Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

Die Siegel von Tench'alin - Klaus D. Biedermann


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hatte nichts erbracht, worüber er auch nicht sonderlich erstaunt gewesen war.

      Wer eine solche Entführung plant und durchführt, der tatscht nicht auf seinem Erpresserbrief herum, war ihm durch den Kopf gegangen. Er hatte das Kuvert dennoch fast so behutsam geöffnet wie ein Chirurg eine Herzkammer, weil er alles vorsichtshalber noch im großen Labor der NSPO hatte untersuchen lassen wollen.

      Er hatte seine dünnen weißen Stoffhandschuhe getragen, die er routinemäßig immer dabeihatte. Man konnte letzten Endes nie vollkommen sicher sein. Er hatte in seiner kriminalistischen Laufbahn schon ›Pferde vor der Apotheke kotzen sehen‹, wie er gerade erst vor ein paar Tagen einem jungen Kollegen erklärt hatte, und zwar mehr als nur einmal.

      Außerdem hatte man ihm an der Hochschule für Kriminalwissenschaften beigebracht, dass die meisten Verbrecher irgendwann, und sei es auch erst nach der Tat, einen Fehler machen – auch diejenigen, oder insbesondere diejenigen, die sich für besonders clever hielten. Dieses Sich-für-besonders-clever-Halten war genau ihr Schwachpunkt, ihre Hybris, die sie zu Fall brachte.

      Adressiert war der Umschlag gewesen an ›Die Firmenleitung von Sisko ESS, zu Händen Herrn Herb Sisko, streng vertraulich‹. Mike hatte sich, wie ausgemacht, von dem Zusatz ›streng vertraulich‹ nicht beeindrucken lassen und zwei bedruckte DIN A4 Papierbögen aus dem Umschlag herausgezogen.

      Dann hatte er in einem der schweren, komfortablen Ledersessel Platz genommen – Sessel, die denjenigen, der sich ihnen anvertraute, zu verschlucken schienen. Auch wenn Informatik in der Schule nicht zu seinen Lieblingsfächern gehört hatte und er diese Sprache nicht gut beherrschte, hatte er sofort gesehen, dass es sich bei der Menge an Nullen und Einsen, mit denen eines der Blätter beschrieben war, um ein Computerprogramm handelte.

      Das zweite Blatt hatte Folgendes zum Inhalt – und für diese Sprache war er Experte:

      »Wenn Ihnen Ihre Kinder am Herzen liegen, und davon gehen wir aus, bitten wir Sie, die nächste Produktion des ICD, die in einem Vierteljahr fertig sein soll, mit beiliegenden Programm zu versehen.«

      »›Bitten wir Sie!‹... Sarkasmus gepaart mit Gewalt ist eine gefährliche Kombination ... ›ein Vierteljahr‹, die sind gut informiert«, hatte Mike kopfschüttelnd gemurmelt, bevor er weitergelesen hatte.

      »Wir haben den Kleinen inzwischen den Prototyp implantiert. Sollten Sie unseren Forderungen nicht nachkommen – und wir können Ihnen versichern, dass wir die Möglichkeit haben, das zu überprüfen –, werden wir ein kleines Programm unserer Version des ICD im Körper Ihrer Kinder aktivieren. Sie können sich nicht vorstellen, wie unangenehm das sein wird.

      Der Tod wäre in diesem Falle das kleinere Übel. Kommen Sie unseren Forderungen nach, werden Ihre Kinder ein ganz normales Leben führen, so als ob nichts passiert wäre. Was allerdings geschieht, wenn Sie zu irgendeinem späteren Zeitpunkt die Baupläne des ICD wieder ändern sollten oder Informationen über den Inhalt dieses Schreibens an die Öffentlichkeit dringen, überlassen wir Ihrer Fantasie. Das Gleiche gilt selbstverständlich für den Fall, dass Sie die ICDs Ihrer Söhne wieder austauschen oder den Versuch unternehmen sollten, sie anderweitig zu manipulieren. Seien Sie versichert, dass wir das bemerken würden. Sie werden verstehen, dass wir diesen Brief nicht unterzeichnen können, was bei Ihnen aber bitte keinen Zweifel an unserer Ernsthaftigkeit aufkommen lassen möge. P.S.: Wir werden es bei diesem einen Schreiben belassen. Betrachten Sie es bitte als einmalige Chance. Sie haben das Schicksal Ihrer Söhne in der Hand.«

      Herb Sisko war eine Stunde später beim Lesen des Briefes noch blasser geworden, als er ohnehin schon gewesen war, und hatte ihn auf den kleinen, mit einem Schachmuster verzierten Tisch neben seinem Sessel gelegt. Mike Stunks hatte zunächst nur still dagesessen, war dann aufgestanden und im Raum hin- und hergegangen, wie er es gerne tat, wenn er nachdenken musste. Dabei war er in Gedanken bei möglichen Motiven und Täterprofilen gewesen. Er hasste es, im Dunkeln zu tappen, aber hier hatte er ein kleines Licht am Horizont gesehen, denn man hatte etwas in der Hand, wenn auch nur aus Papier. Die beiden Männer hatten sich in der Bibliothek des Hauses aufgehalten und Herb Sisko hatte gewiss einen oder zwei Brandys zu viel getrunken – wie an jedem Abend der letzten beiden Wochen. Trotzdem hatte er kaum Schlaf gefunden und nach diesem Brief würde sich sein Zustand sicher nicht verbessern, wie Mike vermutet hatte.

      Die Zwillinge Steve und Kay waren die Erfüllung seiner Wünsche gewesen. Die erste Ehe Herb Siskos war, trotz modernster Medizintechnik, kinderlos geblieben und wohl auch deswegen in die Brüche gegangen. Er wäre vor Freude und Stolz fast geplatzt, als seine zweite Frau Lara auf ganz natürlichem Wege, nur zwölf Monate nach der Hochzeit, die Kinder zur Welt gebracht hatte. Mit den Söhnen war die Nachfolge gesichert.

      »Wer kann so was?«, hatte Mike Stunks gefragt. »Ich meine, wer hat die technischen Möglichkeiten, einen solchen Chip herzustellen?«

      »Ich weiß es nicht«, war die müde Antwort gewesen, »wir haben zwar viele Verrückte in diesem Land, die es behaupten könnten, aber diese Programme sind außerordentlich kompliziert. Ich werde das hier sofort selbst untersuchen. Ich muss unbedingt wissen, wie wir den ICD verändern sollen. Ich habe schon viele Binärcodes gesehen, die meisten habe ich selbst geschrieben, aber diese Halunken haben einen komplementären BCD-Code verwendet ... egal, was es ist, wir werden es machen. Ich will meine Kinder wiederhaben ... Was immer diese Verbrecher auch programmiert haben wollen ... von mir wird niemand etwas erfahren. Meine Söhne sind mir wichtiger als alles andere auf der Welt.«

      »Haben Sie Feinde, Mr. Sisko?« Er hatte in diesem Moment nicht darauf eingehen wollen, dass die NSPO es sicher nicht durchgehen lassen würde, dass Herb Sisko solch eine Sache für sich behielt, vor allem, wenn sie, wie man vermuten musste, nicht harmlos war. Mike würde alles sehr genau prüfen.

      »Nein, aber das haben mich Ihre Kollegen schon tausendmal gefragt, ich habe keine Feinde, Mr. Stunks.« Herb Sisko hatte Mike aus müden Augen angeblickt und ihn für einen kurzen Moment an Blessie, seinen Cocker Spaniel erinnert, den er als Junge gehabt und über alles in der Welt geliebt hatte.

      »Was ist mit Konkurrenten, Mr. Sisko?«

      »Nein, die Claims sind abgesteckt, Mr. Stunks«, Sisko hatte abgewinkt. »Was den ICD anbetrifft, hatte unsere Firma damals nur zwei wirklich ernst zu nehmende Mitbewerber, als die Regierung den Auftrag für den Chip vergab. Natürlich wollten wir ihn alle haben. Das ist ein dicker Brocken und sichert einem die Zukunft. BOSST war mit dran und eine kleinere Firma, die es schon lange nicht mehr gibt, Fuertos LCD. Es hatte wohl damals ziemlichen Wirbel gegeben, wie mir mein Großvater erzählt hat. Aber das ist hundert Jahre her ... Schnee von gestern. Nein, wir haben weder Feinde noch Konkurrenten. Und, um Ihnen Arbeit zu ersparen, Mr. Stunks, Mal Fisher, der Vorstandsvorsitzende von BOSST, ist der Patenonkel von Steve, was ja wohl Beweis genug sein dürfte.«

      »Und wie viele Personen wissen davon, dass eine neue Produktionsreihe des ICD in Kürze ausgeliefert wird?«, hatte Mike gefragt ohne sein Gehen zu unterbrechen. Dass Patenonkelsein kein Freifahrtschein war, behielt er für sich.

      Herb Siskos Maß an Aufregungen war bereits mehr als voll, man musste es nicht noch zum Überlaufen bringen. »Das Datum wird nicht gerade in den Nachrichten gekommen sein, Mr. Sisko.«

      »Nein, natürlich nicht. Davon wissen, außer den entsprechenden Regierungsstellen, nur die Geschäftsleitung, also ich ... und meine beiden Vorstandskollegen, Mr. Sahib und Mrs. Labarte, naja ... und natürlich die Leute, die den Chip programmieren. Aber für die lege ich meine Hand ins Feuer, Mr. Stunks.«

      »Na, nichts für ungut, Mr. Sisko, aber Sie wären nicht der Erste, der sich dabei verbrennt.«

      Von dem echten Erpresserbrief hatte Mike Stunks Eva Ferrer natürlich nichts erzählt. Nur drei Personen bei Sisko ESS und Mike Stunks kannten dessen Inhalt. Für die großen Anteil nehmende Öffentlichkeit, die erleichtert aufgeatmet hatte, als die Zwillinge wohlbehalten drei Tage nach Auslieferung der neuen ICD-Produktion wieder bei ihren überglücklichen Eltern waren, hatte es die Version eines enorm hohen Lösegeldes gegeben. Einen Täter hatte man den Medien auch präsentieren können, wenn auch dieser sich der irdischen Gerichtsbarkeit bereits mithilfe eines starken Stricks entzogen gehabt hatte.

      So


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