Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
sie hätte es nicht gesehen. Aber das war wohl zu optimistisch gedacht, denn sie hat von euch gelernt und ist es gewohnt, solche Zeichen zu deuten.«
Effel fröstelte ein wenig, wie er jetzt so nackt am Fenster stand, und das kam nicht allein von dem kühlen Morgenwind, der in das Zimmer wehte. In den Bergen wird bald schon der erste Schnee fallen, wie wohl der Winter wird?, dachte er. Und dann: Ob Sas nach Haldergrond geht? Ich werde sie suchen und mit ihr reden. Ich möchte ihr alles erklären, das bin ich ihr schuldig. Ich werde ihre Mutter fragen, wo sie ist, dann Ihna und wenn die beiden es mir nicht sagen, werde ich Brigit bitten, mir zu helfen.
Brigit war eine Seherin, die weit über die Grenzen von Seringat hinaus bekannt war und etwas außerhalb des Dorfes alleine mit ihren Katzen in einem kleinen Haus mit wunderbar verwildertem Garten lebte. Von überall her kamen die Leute, um sich bei ihr Rat zu holen. Effel hatte inzwischen durch seinen Bruder von dem Überfall auf Brigit erfahren. Auch dass Vincent, der verwöhnte Erbe von Raitjenland, mit dem Mordanschlag in Verbindung gebracht wurde. Seitdem war Vincent verschwunden – und er würde es auch bleiben, was aber hier noch niemand wusste.
Für den Fall, dass sich Perchafta an diesem Morgen nicht melden würde, um von den Beschlüssen des Rates der Welten zu berichten, was eher unwahrscheinlich war, wollte Effel nach dem Frühstück aufbrechen, um Brigit aufzusuchen. Er fragte sich, ob Nikita wohl mitkommen wollte und wenn, was sie als Wissenschaftlerin der Neuen Welt von einer Frau halten würde, die hellsehen konnte oder aus der Hand las. Er war sehr gespannt.
Die weißen Vorhänge, die Saskia genäht hatte, bauschten sich leicht im Wind. Sie sehen aus wie die Segel unserer Schiffe, mit denen wir aus Frankreich fliehen mussten ... es war verdammt knapp damals, dachte er und fast schien es ihm, als würde er wieder den stark salzigen Geschmack der Meeresbrise auf seiner Zunge schmecken, als sie den Hafen von La Rochelle hinter sich gelassen hatten und Fahrt aufnahmen. Er wollte aber den jetzigen Moment genießen und nicht wieder von einer der so überaus lebendig erlebten Zeitreisen in Bann genommen werden, von denen er mit Perchafta und später auch im Tal mit Nikita einige unternommen hatte.
Er blickte sich um. »Die ganze Welt in einem Raum«, flüsterte er »ich liebe dich so sehr, Leila.« Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass Leila in diesem Leben Nikita hieß. Er hatte keine Gelegenheit, sich weiteren Gedanken zu überlassen, denn plötzlich fühlte er eine feuchte Hundeschnauze an seinem Oberschenkel. Effel beugte sich zu seinem Hund hinunter, streichelte ihn und sagte ganz leise: »Na Alter, hast du gut geschlafen? Wir haben wohl einiges an Schlaf nachzuholen.« Obwohl Mindevol jetzt sicher sagen würde, dass man im Leben nie etwas nachholen kann. Der Hund antwortete mit leisem Grunzen und verhaltenem Schwanzwedeln, gerade so, als wolle auch er Nikita nicht aufwecken.
Nach ihrer Rückkehr aus Angkar-Wat war der Wolfshund der Held des Dorfes gewesen, nachdem Effel von dem Erlebnis mit dem mächtigen Grizzly erzählt hatte. Damals hatte Sam ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Suna hatte daraufhin seinem vierbeinigen Freund zur Belohnung einen mächtigen Knochen aus der Metzgerei ihres Bruders gebracht, mit dem er zwei Tage hingebungsvoll beschäftigt gewesen war, bevor er ihn dann irgendwo im Garten verbuddelt hatte. Dort würde er eines Tages wahrscheinlich von einem Waschbären oder einem anderen hungrigen Waldbewohner gefunden werden.
»Guten Morgen ... bist du schon lange wach?«, fragte Nikita mit belegter Stimme vom Bett her. Sie räusperte sich und stützte ihren Kopf auf einem Arm auf, während sie mit der anderen Hand eine Haarsträhne vor ihren Augen wegwischte. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Mit einem mächtigen Satz war Sam auf dem Bett und begrüßte die Frau, die seit einigen Tagen zu seinem Leben gehörte und bereits sein Hundeherz erobert hatte.
»Hey, nicht so stürmisch, Sam«, lachte Nikita, »lass mich erst einmal richtig aufwachen!« Der Hund legte sich sofort nieder, hielt ihr seinen Kopf hin und ließ sich hinter den Ohren kraulen ... und wenn Hunde verliebt schauen können, schaute er verliebt. Wie macht sie das nur?, dachte Effel, bei ihr wird er zum Schoßhündchen ... na, ja, ist ja auch nur ein Mann ... oder aber sie hat ihn mit Schokolade bestochen, gluckste er in sich hinein.
»Was ist so lustig?«, fragte Nikita, die sein breites Grinsen durchaus bemerkt hatte – dafür hätte sie nicht jahrelang Psychologie studieren müssen.
»Oh, ich dachte nur gerade über Männer und Frauen nach ... genauer gesagt ... über zwei Männer und eine Frau.«
»Und, ... was hast du dabei gedacht, verrätst du es mir?«
»Nein, lieber nicht ... später vielleicht.«
»Da bin ich aber gespannt ... ich werde dich daran erinnern.«
»Da bin ich mir sicher.«
»Effel, es ist wunderschön hier, einfach herrlich.« Nikita räkelte sich. »Die Ruhe und die gute Luft ... ich habe geschlafen wie in Abrahams Schoß. Ich fühle mich so wohl in deinem Haus ... aber diese Nacht hatte ich einen sehr merkwürdigen Traum«, und jetzt erschienen zwei Längsfalten in der Mitte ihrer Stirn, »ich erinnere allerdings nur noch Bruchstücke. Irgendetwas von meinem Vater habe ich geträumt ... er wurde verfolgt ... von einem Mann mit einem merkwürdigen großen Hut ... wo immer mein Vater hinging, er folgte ihm wie ein Schatten ... richtig unheimlich ... mir stellen sich alle Haare auf, wenn ich jetzt davon erzähle ... dann war wieder alles dunkel ... dann tauchte plötzlich Jimmy, der Sohn unserer Haushälterin, auf ... und wieder war alles wie im Nebel ... Als Nächstes sah ich eine dunkelhaarige, wunderschöne Frau, deren Augen hin und wieder rot leuchteten. Sie stand in einer großen Muschel ... und sie hielt eine Rede in einem großen Saal, der mit wunderschönen Bildern bemalt war, und viele merkwürdige Wesen hörten ihr zu. Es waren jedenfalls keine Menschen ...«, Nikita seufzte. »Ich glaube, ich muss das Träumen wieder lernen. Mit unseren Pillen, die wir nehmen, schlafen wir zwar sehr tief, aber sie verhindern Träume. Ich kann mich nicht erinnern, je mehr als vier Stunden am Stück geschlafen zu haben. Aber das ist bei uns ganz normal. Bisher fand ich das vorteilhaft, weil man dadurch Zeit für all die anderen Dinge hat.«
»Ich hoffe, von dem Teil, den du über deinen Vater geträumt hast, wird nichts wahr. Es wäre ja schlimm, wenn ihm etwas geschehen würde ... aber wie du erzählt hast, wird er ja gut beschützt. Der Rest deines Traumes hat bestimmt vom Rat der Welten gehandelt ... darauf möchte ich fast wetten ... Sam, komm jetzt runter vom Bett!«, sagte Effel dann so streng, wie ihm dies gerade möglich war, denn innerlich amüsierte er sich immer noch über das Verhalten seines Hundes. Der schien das gespürt zu haben, denn er bequemte sich nur sehr langsam und widerwillig vom Bett herunter, wo es doch gerade so gemütlich war und, wer konnte das schon wissen, vielleicht später noch eine schöne Balgerei hätte geben können. Er warf Effel einen schrägen Blick zu, so als wolle er sagen: Nie gönnst du mir etwas, was natürlich nicht stimmte, aber zeigte, dass Hunde wirklich nur im Hier und Jetzt leben.
»Jetzt tu nicht so beleidigt, Alter«, lachte Effel, »wir toben schon noch mit dir ... später, draußen im Garten.« Dann setzte er sich zu Nikita, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss.
»Du kennst Abraham?«, grinste er. »Sag bloß, ihr lest die Bibel.« Fast hätte er sie wieder bei ihrem früheren Namen genannt, weil dieser ihm immer noch vertrauter war. »Haben wir dich aufgeweckt?«
»Nein, Fran ..., Effel«, korrigierte sie sich gleich, » ... es ist gar nicht so einfach, sich an die jetzigen Namen zu gewöhnen, nicht wahr? Nein, ihr habt mich nicht aufgeweckt, es waren wohl die Hähne. Und außerdem, mein Lieber, die Bibel habe ich gelesen. In unseren Philosophiekursen an der Uni nehmen wir alle alten Religionen durch«, lächelte sie augenzwinkernd und streichelte sein Gesicht. »Du hast ein wunderschönes Haus. Du bist reich, Effel. In meiner Heimat muss man dafür in einer solchen Lage ein Vermögen bezahlen ... wenn man es überhaupt noch bekommen kann.«
»Wirklich reich fühle ich mich erst jetzt, Nikita, weil wir uns gefunden haben ... nach so langer Zeit. Diesen Platz hier habe ich eigentlich Sam zu verdanken. Ich war auf der Jagd und er hetzte einen waidwunden Eber. Ich folgte den beiden durch ein dichtes Gestrüpp ... und als ich dann wieder im Freien stand, entdeckte ich diesen mächtigen, seltsam geformten Felsen, der nahezu senkrecht aus dem Erdboden ragte ... seltsam deshalb, weil er aussah, als sei er irgendwann einmal bearbeitet worden ... und gleich daneben sprudelte