EINSICHT in UNerhörtes. Dr. Manfred Nelting

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allerdings noch weiteren Forschungsbedarf hat.

      Die drei vegetativen Zweige oder Systeme arbeiten im ANS in gewisser Weise den ganzen Tag zusammen, aber es gibt doch eine Hierarchie bei der kommunikativen Bewertung von Sicherheit und Gefahr, die der ventrale Vaguszweig anführt und den Sympathikus in seinen Funktionen, insbesondere Stressantworten hemmt, dieser wiederum hemmt den dorsalen Parasympathikus für die von ihm ausgehenden ultimativen Stressantworten.

      Man kann sagen, der ventrale Vaguszweig kann mit seinen Regulationen die meisten Alltagssituationen gut managen, sofern es sich um einen gesunden Menschen mit guter Bindungsfähigkeit handelt. Dann braucht der Sympathikus nur gebremst eingreifen und der dorsale Parasympathikus kann sich hauptsächlich um die Verdauung kümmern, muss also beim vegetativen Stress-Management im Grunde nicht eingreifen.

      In gefährlichen oder als gefährlich eingeschätzten Situationen tritt dann der ventrale Vagus seine Führungsposition ab und der Sympathikus übernimmt und mobilisiert alle Kräfte, die zum Kampf oder zur Flucht gebraucht werden, bis die Gefahr vorüber ist. Dann kehrt sich die Führung wieder um und der Sympathikus, ebenso wie die Stress-Hormone Cortisol und Adrenalin kehren wieder in ihre Ausgangslage zurück. Bei Lebensgefahr erfolgt sozusagen als letzte Reaktionsmöglichkeit ein „Totstellreflex“, der über den dorsalen Parasympathikus läuft als Erstarren oder auch als Ohnmacht.

      Die Funktionsbedeutung des jüngsten Vaguszweiges als soziales System möchte ich jetzt genauer erklären, denn er zeigt einige ganz zentral bedeutsame Zusammenhänge im menschlichen, sozialen Leben auf. Ich werde in diesem Buch an vielen verschiedenen Abschnitten darauf zurückkommen.

       Der ventrale Vaguszweig – das soziale System des ANS

      Dieses entwicklungsgeschichtlich jüngere Nerven-System beeinflusst viele Muskeln im Kopf/Hals-Bereich, also im Gesicht, speziell der Mimik, der Stimme durch Kehlkopf und Rachenmuskeln und der Seitneigung und Drehbewegung des Kopfes. Andere Hirnnerven sind dabei abgestimmt mitbeteiligt. Ich fasse dies hier im sozialen System des ANS zusammen.

      Ein Mensch zeigt dadurch z. B., ob sie/er freundlich oder feindlich gesinnt ist. Das findet unbewusst statt, üblicherweise legt man sich darüber keine Rechenschaft ab. Das Gegenüber kann dann im Gesicht den emotionalen Ausdruck an der Kopfhaltung z. B. soziales Annehmen oder Ablehnen und in der Stimme die Stimmung quasi lesen und hören, also ob die aktuelle Situation sicher oder unsicher bzw. gefährlich ist. Auch das findet sehr rasch und unbewusst statt.

      Die Feinheiten beispielsweise der Stimme, die sogenannte Prosodie (Intonation, Satzmelodie, Stimmungsvariationen usw.) werden durch vom ventralen Vaguszweig beeinflusste Muskeln im Kehlkopf/Stimmbandbereich und Schlundmuskulatur im Zusammenspiel mit anderen Hirnnerven hervorgerufen. Das ist so individuell, dass man jemanden am Telefon an seiner/ihrer Stimme erkennen kann, ja digital sogar die Stimme als Signatur zur Identifikation nutzen kann. Und die Stimmung wird dabei mittransportiert, allerdings bewusst nicht immer wahrgenommen.

      Dieses System ist also, anders als die eher reaktiven, rückgekoppelten Nerven-Funktionen von Sympathikus und Parasympathikus, ein auch proaktives soziales System, es stellt einem Gegenüber einen Ausdruck der inneren Verfassung, Gestimmtheit und Einstellung zur Situation zur Verfügung. Das Gegenüber macht es ebenso. So können beide aus der Mimik, Stimme, Körperhaltung und Gestik herauslesen, wie die Situation weitergehen kann, welche kommunikativen Handlungen Sinn machen oder ob ein Rückzug angezeigt ist. Dieser jeweilige Ausdruck für andere ist kaum zu unterdrücken, quasi ein soziales, freiwilliges Angebot an die Umwelt, um die passende Kommunikation zu finden.

      Bei der Wahrnehmung und dem Lesen im muskulären Muster des Gegenübers spielen die Sinne und auch die sogenannten Spiegelneurone mit dem ventralen Vaguszweig zusammen. Spiegelneurone sind Neurone, die optisch erfassbare muskuläre Muster eines Gegenübers im eigenen Gehirn abbilden können. Dies ist dann auch als Abbildung mit Empfindungen aus dem eigenen Erfahrungsschatz verbunden, die eine Ahnung vermitteln, was das Gegenüber gerade fühlt. Aufgrund spezieller Zusatzneurone, die ganze Handlungspläne speichern, kann dann bei ausreichender Erfahrung aus dem angedeuteten Bewegungsmuster auch auf das mögliche Weiterführen der muskulären Aktionen, also die Absichten, geschlossen werden.

      Auch die Reaktion auf das Erfassen der Situation, also ein Eingehen auf die Begegnung oder Abwendung durch unbewusst erfolgende minimale Änderungen des eigenen muskulären Musters, teilt sich dem anderen dann sofort mit.

      Das System ist dabei gut in der Lage, sozial adaptiv zu wirken, also ohne Kampfmodus kommunikativ flexibel zu reagieren, auch bei einem verbalen Angriff z. B. ins Gespräch zu kommen, im Gespräch zu bleiben oder auch zu gehen. Das ist die große Errungenschaft dieses Systems und es hat vermutlich zu einem besseren Überleben in größeren Gruppen geführt.

      Der ventrale Vaguszweig kann aber nur die Führung im ANS halten, wenn er durch Balance im Leben des Menschen, Pausen und gutem Schlaf entspannt bleibt und durch interessante und herausfordernde Begegnungen gut trainiert wird. Damit entsteht dort ein kommunikatives Repertoire, was einen den Großteil der Situationen im Leben kommunikativ stressarm beantworten lässt ohne Hilfe von Stressantworten des Sympathikus, die immer etwas aufgeregter, heftiger und unreflektierter ausfallen.

      Das ANS unter Führung des ventralen Vaguszweiges fragt also ständig in Windeseile Informationen aus der Umgebung und der inneren Verfassung ab auf Gefahren, stressige Herausforderungen oder ausreichend sichere Lage.

      Dieses System reguliert dann z. B. auch unverzüglich den für die Situation notwendigen Herzschlag, und falls die Situation nicht dramatisch ist, hemmt das System auch Reaktionen aus dem Sympathikusanteil des ANS, andernfalls sinkt der Tonus im sozialen System und der Herausforderungs- bzw. Kampf- oder Fluchtmodus wird über den Sympathikus mobilisiert.

      Diese Einschätzungen wurden in früheren Zeiten nur über die äußeren, mit den Sinnen zu erfassenden Situationen in der jeweiligen Umgebung getroffen im Abgleich zu archaischen, eigenen oder Gruppen-Erfahrungen.

      Heutzutage kommen in stärkerem Umfang auch Informationen und Signale aus dem individuellen Inneren, insbesondere aus dem Denken bzw. emotionalem Erleben dazu, wie gefühlte Ablehnung, Erniedrigung, Selbstwertzweifel usw. als aufgespürte Gefahren, die den Tonus des ventralen Vaguszweiges drosseln und den Sympathikus mit Stressreaktionen auf den Plan rufen.

      Das ist eine Bürde, manchmal auch Sackgasse des die starke Individualisierung befördernden und bindungsauflösenden „Fortschritts“ unserer heutigen Zeit, u. a. eine Auswirkung und Folge fehlender Liebe und Vertrauen ins Leben in den ersten Lebensjahren und nicht ausreichend gelungener Selbststeuerung.

       Das soziale System und die Bindung

      Der ventrale Vaguszweig ist wie die Liebe der Eltern eine wesentliche Grundlage für das dyadische Erleben und dieses wieder für die kraftvolle Entwicklung dieses Nerven. Das Bindungsverlangen und die Bindungsfähigkeit sind uns damit sozusagen angeboren und der ventrale Vaguszweig muss im Weiteren stabil weiterentwickelt werden, damit wir den ganzen Nutzen in unserer sozialen Interaktion immer zur Verfügung haben.

      Der ventrale Vaguszweig ist schon vor der Geburt tätig, kennt insbesondere die Stimme der Mutter und empfindet ebenso ihre Stimmung, ggf. ihren Stress. Nach der Geburt findet, wie bereits beschrieben, die dyadische Kommunikation von Mutter und Kind im permanenten Erleben statt. Dadurch entwickelt das Kind immer weiter Sicherheit und Bindung.

      Der zentrale Vaguszweig hat dabei eine herausragende Bedeutung und durch die sichere Bindung, die das Kind erlebt, erfährt ebenfalls dieser Teil des ANS beim Kind einen kräftigen Tonus. Damit ist er in der Lage, den Sympathikus in seinen Stressantworten zu begrenzen, was lebenslang eine Ressource für das Kind darstellt im Sinne einer erworbenen Resilienz.

      Aber auch dieses System muss wie gesagt trainiert werden, und wir trainieren, indem wir im weiteren Leben gute Bindungen eingehen mit Freunden, Partnern, unseren Kindern, aber auch Arbeitskollegen und Geschäftspartnern, generell also kommunikative Herausforderungen suchen.

      Die


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