Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
auf Bitten der Siskos nur kurz befragt hatte, war nicht mehr herauszubekommen gewesen, als dass sie mit einem meist schweigsamen Maskenmann, der aber gut kochen konnte, Spiele gespielt hätten und fast immer gewonnen hatten. Wie eine sehr aufgeregte Maria Gonzales im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin festgestellt hatte, hatte es sich bei dem Mann allerdings nicht um denjenigen gehandelt, der sie im Supermarkt angerempelt gehabt hatte, da war sie sich völlig sicher gewesen.
»Der hat ja eine Stupsnase, der war das ganz bestimmt nicht«, hatte sie nur gesagt und hatte den unwirtlichen Ort so schnell wieder verlassen, als wäre jede weitere Sekunde Aufenthalt ansteckend. Im Laufe der nächsten Monate war die Familie Sisko weitgehend zu ihrem normalen Leben zurückgekehrt.
Die Kinder besuchten wieder die Schule, jetzt mit zwei Leibwächtern und einem neuen Chauffeur.
Eva Ferrer stand auf und stellte das Kaffeegeschirr neben die Spüle.
»Paul«, sagte sie zu ihrem Mann, » ruh´ dich heute mal aus, bleib´ zu Hause, wenn du schon nicht auf den Golfplatz willst. Ich werde Manu bitten, uns etwas Leckeres zu kochen. Um acht gibt es Essen.«
»Hat sie heute nicht ihren freien Tag?«, fragte Paul Ferrer.
»Ach nein, der ist ja erst morgen, nicht wahr?«, korrigierte er sich. »Ja, das ist eine gute Idee, essen wir heute zu Hause. Ich habe mir etwas Schriftkram mitgebracht, den ich noch erledigen möchte ... nur wenig, versprochen ... und Mike Stunks werde ich anrufen.«
Um Punkt acht saßen die Ferrers an ihrem wie immer liebevoll gedeckten Tisch. Manu hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Nach zwanzig Jahren als Haushälterin bei den Ferrers kannte sie den Geschmack des Senators, den sie sehr verehrte, in- und auswendig. Heute gab es eines seiner Lieblingsgerichte, Curryhuhn. Dazu tranken die beiden einen leichten Weißwein. Manu hatte sich wieder in ihr hübsches Apartment zurückgezogen, das sich im Anbau des Hauses befand, und schaute sich im Fernsehen eine ihrer Lieblingstalkshows an. Später am Abend würde sie noch einmal hinübergehen und aufräumen, denn in der Nacht vor Vollmond konnte sie sowieso kaum schlafen und wurde höchstens von ihren Erinnerungen gequält.
Am nächsten Morgen wollte sie schon früh in die Stadt fahren, um einige Geschenke für ihren Jimmy zu kaufen, der bald Geburtstag hatte. Dreiundzwanzig Jahre wurde er und er war ihr Ein und Alles. Sie war so stolz gewesen, als er vor Kurzem einen Ausbildungsplatz in einem der besten Hotels der Stadt, direkt am Ufer des Potomac, bekommen hatte. Er hatte zwar mit Leichtigkeit seinen Schulabschluss gemacht, war dann aber orientierungslos gewesen, was seine Berufswahl anbetraf. Zuerst hatte er es in einer Computerfirma versucht, weil Mathematik und Informatik zu seinen Lieblingsfächern gehört hatten. Dort hatte er allerdings sehr schnell erkannt, dass ihm die Materie zu trocken war. Danach hatte er sich mit einigen Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und seine Mutter, die sich immer besorgter gezeigt hatte, damit getröstet, dass dies lediglich seiner Berufsfindung diene. Ihm war inzwischen klar geworden, dass er ›irgendwas mit Menschen‹ machen wollte. Auf die Idee, es doch im Hotelfach zu versuchen, hatte ihn dann Eva Ferrer gebracht. Jim liebte seine Mutter, aber ihre ständigen Fragen nach seiner beruflichen Zukunft nervten ihn.
Und wenn sie ihn nicht danach fragte, so tischte sie ihm ihr zweites Lieblingsthema auf: Ehefrau und Enkelkinder.
»Mama«, wand er sich dann stets heraus, »du sagst doch selbst immer, dass ein Mann in der Lage sein muss, seiner Frau etwas zu bieten. Also erst der Beruf, dann die Familie. Pass auf, du wirst noch früh genug Großmutter, du bist doch gerade mal knapp über vierzig.«
Dann lachten beide und er hatte bis zum nächsten Mal seine Ruhe. Das waren nicht die einzigen Momente, in denen er sich einen Vater wünschte.
Nach dem Gespräch mit Tante Eva, wie er sie seit seinem vierten Lebensjahr nannte, hatte er sich in mehreren Hotels, von denen es eine Menge gab, beworben und schließlich hatte er einen Ausbildungsplatz im Vision Inn erhalten. Er war sehr froh darüber, denn eigentlich hatte er das Alter eines Auszubildenden schon überschritten. Dass der Chef dieses Luxushotels ein Freund der Ferrers war, wusste er nicht.
Es hatte gleich zu Beginn ganz danach ausgesehen, als könne er es mit seiner freundlichen und verbindlichen Art wirklich zu etwas bringen. Man hatte ihm gesagt, dass er als Praktikant erst einmal alle Stationen des Hotelbetriebs durchlaufen müsse, angefangen von der Küche und der Patisserie über den Zimmerservice, die Bar, die Restaurants bis zur Rezeption des Vision Inn. Auf die Küche hatte er sich besonders gefreut, denn für das Kochen hatte er sich schon als kleiner Junge interessiert. Oft war er seiner Mutter dabei zur Hand gegangen. Die Ausbildung selbst, wenn er sich dann dafür entscheiden sollte, und man ihn auch nähme, würde vier Jahre dauern. Danach war immer noch Zeit, eine Familie zugründen, wie er fand.
Die Personalabteilung des Vision Inn war ihm behilflich gewesen, eine kleine, bescheidene Wohnung in der Nähe seines neuen Arbeitsplatzes zu finden, sodass Manu ihr Apartment jetzt manchmal sehr groß vorkam. Sie hatte nur Jimmy, der seinen Vater nicht kannte. Eigentlich hieß er Jim, aber für sie war und blieb er ihr Jimmy. Manu war sich selbst nicht hundertprozentig sicher, welcher der beiden einzigen Männer, mit denen sie in ihrem Leben zusammen gewesen war, Jims Vater war. Aber wenn sie ganz ehrlich zu sich war, und das fiel ihr in diesem Fall schwer, weil es ihr überhaupt nicht gefiel, erkannte sie ihn in Jimmys Augen. Fast täglich schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Rest der Gene von ihr stammten.
Ihrem Sohn hatte sie auf dessen Fragen nach seinem Erzeuger, die in den letzten Jahren seltener geworden waren, immer nur erzählt, sein Vater sei kurz nach seiner Geburt gestorben. Und da ihr dabei jedes Mal Tränen in den Augen standen, hatte Jimmy auch nicht weiter nachgebohrt.
Zwei Männer waren in all den Jahren ihres Lebens die einzigen Beziehungen geblieben. Seit dem schrecklichen Ereignis vor fast vierundzwanzig Jahren und dem einige Monate darauf folgenden Selbstmord ihres zweiten Freundes, der den Rest seines Lebens nicht in einem Rollstuhl verbringen wollte, hatte sie sich an keinen Mann mehr gebunden.
Manchmal, wenn sie wieder einmal nicht schlafen konnte, hatte sie festgestellt, dass der Schock immer noch tief in ihrer Seele saß.
* * *
Kapitel 3
Nach Vincents Flucht war Scotty Valeren zum Rathaus aufgebrochen, um sich dort möglichst unauffällig umzuhören. Er wollte nicht noch mehr Staub aufwirbeln. Wenn sich auch nur eine seiner Befürchtungen bewahrheitete, lag schon genug in der Luft. Unterwegs pfiffen es die Spatzen bereits von den Dächern, dass der künftige Herr von Raitjenland des Mordversuchs an der Seherin Brigit verdächtigt wurde und sich durch seine überstürzte Flucht selbst schwer belastet hatte. Seine Verfolger, Jobol und Jeroen, die ihm mit ihren Hunden so dicht auf den Fersen gewesen waren, hatten in seinem Zimmer lediglich das noch warme Bett vorgefunden und später einen verdutzten Jared Swensson zurückgelassen, der verzweifelt nach einer Erklärung für das plötzliche Verschwinden seines Sohnes gesucht hatte. Ihm war angst und bange geworden bei dem Gedanken, seiner Frau sagen zu müssen, was man ihrem über alles geliebten Sohn zutraute. Die Nachricht hatte sie dann wohl doch schneller erreicht, als ihm lieb sein konnte, denn plötzlich hatte Elisabeth, noch im Morgenmantel, kreidebleich und um Jahre gealtert in der Tür gestanden. Sie hatte sich mit einer Hand schwer auf die Klinke gestützt, so als wenn sie jeden Moment zusammenbrechen würde, und hatte mit Tränen in den Augen und mit gebrochener Stimme, die Jared augenblicklich einen Schauer über den Rücken jagte, geflüstert: »Wir werden unseren Sohn nie mehr wiedersehen, Jared, nie, nie mehr.«
Das sollten für lange Zeit ihre letzten Worte gewesen sein, die sie überhaupt zu irgendjemandem sprach. Mit einem tiefen Schluchzen hatte sie sich umgedreht und war mit schleppendem Gang in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Die Tür hatte sie mit einem lauten Klicken hinter sich abgeschlossen. Dieses Geräusch war ein einziger Vorwurf gewesen und dieser hatte den Herrn von Raitjenland bis tief ins Mark getroffen.
Nachdem Elisabeth die Küche verlassen hatte, hatte Jared sich an den schweren Eichentisch gesetzt, sein Gesicht in die Hände gestützt und hemmungslos geweint. Auch wenn er die Visionen seiner Frau immer als weibliche Spinnereien abgetan hatte, hatte er jetzt instinktiv gespürt, dass sie dieses Mal recht