Mörderisches vom Niederrhein. Regina Schleheck

Mörderisches vom Niederrhein - Regina Schleheck


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von deinem Papa?« Sie tippte zwischen Vater, Großvater und ihm hin und her. Die frappierende Ähnlichkeit. »Erzähl von deiner Familie.«

      Was man so erzählte. Der Opa: Arzt in der Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Waldniel. Der Vater: Hilfsarbeiter und Gabelstaplerfahrer bei Güsken, Eisengießerei. Er: Technischer Zeichner. Zurzeit arbeitslos.

      Was man nicht erzählte: Fast 20 Jahre war der Opa inhaftiert gewesen. Weil er seinen Job gemacht hatte: diagnostizierte, wie geboten. »Geistig krank.« »Idiotie.« »Nicht bildungsfähig.« »Nicht abrichtfähig.« Therapierte, wie vorgeschrieben. Mit Luminal. Bescheinigte, wie gewünscht. Herzschwäche. Lungenentzündung. Handelte pflichtgemäß. Gehorchte. Befolgte Vorschriften. Im Rahmen des Möglichen: 30 Schwestern für bis zu tausend Patienten. Bei einem Tagessatz niedriger als in einem KZ. Vorgaben, Regeln, Befehle von oben.

      Laut dem Staatsanwalt lauter »Entschuldungserzählungen«. So stand es zumindest im Gerichtsprotokoll. Das Urteil sprach von »Beihilfe zum sowie hundertfach vollzogenen Mord«. Der Opa als leitender Mediziner hätte den Befehl verweigern, Widerstand leisten müssen.

      So konnte nur reden, wer nicht dabei gewesen war, hatte die Uroma geschnaubt, das einzige Mal, dass sie sich dazu geäußert hatte. Die da oben hatten sich einen schlanken Fuß gemacht. Wer musste letzten Endes alles zwei Jahrzehnte lang aussitzen? – Holgers Vater. In Sippenhaft mit seiner Großmutter, nachdem deren Sohn weggesperrt worden und dessen Frau, Holgers Oma, in den Nachkriegswirren die Biege gemacht, ihr Kind der Schwiegermutter überlassen hatte. Immerhin war das Fachwerkhäuschen am Hostert im Familienbesitz geblieben, das Einzige, was der Vater Holger hinterließ, als er sich aufhängte. Eine Bruchbude. Heruntergekommen wie das ehemalige Franziskanerkloster direkt gegenüber, das im Dritten Reich als Psychiatrie-Kinderfachanstalt genutzt, von den Briten zur Elite-Schule umgewidmet worden war und mittlerweile restverwertet wurde als gruselige Lost-Place-Fotokulisse mit Hogwarts-Charme. Als er, Holger, mit dem Zeugnis der mittleren Reife in der Tasche nach Hause kam, fand er einen Brief des Vaters auf dem Küchentisch. Auf dem Dachboden einen feuchten Fleck. Erst als er nach oben schaute, den pendelnden Körper mit der heraushängenden Zunge.

      *

      Hussein richtete den Blick in den Nachthimmel. Hoffnung, dachte er. Eine Sonde namens Hoffnung. Immerhin geht es um den Mars. Der der Kriegerische genannt wird. Was für ein Irrtum! Wenn ein Leben auf einem anderen Planeten denkbar ist, dann dort! Wie viel unwirtlicher ist dagegen die Venus, die die Schöne heißt? Das weibliche Prinzip bleibt eine Herausforderung, aber auch eine Gefahr. Wer ihm zu viel Aufmerksamkeit schenkt, verliert den Weg aus dem Auge. Den zum Kern allen Daseins. Das nächtliche Firmament zeigt es so klar: Das Weltall ist groß, und wir sind nichts. Was maßen wir uns angesichts der Größe Allahs, des Allumfassenden, an? Wir dürfen nie aufhören, ihn zu ehren. Was in meiner Macht steht, will ich verwirklichen, um ihn zu preisen! Warum nicht auf einem anderen Planeten? Die Menschheit könnte die neue Chance nutzen – mit dem Wissen und den Möglichkeiten von heute. Keine mühsamen Irrwege, bei denen der Großteil auf der Strecke bleibt!

      Das Burj Al Dubai tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Luxuriösestes Hotel der Welt mit einer atemberaubenden Architektur: wie eine Mondsichel gestaltet, die Präsidentensuiten auf der Spitze sternförmig angelegt – steinerne Manifestation der Verneigung vor der Schöpfung weit über das Irdische hinaus. Die Palm Continents – ehrgeizigstes unter seinen Projekten, zugleich wegweisendstes, stockte derzeit. Finanzkrise, Arbeitsflucht – die Menschen stiegen lieber in seeuntaugliche Gummiboote, um auf dem Weg nach Europa jämmerlich zu ersaufen, statt zum Wiederaufbau der arabischen Hochkultur beizutragen. Wer groß sein wollte, musste Großes leisten. Die Idee: auf Aufschüttungen, gigantischen künstlichen Inseln im Meer, die in ihrer Form die Erdteile abbildeten, architektonische Juwelen zu erschaffen, die die jeweiligen kontinentalen Kulturen in ihrer höchsten Blüte zeigten.

      Nein, man konnte Hussein keinen Ethnozentrismus wie den westlichen Staaten vorwerfen. Während die Amerikaner mit dem Victory-Zeichen viel Unheil über die Welt gebracht hatten, ging es ihm nicht darum, andere zu unterwerfen. Er hatte das westliche V-Symbol um einen Finger erweitert: Sieg, Triumph und Liebe. Ohne das Letztere ging es nicht. Auch wenn es bisweilen die härteste Prüfung war. Die Vorreiterrolle der arabischen Kultur wurzelte in der Geschichte. Aber was nützte es, sich in konkurrierende Weltbilder zu verbeißen? Seine Utopie war größer. Eine menschheitsumspannende ozeanische Vision. Warum nicht nach den Sternen greifen? Der Mars war ein Anfang. Die Sonde. Eine Hoffnung.

      *

      Nachdem Holger Amira erzählt hatte, was man so erzählt, und sie ihm, was sie besser nicht erzählt hätte, und damit seine kaum aufgekeimte Hoffnung zunichtegemacht hatte, verabredeten sie eine Fahrradtour. Ausflüge ins Grüne zogen immer bei ihr. In ihrer Heimat ging in der Natur ja nichts ohne Sprinkleranlage. In den letzten Wochen war sie mit ihm am Salbrucher Baggerloch gewandert, hatte im Wildpark auf den Süchtelner Höhen Damwild und Kamerunschafe bewundert, die Stammenmühle, den Galgenberg und den Aussichtsturm auf dem Taubenberg bestiegen und die Mammutbäume im Kaldenkirchener Grenzwald bestaunt. Tja, Naturschutzgebiete mit »Betreten verboten«-Schildern gab es reichlich in der Region. Ideale Voraussetzung für sein Vorhaben. Kaum dass sie weg war, traktierte er den Boxsack auf dem Dachboden. Es war ihm ein Bedürfnis gewesen, ihn an genau den Balken zu hängen, um es heimzuzahlen. Nicht nur dem Vater. Allen, die ihn im Stich gelassen hatten. Seiner Mutter, die ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes einen anderen gefunden und mit dem Tag seiner Volljährigkeit zu dem Motherfucker gezogen war. Mitschülern für ihr zehnjähriges Mobbing. Drangsalierenden Lehrern. Dem Lehrherrn für drei Jahre Piesacken. Er hatte mehr Zeit damit verbracht, den Garten des Ausbilders zu pflegen und dessen Auto auf Hochglanz zu polieren, als im Büro.

      Prügel, das hatte ihm der Vater immerhin mitgegeben, waren ein probates Mittel, Frust abzubauen. Eine Zeitlang hatte er die Nordkurve des Stadions im Borussia-Park in Mönchengladbach frequentiert. Da brauchte er keinen Boxsack. Insbesondere wenn es gegen die Effzeh-Fans oder Vizekusen ging. Über die Kumpels lernte er Leute kennen, mit denen er den Gegner aufmischte, später Flüchtlingsheime.

      Frauen? Nebenbaustellen und Kollateralschäden zugleich. Celine eine Bitch, Nadine frigide, Beckie nahm ihn aus wie einen Weihnachtsganter. Jede dieser Episoden arbeitete er in den Boxsack ein. Amira war eine total neue Erfahrung gewesen – so anschmiegsam, so geil – und dann doppelt hinterfotzig. Eine Betrügerin. Snobby Bitch. Die sich ihm an den Hals geschmissen hatte, damit er sie heiratete. Wegen der Papiere. Weiter wollte sie nichts von ihm. Schon gar kein Geld, beteuerte sie, als sie sah, dass ihm die Spucke wegblieb.

      Er zog den Arm weg, der eben noch um ihre Schultern gelegen hatte, und rückte ab.

      Sie legte nach: auch keinen Sex, keine Sorge, er brauchte sich gar nicht um sie kümmern. Ihr Mann hätte auch andere gehabt. Nur verprügeln ließe sie sich nicht.

      Was dieser Muselmane verschmäht hatte, damit brauchte er sich also nicht erst die Finger schmutzig machen? Zu spät, Misses. Er hatte sich schon befleckt. Nein. Sie ihn. Er hatte viel zu viel preisgegeben. Wenn auch nichts, was man nicht erzählte. Was ihm am Morgen danach zum ersten Mal in der Kehle gebrannt hatte. Wie Halbverdautes, das danach drängte, ausgekotzt zu werden.

      Mich – mit – die – ser – Schlam – pe – ein – zu – lassen! Er wünschte, er hätte sie aufgehängt. Aber der Dachboden bot noch bessere Möglichkeiten. Die Fahrradtour zu den Krickenbecker Seen war eine ideale Variante. Weit weg. Wo sie ungestört waren. Als sie die Dragees aus dem Süßstoffspender in der Kaffeetasse versenkte, war die Idee geboren.

      *

      Schritte. Sein Erstgeborener stand in der Tür. Ja, auch seine Kinder waren Teil des Universums und verlangten Zuneigung. Tag und Nacht. Gaben sie aber ebenso. In dem Punkt ähnelte Hamid seinem Vater: Beide arbeiteten Tag und Nacht an der großen Sache. Seiner Idee. Er, der Scheich, der Herrscher seines Landes, Hamid, der Kronprinz, zukünftige Hoffnung des Morgenlands.

      »Hamid, mein Augenstern, was gibt es?«

      Sie umarmten sich.

      »Der Botschafter schickt Auszüge aus der deutschen Presse. Vielleicht mag es dir ein wenig Zerstreuung bieten. Es hat dort viel Aufregung gegeben. Wegen des Picknicks.«

      *


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