EINSICHT in UNerhörtes. Dr. Manfred Nelting
sich nichts tut. Meist ist ein liebevolles Ignorieren, was bedeutet, dass man nicht gegen das Kind kämpft und möglichst wenig Energie in diese Momente gibt, hilfreich zum Auslaufenlassen des Agierens. Insgesamt ist aber die Klarheit der gemeinsamen Regeln beider Eltern wichtig, die das Kind dann allmählich als verbindlich und gesetzt in sein Ich-Kostüm einverleibt.
Wie die Kinder es machen, ist weder gut noch schlecht, sie probieren sich eben aus mit ihren jeweils neu wahrnehmbaren Möglichkeiten in eben dieser speziellen Familie, in die sie hineingeboren sind. Und man sollte Kinder niemals mit anderen vergleichen, sie sind alle so, wie sie sind, unvergleichlich und liebenswert (über das Drama des Vergleichens siehe auch Kapitel 2, S. 116).
1.2.5 Impuls-Unterdrückung beim kleinen Kind
Aufpassen muss man in dieser Phase jedoch mit Regeln, die das notwendige Ausprobieren unterschwellig, aber mit einer für das Kind doch wahrnehmbaren, auf Ärger oder Hilflosigkeit basierenden inneren Härte unterbinden, so dass es zu einer Impuls-Unterdrückung beim Kind kommt, die keine echte hirnphysiologisch wirksam gewachsene Impuls-Kontrolle ist.
Oft unmerklich, nicht stark ausgeprägt, aber mit großer Wirkung durch die tägliche regelmäßige Anforderung stehen viele Kinder z. B. unter
•dressurähnlicher Verhaltens-Konditionierung, ggf. auch aus kulturellen Gründen,
•unterliegen einem Zwang, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, weil schwierige Alltage dies oder jenes erfordern,
•nehmen sich zurück, weil sie Angst bei den Eltern spüren,
•ziehen sich resignierend zurück, weil sie nicht ausreichend Antwort auf ihre kommunikativen Handlungen bzw. keine Anregung für ihre Neugier bekommen,
•oder fühlen sich bedroht durch Liebesentzug bei nicht gewolltem Verhalten oder anderweitiger Strafandrohung usw.
Dann sieht es so aus, als könnten Kinder schon mit drei Jahren perfekt gehorchen, seien gut erzogen oder lernen brav, was die Eltern wünschen. Und die Eltern sind dabei ja in der Regel nicht boshaft oder schlecht, haben es z. B. so von ihren Eltern gelernt, sind darüber hinaus vielfach im Alltag stark belastet oder nicht in eigener Balance. Wir alle unterschätzen dabei aber die Wahrnehmung und innere Wirkung von solchen als nebensächlich eingeschätzten Details und sehen ggf. eher grobe Dinge, dann sogar natürlicherweise eher bei anderen, und bemerken unser eigenes Zutun oft selbst nicht.
Diese kindliche Anpassung ist aber keine echte Impulskontrolle oder Selbststeuerung, sondern ist eine archaische Reaktion aus der physiologischen Ruhigstellung bei Angst und bedeutet durchaus Stress für das Kind, beinhaltet für das weitere „auf die Welt Zugehen“ in gewissem Maße auch eine resignative Zurückhaltung. Da dies in den Erziehungssystemen der aktuellen Vergangenheit „normal“ ist, wird es vielfach nicht wahrgenommen. Die meisten von uns haben auch dieserart Stress auf die eine oder andere Weise erfahren, kennen ihn insofern zumindest unterbewusst.
Kinder mit zwei Jahren oder jünger für ihr „Ungezogensein“ zu bestrafen, bedeutet, wie gesagt, für das Kind eine traumatische Erfahrung. Es kann daraus niemals eine für das weitere Leben hilfreiche Lehre ziehen, sondern kommt nur in Angst und Hilflosigkeit.
Ich habe in einem Foto-Album ein Bild eines kleinen Jungen auf dem Töpfchen sitzend entdeckt, in einem Alter, wo er eben gerade sitzen konnte, noch nicht ein Jahr alt. Darunter hatte seine Mutter geschrieben: „Er ist unartig, er will nicht aufs Töpfchen“.
Verstehen Sie, das meine ich. Es war damals eine Erziehungskultur, die von bestimmtem Annahmen ausging, die unterschwellig aber wirksam waren, die heute natürlich nicht mehr haltbar sind in der Erziehungsdiskussion. Sie werden allerdings von vielen Eltern noch aufgrund des unterbewussten eigenen Erfahrungsschatzes an die Kinder weitergegeben und als „normal“ empfunden. Auch den Satz: „Kinder mit ‘nem Will‘n, kriegen was auf die Brill‘n“ kennen wahrscheinlich noch einige aus eigener Erfahrung als Kind.
Das kann sich alles behindernd auf die Entwicklung auswirken und ist verstärkt der Fall, wenn die Eltern praktisch nicht verlässlich für das Kind „da“ sind, z. B. aufgrund von eigener Krankheit, Stress, eigener Traumatisierung oder arbeitsbezogen oder wenn das Kind für die eigenen elterlichen ungelösten Lebensprobleme benutzt/missbraucht wird (dazu später Kapitel 3).
Übrigens, in der Pubertät und nachfolgenden Jugendjahren kann das Gehirn sich bei guten Umgebungsbedingungen noch einmal umfangreich umstrukturieren, man spricht bei der Pubertät auch von „der zweiten Chance“. So kann ggf. hier vieles noch einmal nachreifen. Die „erste Chance“ der ersten Lebensjahre ist allerdings die grundlegende Entwicklung und gibt den Rahmen, auf den die „zweite“ Chance dann noch gut aufbauen kann.
1.3 Die Bedeutung des autonomen Nervensystems für die Bindungsfähigkeit
Das autonome Nervensystem (ANS), auch vegetatives Nervensystem genannt, ist entwicklungsgeschichtlich ein seit Jahrmillionen bestehendes uraltes System, das alle Vitalfunktionen steuert und modifiziert je nach Anforderung des Lebens und der Umgebung. Es findet sich bei allen Tieren und auch beim Menschen. Es arbeitet blitzschnell und verarbeitet dabei alle verfügbaren Informationen über die Sinne, also aus der Umgebung und aus Rückkoppelungen von inneren Organen. Dies tut es permanent, Tag und Nacht. Es passt z. B. die Herztätigkeit sofort den Erfordernissen an, wenn die Informationen auf Gefahr deuten oder aber sichere Umgebung anzeigen. Es heißt autonom, weil ein direkter Zugriff z. B. im Denken durch eine Denk-Anweisung, z. B. „Puls werde langsamer!“ nicht funktioniert und nur indirekt über innere Bilder, Meditation oder Qigong usw. beeinflussbar ist.
Das ANS ist also viel schneller als das bewusste Denken und gibt daher auch dem Denken immer einen Rahmen vor, innerhalb dessen es arbeiten kann, insbesondere durch die Kategorien „sicher“, „gefährlich“ oder „lebensgefährlich“, sozusagen ein erstes Framing. Auf die Möglichkeiten bzw. Begrenzungen des Denkens in Abhängigkeit dieser Rahmen kommen wir später in Kapitel 4 zurück.
Anatomisch hatten die Forscher zwei Nerven gefunden, die sie als Gegenspieler identifizierten, Sympathikus und Parasympathikus. Beim Sympathikus fand man aktivierende Wirkungen, insbesondere im Herz-Kreislauf-System und den Skelettmuskeln, beim Parasympathikus beruhigende, entspannende und zur Verdauung gehörende Wirkungen. Der Parasympathikus gehört als Nervenleitbahn zum sogenannten Nervus vagus, einem Hirnnerv.
Heute sieht man Sympathikus und Parasympathikus nicht nur als Gegenspieler, vielmehr „spielen“ sie in der vegetativen Regulation und Feineinstellung von Funktionen, z. B. der passenden Herzfrequenz den ganzen Tag zusammen.
Ende der 1980er-Jahre hatte der amerikanische Psychiater und Biomedizin-Techniker Stephen W. Porges bei seiner Forschung herausgefunden, dass vom Nervus vagus ein weiterer Nervenzweig ausgeht mit ganz eigenen Funktionen, der entwicklungsgeschichtlich viel jünger ist und sich nur bei höheren Säugetieren und im besonderen Maße beim Menschen findet. Dieser Zweig wird ventraler Vaguszweig genannt (ventral: bauchseitig) im Gegensatz zum altbekannten Parasympathikus, der als dorsaler Vaguszweig bezeichnet wird (dorsal: rückenseitig).
Der neue jüngere ventrale Zweig wird nun nach intensiver Erforschung in der praktischen medizinischen Anwendung auch „soziales System“ genannt (Polyvagaltheorie). Diese Theorie wird nicht von allen Wissenschaftlern, die zum ANS forschen, als wissenschaftlich eindeutig stimmig gesehen, es handelt sich aber um einen praktikablen Ansatz für das Verständnis vieler menschlicher Kommunikations- und Verhaltensvorgänge.
Die Theorie des sozialen Systems des ANS hat sich dabei gerade in der Praxis der psychosomatischen und Trauma-Behandlung sehr bewährt und ist auch in der Bindungsforschung ein sehr hilfreicher Ansatz.