Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

Die Siegel von Tench'alin - Klaus D. Biedermann


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vor allem weil er zart gebaut war und als Kind oft gekränkelt hatte. Aber inzwischen war aus ihm ein zäher, ausdauernder und ausgesprochen intelligenter junger Mann geworden. Dies machte ihn bei seinen Freunden beliebt, die ihn fast alle um mehr als einen Kopf überragten. Mit seiner pfiffigen Schlagfertigkeit hatte er der Clique aus mancher Patsche geholfen, besonders wenn schlagende Argumente oder die Beziehungen eines Vaters nicht mehr weitergeholfen hatten. Er selber konnte sich des Schutzes seiner stärkeren Freunde sicher sein, vor allem aber der Tatsache, dass er der Sohn von Harie Valeren war. Wenn Scotty allerdings an die Zukunftspläne seines Vaters dachte, wurde ihm jedes Mal flau in der Magengegend.

      Der Firmengründer und Scottys Namensgeber Scott Valeren, dessen strenges Konterfei aus einem schwarzem Rahmen, der im Eingang der Weberei hing, auf die Kunden und Mitarbeiter herunterblickte, hatte vor 700 Jahren die Seidenweberei nach Flaaland gebracht und Winsget zu seinem Hauptsitz auserkoren. Warum es ausgerechnet Winsget gewesen war, war sein Geheimnis geblieben. Bald schon hatte er mit der künstlichen Aufzucht der Raupe des Seidenspinners begonnen, was die Firma weitgehend von Importen unabhängig gemacht hatte. Später war man sogar in der Lage gewesen, selber Rohseide zu exportieren.

      Neben dem Bild des ehrwürdigen Firmengründers hing eine Tafel, deren kunstvoll gestalteten Inhalt Scotty auswendig herbeten konnte und der von der Geschichte der Seide kündete.

      Als die Gemahlin des Kaisers Huang Di, Lei Zu, an jenem ›glücklichen Tag‹ spazieren ging, sah sie zwischen Maulbeerzweigen hängende, sanft leuchtende Gebilde. Wohl dem Baum entwachsene! Doch nein, eines der Früchtchen dehnte plötzlich seine Eigestalt und ein mehlweißer Schmetterling, bräunlich gestreift, schwirrte hervor. Nicht Obst war es gewesen, vielmehr das abgelegte Kleid des Schwärmers.

      Lei Zu, mit dem weiblichen Interesse für Mode und Bekleidung, betastete dieses verblüffende Gewand von zauberhafter Weiche. Mit geschickten Fingern gelang es der Kaiserin bald, den Anfang des Fadens zu erfühlen. Leuchtend, glatt und klar ließ er sich vom Kokon herunterspulen. In ihm hatte sie das herrlichste Naturgespinst auf Erden entdeckt.

      Jeder in der Familie wusste, dass sie in diesem Teil der Welt die Seide zwei Mönchen zu verdanken hatten, die in ihren hohlen Wanderstöcken sowohl Samen des Maulbeerbaumes als auch Eier des Seidenspinners aus dem damaligen China herausgeschmuggelt und damit das Monopol des damals größten Landes der Erde beendet hatten. Seide war in frühen Zeiten so begehrt und teuer gewesen, dass der römische Kaiser Tiberius seinem überschuldeten Volk das Tragen von Seide verbieten musste. Ein Pfund Seide hatte damals ein Pfund Gold gekostet. Und als Scottys Vorfahren noch in Fellen herumgelaufen waren, hatten sich die chinesischen Edelleute bereits in dem wertvollen Stoff gekleidet.

      Die Weberei Valeren hatte fünfzehn Filialen, die über das ganze Land verteilt waren, und bis weit in den Süden reichten.

      Winsget aber war das Herz der Seide, während die Flachs- und Wollwebereien der Firma Valeren, die alle von Verwandten geführt wurden, in anderen Orten ansässig waren.

      Scotty war sich inzwischen überhaupt nicht mehr sicher, ob er einmal das Geschäft übernehmen wollte, wie es die Tradition forderte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte er noch nicht daran gezweifelt, er war ja sozusagen in Seide aufgewachsen und seine Spielplätze waren die Werkstätten und Geschäftsräume der Firma gewesen. Als er gerade drei Jahre alt gewesen war, wäre er fast in einen der kochend heißen Wassertröge gefallen, in denen die Arbeiterinnen die Larven in ihren wertvollen Kokons abtöteten, um dann die kostbaren Fäden zu gewinnen, die eine Länge von bis zu zweitausend Metern haben konnten. Es war nur dem reaktionsschnellen Zupacken einer Arbeiterin zu verdanken gewesen, dass Scotty lebte. Dafür hatte sie von Scottys Vater eine lebenslange Rente und vom Bürgermeister eine Urkunde sowie eine Ehrenmedaille erhalten.

      Klara, die älteste seiner Schwestern, eignete sich seiner Meinung nach viel besser für das Webergeschäft. Sie kannte sich nicht nur in den Stoffen und Arten der Gestaltung bestens aus, sondern sie war auch ein Zahlengenie. In der Buchführung machte ihr niemand etwas vor. Während seine anderen Schwestern längst verheiratet waren und Kinder hatten, war Klara mit dem Geschäft verheiratet, wie sogar ihr Vater des Öfteren anmerkte.

      Scottys heimliche Liebe, die er mit dreizehn Jahren entdeckt hatte, galt der Biologie und in seinen Träumen sah er sich auf einer Forschungsstation in einem unbekannten Land, und zwar sicher nicht auf einer, die sich mit Schmetterlingen, Faltern oder Raupen beschäftigte. Da Tradition in seiner Familie einen sehr hohen Stellenwert besaß, war ihm durchaus bewusst, dass er einen nicht unerheblichen Kampf würde austragen müssen, wenn er seiner heimlichen Berufung folgen wollte. Das letzte Quäntchen an Mut für diesen Kampf fehlte ihm jedoch noch.

      Von dem um ein Jahr älteren Vincent war Scotty fasziniert.

      Er bewunderte dessen lässige Art, die von anderen oft für Arroganz gehalten wurde. Scotty wusste, dass Vincent sich dadurch nur schützte. In Wirklichkeit war er nämlich sehr verletzlich, was er vor allem seinem Vater Jared nie gezeigt hätte, der seit seinem sechsten Lebensjahr unablässig bemüht war, aus ihm einen ›ganzen Mann‹ zu machen. Vielleicht hatte seine Mutter ihn zu sehr verwöhnt. Vincent würde als einziger Sohn einmal eine Farm übernehmen, die die größte im Umkreis von zweihundert Meilen war. Er konnte verstehen, dass sein Freund diesen Moment nicht gerade herbeisehnte und das Leben noch möglichst unbeschwert genießen wollte. Die Gesundheit Jareds verhieß ihm dabei gute Aussichten. Jeder wusste, was es bedeutete, eine Farm dieser Größenordnung zu leiten.

      Vincent war frech und hatte keine Angst vor Autoritäten. Vor allem aber war er ein Lästermaul und es gab kaum jemanden im Ort, der von ihm nicht irgendwann schon einmal durch den Kakao gezogen worden war. Dass er nicht bei Saskia landen konnte, hatte Vincent schwer getroffen, wie schwer, das wusste nur Scotty, der eben auch hinter die lässige Fassade seines Freundes blicken konnte. Vielleicht hatte diese Mordattacke etwas mit Saskia zu tun, obwohl Scotty jetzt noch keine Verbindung zu der Seherin Brigit herstellen konnte. Er musste Saskia aufsuchen und mit ihr reden, und zwar möglichst bald.

      Was die beiden jungen Männer am meisten verband, war ihre Leidenschaft für die Jagd und die Natur. Dabei ergänzten sie sich in einer geradezu perfekten Art und Weise. Scotty war sicher der beste Fährtenleser weit und breit, während Vincent ein hervorragender Schütze war. Diese Fähigkeiten, die sie auf den großen Treibjagden regelmäßig in den Dienst der Gemeinschaft stellten, hatten ihnen die Anerkennung der älteren Männer eingebracht, die im Gegenzug ein Auge zudrückten, wenn sie mit ihrer Clique wieder irgendetwas angestellt hatten.

      Er fragte sich auf dem Weg zum Bürgermeisteramt, was wohl Vincent mit Brigit zu tun gehabt haben könnte. War er etwa doch bei ihr gewesen und hatte von ihr etwas Unangenehmes erfahren? Aber welche Mitteilung konnte eine einigermaßen plausible Erklärung für einen Mordversuch sein? Scotty schüttelte diese Gedanken gleich wieder ab – sie würden doch nirgendwohin führen. Sie hatten die Seherin nie wirklich ernst genommen, sondern sie sogar unter sich als ›durchgeknallte Hexe‹ bezeichnet. Oft genug hatten sie sich über sie lustig gemacht, besonders dann, wenn wieder irgendjemand in ihrem Beisein deren seherische Fähigkeiten gelobt hatte.

      »Alles Unsinn«, hatten sie dann zum Beispiel gerufen, »ihr glaubt auch jeden Scheiß, den euch jemand aus einer Kristallkugel liest! Reine Verarschung ist das! Unglaublich, womit man alles Geschäfte machen kann. Ist doch klar, dass genau das eintritt, was sie euch voraussagt. Es geschieht, weil ihr es glaubt, nicht weil sie es weiß. Kommt Freunde, lasst uns auf die Dummheit trinken. Immerhin kann jeder mit seiner Kohle machen, was er will, hahaha.« Unter schallendem Gelächter hatten sie dann noch die eine oder andere, in ihren Augen witzige oder geistreiche Bemerkung fallen lassen, bevor sie sich dann wieder ihren Lieblingsthemen, Frauen und Jagd, widmeten, die besonders zu vorgerückter Stunde zu einem einzigen Thema verschmolzen und einem Autor fantastischer Literatur sicher alle Ehre gemacht hätten.

      Was weder Scotty noch irgendjemand sonst aus Winsget, Onden oder Seringat zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass sein Freund Vincent nie die Farm seines Vaters übernehmen würde, nie wieder jagen würde und nie mehr irgendwelche Bemerkungen, weder witzige noch geistreiche, über andere Leute machen würde. Nicht, weil er sich über Nacht geändert hätte, sondern weil er tot war. Wären die Umstände seines Todes bekannt geworden, hätte es wohl auch dem


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