel wieder einrenkte oder Hüftgelenke begradigte, schien er sich in einen Menschen zu verwandeln. Erst im letzten Jahr hatte er Effels Lieblingspferd, das sich bei einem Ausritt vertreten hatte, mit zwei kurzen Handgriffen kuriert.

      An Soko hatte Effel sehr deutlich erkannt, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Wenn er den fünfzehn Jahre älteren Schmied in ein Nachbardorf zur Arbeit begleitet hatte, was gelegentlich vorkam, hatte dieser ihm in langen Gesprächen auch diesen Teil seiner Persönlichkeit offenbart. Stets hatte er ein offenes Ohr und Effel konnte mit ihm über alles reden. Soko war ein einfühlsamer Zuhörer und wenn er einen Rat gab, so tat er dies immer so, dass es nicht wie ein Ratschlag aussah. Er hatte die Gabe, es für den anderen so aussehen zu lassen, als sei es dessen eigene Idee gewesen. Mit der Zeit waren sie schließlich Freunde geworden.

      In diesem Moment sah und hörte Effel seine Vermutung über die Vorgänge in der Schmiede auch schon bestätigt, denn eine dünne Rauchfahne stieg kräuselnd aus dem Kamin des mit dunkelroten Schindeln bedeckten Hauses und zerteilte den inzwischen rosafarbenen frühmorgendlichen Himmel. Soko musste gerade ein Fenster geöffnet haben, denn das Zischen der Blasebälge war jetzt auch hier auf dem Hügel deutlich zu vernehmen. Es hörte sich an, als würden zwei hungrige Riesenschlangen durch das Dorf kriechen, die bereit waren, alles zu verschlingen, was ihnen unvorsichtigerweise oder todesmutig begegnen würde.

      Von seinem Fenster aus konnte Effel das ganze Dorf überblicken. Er hatte etwas oberhalb von Seringat nicht weit vom Waldrand gebaut. Das Haus stand auf einem Stück Land mit einer kleinen Quelle, die er eher zufällig während einer Jagd entdeckt hatte, und erst kurz vor seiner Abreise war er dort eingezogen.

      Jetzt war er mit der Frau zurückgekehrt, mit der er hier leben wollte, und er hoffte, dass dies auch ihr Wunsch war oder bald werden würde. Saskia, seine Jugendliebe und Freundin, hatte während seiner Abwesenheit viel Arbeit in den Garten gesteckt. Das hatte er bei seiner Rückkehr mit einem Blick gesehen und sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, das sich seitdem auch hin und wieder zu Wort gemeldet hatte.

      Seit seiner Ankunft in Seringat hatte er sie nur einmal kurz aus der Ferne gesehen und seitdem war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Sogar Mira wusste angeblich nicht, wo sie war.

      »Ich weiß auch nicht, wo sie sich verkrochen hat«, hatte sie auf sein Fragen geantwortet. »Es ist wohl besser, sie erst einmal in Ruhe zu lassen. Wenn sie Hilfe braucht oder einfach nur reden will, wird sie zu mir kommen ... da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube, dass sie etwas geahnt hat, denn nach deiner Abreise hat sie etwas von zwei Tauben erwähnt. Sie sagte mir, die Vögel hätten zunächst beisammen gesessen, seien dann aber in getrennten Richtungen davongeflogen. Für Saskia hatte es wohl eine Bedeutung, denn sie hatte Tränen in den Augen, als sie mir davon erzählte.«


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