Parkour. Philipp Holzmüller
Jump London (2003) und Jump Britain (2005).
Beide Filme verfolgten Sébastien Foucan als Kopf einer Gruppe von Traceuren, die entweder in London (2003) oder in ganz Großbritannien (2005) ihre noch unbekannten Fähigkeiten an den bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Nation anwandten. Die etwa 60-minütigen Sendungen begleiteten die Gruppen dabei vom Kreieren ihrer Läufe bis hin zum finalen Sprung und beleuchteten in kleinen Interviews auch Hintergründe zum neuen Phänomen. In diesem Kontext übersetzte Sébastien Foucan auch den Begriff des „l’art du déplacement“ frei ins Englische und prägte so fortwährend den Begriff FreeRunning (dt.: freies Laufen).
In Reaktion auf diese in England völlig neuartige Form der Bewegungskunst zog es plötzlich hunderte Jugendliche nach draußen, welche versuchten, Sprünge aus der Dokumentation nachzuahmen und selbst zu comichaften Superhelden zu werden. Der Sport wurde immer populärer und verbreitete sich rasant.
Nur ein Jahr nach Jump Britain (2005) folgte dann der endgültige Durchbruch der französischen Trainingsart. Wieder war es Sébastien Foucan, der die Hauptrolle spielte – wenn auch nur in einer Nebenrolle im Skript.
In Martin Campbells James Bond 007: Casino Royale (2006) wird Foucan vom Filmhelden James Bond persönlich durch eine Baustelle gejagt und entkommt dem Superspion lange mit spektakulären Sprüngen. Parkour erreichte daraufhin seinen vorläufigen Zenit an medialer Aufmerksamkeit und weltweiten Suchanfragen.
Mitgetragen von der 2005 gegründeten Videoplattform YouTube®, auf der nun auch die ersten privaten Parkour-Videos geteilt werden konnten, verbreitete sich der Sport schließlich rasant durch die Welt. Tatsächlich könnte man behaupten, dass Parkour eine der ersten Sportarten überhaupt war, die letztlich durch die (sozialen) Medien aus der Taufe gehoben worden ist. Schnell bildete sich eine erste, kleine Szene aus Begeisterten.
1.6Parkour heute
Inzwischen hat sich die einst eiserne Trainingsdisziplin aus Frankreich zu einem weltweiten Phänomen entwickelt. Selbstverständlich haben sich Bewegungsmuster über die Jahre hin verfeinert und etabliert, neue Ideen und Ansätze wurden mit den Ursprüngen vermischt und ganz neue Spielformen sind aus den Ideen der Vergangenheit entwachsen. Dennoch ist die Quintessenz geblieben: Körper und Geist sollen durch Bewegungsherausforderungen gestärkt und in Einklang mit sich selbst und der Umwelt gebracht werden.
Doch anders als noch in den 1980er-Jahren in Lisses oder Évry steht heute nicht mehr ein Kämpfertraining, sondern besonders die kreative Entwicklung und die Selbstverwirklichung im Zeitgeist der Disziplin. Selbstentfaltung und das Entdecken neuer Wege und Möglichkeiten bilden dabei aber bis heute die zentralen Motive.
Inklusivität und Diversität, ungeachtet der sozialen Herkunft, wie sie damals die Yamakasi forderten, Gemeinschaft und Freundschaft, sowie Wettkampflosigkeit und Hilfsbereitschaft, wie Raymond Belle oder Georges Hébert sie lehrten, leben aber noch immer!
© Benni Grams
Abb. 3: Eine Gruppe von Traceuren bei der „Ashigaru Skillz Competition“
Begünstigt durch die sozialen Medien, vereinfachte Reisebedingungen und günstigere Transportmöglichkeiten, hat sich die Parkour-Welt heute zudem zu einer großen, teils globalen Gemeinschaft zusammenfinden können. So teilen Traceure ihre Videos und Bilder weltweit mit Gleichgesinnten, tauschen sich über aktuelle Strömungen aus, organisieren eigene Events und kreieren sich eine fortwährend eigenständige und authentische Kultur der Offenheit und Bewegungsfreude.
Kleidungsmarken2, Filme3 und Wissenschaftskongresse4 – die Athleten engagieren sich und gestalten, wo sie können. Finanziert von eigenen Gewinnen oder gefördert durch Sponsoren, beginnen zudem auch erste Athleten, ihr Hobby zum Beruf zu machen.
Strömungen und Chancen, die sich David Belle und die Yamakasi zu Beginn wohl niemals erträumt hätten. Ungeachtet, ob Parkour, FreeRunning oder l’art du déplacement.
1.7Definitionen
Durch die Geschichte der Sportart – geprägt von Freundschaften, sich trennenden Wegen und eigenen Interpretationen der Gründergeneration – haben sich über die Jahre verschiedene Begriffe und Definitionen um die Bewegungskunst herum gebildet. Zwar mögen diese für einen Außenstehenden quasi identisch oder ihre Unterschiede nur marginal erscheinen, historisch und kulturell ist ihre Differenzierung jedoch von großer Bedeutung.
Aus diesem Grund sollen im folgenden Kapitel die drei ursprünglichsten Begriffe, l’art du déplacement, Parkour und FreeRunning noch einmal differenziert vorgestellt werden. Am Ende wird den dreien schließlich eine vierte Interpretation hinzugefügt, welche als grundlegendes Fundament für die Lehre der Bewegungskunst in diesem Buch betrachtet werden kann und die Kernelemente der traditionellen Definitionen für die Anwendung verständlich herunterbrechen soll.
1.7.1L’art du déplacement
L’art du déplacement (auch: ADD) ist der ursprünglichste Begriff für die Fortbewegungskunst und wurde von Sébastien Foucan erdacht. Selbst nachdem sich David Belle und Foucan von den Yamakasi abwandten, blieb der Begriff bei den anderen Gründungsmitgliedern haften. Sie entwickelten ihn zum Überbegriff ihrer Lehren und propagierten unter ihm bis heute eine inklusive, mitbestimmte und individualisierte Trainingsart, die weniger radikal war, als David Belle sie anstrebte.
Zentral für ADD steht dabei die Zielsetzung, dass der Athlet nicht nur ein Sportler ist, sondern eine Denkweise entwickelt, die ihn zu einem aktiven Teil der Umwelt werden lässt. Einer Umwelt, die er auf positive Art und Weise für sich und andere nutzen kann. Kurz zusammengefasst, könnte eine Definition also wie folgt lauten:
„L’art du déplacement ist eine Bewegungsform, in der versucht wird, sich der eigenen Umwelt (wieder) anzunähern und sie (wieder) nutzen zu lernen, indem man seinen Körper in Bezug zu ihr, ihrer Natur und ihren Menschen bewegt.“
(frei übersetzt von: Art du Deplacement Academy, 2015)
Bis heute lehren vier Athleten der ersten Yamakasi-Generation die Kunst der Fortbewegung in eigenen Schulen auf der ganzen Welt.
1.7.2Parkour
Der Begriff Parkour (auch: PK) beruht auf dem französischen Begriff parcours (dt.: Hindernislauf). Dieser beschrieb zu Anfang lediglich sachlich die Trainingsinhalte aus Georges Héberts „méthode naturelle“ oder den „parcours du combattant“ aus dem französischen Militärtraining. Seine neuartige Schreibweise hingegen wurde erst Ende der 1990er-Jahre von David Belle ins Leben gerufen, nachdem er die Yamakasi verlassen hatte, und beruht auf einer Idee von Hubert Koundés, einem seiner Schauspielerfreunde, bei dem er Unterricht nahm.
Durch die Differenzierung vom bis dato verwendeten Begriff l’art du déplacement versuchte David vor allem, den Geist der Disziplin zu bewahren, welchen er vorrangig bei den Lehren seines Vaters sah.
Hartes, effizientes und auf Nützlichkeit ausgelegtes Training stand im Zentrum seines Parkour-Begriffs. Eine kurze und prägnante Definition des ursprünglichen Parkour könnte also wie folgt lauten:
„Parkour bezeichnet eine ganzheitliche Trainingsmethode, bei der der Traceur (dt.: der, der eine Linie zieht; Parkour-Läufer) nur mithilfe des eigenen Körpers versucht, möglichst effizient von Punkt A nach Punkt B zu gelangen.“
Dabei beschreibt der Begriff Effizienz