Parkour. Philipp Holzmüller

Parkour - Philipp Holzmüller


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Wald wird Stadt: Die Familie Belle

      Die erste Schlüsselfigur der Familie Belle war Raymond, geboren 1939 in Indochina. Durch den dortigen Krieg von seiner Familie getrennt, lebte er erst bei seinen Onkeln, bis diese ihn mit sieben Jahren schließlich auf eine französische Militärschule schickten. Teil des Trainings dort waren die „parcours du combattant“, welche eine Weiterentwicklung von Héberts „méthode naturelle“ darstellten und auf das Überleben in unwegsamem Gelände im Krieg hin abzielten.

      Dieses versuchte Raymond zu perfektionieren, um die eigenen Chancen im Kampf zu verbessern. Er trainierte viel, ausdauernd und hart, bis er die Techniken zur Flucht schließlich perfektionierte. Als 1954 Dien Bien Phu fiel, wurde er zurück nach Frankreich entsandt.

      In Europa widmete sich der von Krieg und Misshandlung gezeichnete Raymond der Feuerwehreinheit des Militärs, um mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten Leben zu retten, anstatt es zu nehmen. Er gewann zahllose Auszeichnungen im Turnen und athletischen Wettkämpfen und galt als Mann mit herausragenden Fähigkeiten – aber auch als Mensch mit einer harten Schale.

      Sein Sohn David sah ihn nur gelegentlich, da dieser mit seinen Großcousins hauptsächlich von den Großeltern aufgezogen wurde. Dennoch verehrte der junge David seinen Vater. Aufgewachsen mit den zahllosen Geschichten und Erzählungen eines superheldenhaften Mannes, saugte er alles Wissen auf, das er in den Besuchen bei Raymond erhaschen konnte.

      Dieser nahm die Kinder vor allem gerne mit in den Wald von Sarcelles und forderte deren athletische Fähigkeiten durch vielfältige Bewegungsaufgaben und Spiele heraus. Er ermutigte sie, nicht vor der Angst zurückzuschrecken, sondern ihr mit Vorsicht zu begegnen, alle Untergründe zu ertasten und herauszufinden, wie man jedes Hindernis nutzen könne. Er erzählte ihnen von seinem Training, den „parcours“, und teilte seine Gesinnung mit ihnen.

      Diese Grundeinstellung lag vor allem darin, Stärken nützlich einzusetzen, sowie auf eine Art und Weise zu trainieren, dass man jederzeit bereit ist, diese Stärken auch abzurufen. Ob ohne aufzuwärmen, in Alltagskleidung, auf mehreren Metern Höhe oder bei Nässe. Man solle jederzeit in der Lage sein, seine Fertigkeiten anzuwenden. Das Training war hart und schmerzvoll.

      David, inspiriert von den Lektionen seines Vaters im Wald, war zu dieser Zeit vor allem in Lisses und Évry, nahe Paris, unterwegs. Dort aber überwog die urbane Architektur.

      In Lisses und Évry regierten in den 1980er-Jahren die Gangkulturen und der praktisch orientierte Baustil. Kulturelle Diversität wurde in Sport und Religion kaum zugelassen und die Jugendlichen auf den Straßen beschäftigten sich in Zeiten ohne Internet vor allem mit sich selbst.

      Auch der Freundeskreis um David, besonders Yann Hnautra, sein Cousin Châu Belle, Laurent Piemontesi oder Sébastien Foucan. Sie trainierten Kampfkünste, waren Turner oder Leichtathleten. Alle teilten jedoch das Gefühl, dass ihrem Training etwas fehlen würde.

      Die Methoden, die sie von Raymond kennengelernt hatten, übertrugen sie anfangs nur auf einige Mutproben oder Spiele, die dem Spiel „Der Boden ist Lava“ ähneln1. Mit der Zeit jedoch wurde aus den Spielen mehr und mehr ein ernst zu nehmendes Training. Angetrieben von Yann Hnautra, einem von Davids engsten Kameraden, begannen sie, die örtlichen Strukturen zu beklettern, sich immer neue Routen zu erarbeiten und Bewegungsmuster zu erfinden und auszutauschen. Allen voran an der Dame du Lac.

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       © Martin Wille

       Abb. 2: Die Dame du Lac in Lisses

      Jeder für sich begann, eigene Trainingsschwerpunkte zu finden: Ob inspiriert von den klassischen Fluchttechniken Raymonds, angelehnt an turnerische Fertigkeiten oder als Selbstausdruck. Für alle ging es jedoch letztlich um Herausforderung, Stärke, Mut und Willenskraft.

      Sie testeten ihre Grenzen aus, nur um zu sehen, wie weit sie gehen konnten: Sie joggten nach Paris und zurück (ca. 30 km pro Weg), liefen kilometerweise auf allen vieren oder sprangen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf einem Bein, hingen an immer dünneren und höheren Kanten – nur um zu sehen, ob sie es schaffen würden. Sie bluteten, schwitzten und kämpften zusammen.

      David selbst sagte später, dass das „parcours“-Training damals ein Training für Kämpfer war; dass man weinen würde. Seinen Wehrdienst im Militär verglich er im Gegensatz zum eigenen „parcours“ mit einem „Freizeitpark“ (Angel, 2011, S. 17).

      Sie hatten das Ziel, Lösungen für die härtesten Probleme zu finden: einerlei, ob physisch oder psychisch. Entgegen dem Zeitgeist wandten sie sich dafür nicht Drogen oder Gewalt zu, sondern versuchten, sich durch eisernes Leiden selbst zu stählen – um Superhelden zu werden.

      Etwa 10 Jahre, nachdem die Gruppe begonnen hatte, zu trainieren, erlangten sie Mitte der 1990er-Jahre erste Aufmerksamkeit in den lokalen Medien. 1997 schließlich lud Davids Bruder die Freunde nach Paris ein. Dort sollten sie bei einer Demonstration der örtlichen Feuerwehrleute eine kleine Show inszenieren und ihre Fertigkeiten der breiten Öffentlichkeit vorstellen: Sie nannten sich Yamakasi. Übersetzt aus dem Lingala, einem zentralafrikanischen Dialekt, bedeutet das so viel wie: „starker Geist, starker Körper, starke Person“.

      Zudem begann Sébastien Foucan in diesem Kontext den Begriff „l’art du déplacement“ – „die Kunst der Fortbewegung“ – als den ersten Namen der Sportart der Freundesgruppe zu nutzen. Erste Filmaufnahmen wurden an das französische Fernsehen gesandt, um auf die Vorstellung aufmerksam zu machen.

      Als nun ein weiteres Angebot für eine Show in einem Musical die Gruppe erreichte, gelangte der einstige Freundeskreis an einen Scheidepunkt. Besorgt darum, dass ihr Training in der Öffentlichkeit eher zu einer Akrobatiksensation verkommt, als dass es den wahren kämpferischen Geist der Disziplin darstellt, entschieden sich David Belle und Sébastien Foucan, die Yamakasi zu verlassen und sich individuell eigenen Projekten zu widmen.

      Dabei wollte Sébastien Foucan ein Coach werden und die Sportart weiterentwickeln und lehren, wohingegen David den Begriff Parkour, als eine Art Eigenmarke, für sich prägte. Diesen nutzte er, um seine Trainingslehren zu propagieren und zu vermarkten. Dabei hielt er sich strikt an die Lehren seines Vaters und teilte sein Wissen ausschließlich mit wenigen, handverlesenen Schülern. In einer Diskussion mit diesen fiel dann erstmals auch der Begriff Traceur (weiblich: Traceuse). Das bedeutet „der/die eine Linie geht“ und wird bis heute als Fachbegriff für Parkour-Läufer verwendet.

      Die übrigen sieben Yamakasi hingegen hielten weiter am Begriff „l’art du déplacement“ fest. Nicht nur, um aus persönlichen Gründen nicht zu stark mit Davids eigenen Plänen vermischt zu werden, sondern vor allem, um sich von dessen familiär in Ungnade gefallenen Vater, Raymond, zu distanzieren. Diesem wurden schwere Vorwürfe in Bezug auf dessen Nichte gemacht. David hielt ihm aber weiter die Treue.

      Aber auch eigenständig, ohne David und Sébastian, sollten sie ihre Lehren weiterverbreiten, diese in einem selbstgegründeten Verein unterrichten und sie in Kino- und Dokumentarfilmen festhalten.

      Trotzdem, entgegen aller Differenzen und Unterschiede, hatten immerhin ihre Trainingsstile stets etwas gemeinsam: eine Philosophie hinter der Bewegung.

      Alle Mitglieder der ursprünglichen Gruppe verfolgten in den nächsten Jahren eigene Ziele, nutzen ihre Fertigkeiten aber vermehrt für Auftritte in Filmen, Fernsehproduktionen oder Werbevideos. Die wohl einflussreichsten Auftritte


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